Benjamin Reuter

Nachts an der Brücke

Hartmut Becker tippte wieder einmal den Totmannknopf neben dem Fahrtregler und blickte dabei kurz nach oben zu den Sternen und ihrer schieren Unendlichkeit hinauf. Vor ihm zog sich hinter der Windschutzscheibe das im fahlen Mondlich matt glänzende Doppelstrang der Gleise in die Ferne. Keine Wolke war am Himmel zu sehen, die bleiche Scheibe des Vollmondes hing tief über dem Horizont. Er griff kurz nach der Colaflasche, die auf der Steuerkonsole neben ihm stand und nahm einen kurzen Schluck und biss anschließend in sein Salamibrötchen. Er fuhr nicht gern Nachts. Nachtfahrten bedeuteten doppelte Aufmerksamkeit und Konzentration, die abverlangt wurden. Vor allem, wenn er einen Personenzug fuhr, so wie jetzt. Aber wenigstens war die Sicht gut. Er war schon unter weit schlechteren Bedingungen gefahren. Doch diese Strecke fuhr er selten, und nun steuerte er einen langen Vollzug als Regionalbahn mit 6 Waggons durch die einsame Stille der Nacht. Laut Bremsplan hatte der Zug eine Masse von 340 Tonnen, und das erforderte weite Vorraussicht beim Bremsen.

Hartmut sah nun auch die einsame Brücke, über die sich eine Autobahn hinweg zog. Er konnte nun auch schon die vereinzelten Lichter der sich darauf bewegenden Fahrzeuge sehen, meistens Lastwagen.
Hartmut war einen kurzen Blick auf die Anzeigen auf der Konsole im Führerstand. Die Tachonadel schwankte zitternd bei 120 KmH, der Bremsdruck war in Ordnung, die Motortemperatur und der Schmieröldruck waren auch zufriedenstellend.
Seine Hand wanderte wieder zum Totmannknopf der Sicherheitsfahrschaltung SIFA, die er alle halbe Minute einmal betätigen musste, tat er das nicht wurde er von einer Hupe gewarnt, tat er dann immer noch nichts, löste die SIFA die Notbremse aus. Kein angenehmer Gedanke.
Er blickte wieder auf die Strecke.
Er sah die Brücke im Lichtkegel seiner Scheinwerfer näherkommen. Sie war alt, die Pfeiler aus Granit gemauert. Eine schöne Brücke, fand Hartmut.

Und dann sah er auch die Gestalt links neben dem rechten Pfeiler.
Sie stand dicht an der Strecke. Hartmut erschrak, wie aus dem Nichts war sie dort plötzlich aufgetaucht.
Grell dröhnte der warnende Pfiff des Horns durch die Nacht, während der zug sich weiter der Brücke näherte. Hartmut zweifelte an seinem Verstand. Vor einer Sekunde war der Typ da vorn noch nicht dort gewesen. Wieder betätigte er das Horn.
Doch die Gestalt rührte sich nicht.
Und sie stand dicht neben dem Gleis, viel zu dicht, wie Hartmut plötzlich im Näherkommen erkannte. Er würde ihn erfassen.
Wieder gellte das Horn.
Hartmut biss sich die Zähne aufeinander, als er sah, das die Gestalt keine Reaktion zeigte.
War der Kerl da etwa Lebensmüde?
"Hau ab da, du Idiot!" Er drückte das Horn, während er die andere Hand auch schon über dem roten Hebel der Notbremse hatte.
Das Horn stieß wieder einen Pfiff aus, immer wieder. Immer näher schoss der Zug heran.
Und dann sah Hartmut Becker, wie die Gestalt einen Schritt auf das Gleis tat, sah wie die Beine über die Schiene stiegen, wie er nun plötzlich mitten auf einer der Betonschwellen stand und die Arme ausbreitete.
Und dann wußte er, was der Kerl vorhatte. Er wurde auch schon in das Licht des Stirnscheinwerfers der Lok getaucht, Hartmut sah immer mehr Einzelheiten des Mannes, der nun in Todesabsicht mitten auf den Gleisen stand.
Der Alptraum eines jeden Lokführers würde für Hartmut zur grausamen Realität werden.
Seine Hand schlug den Hebel herum, er spürte, wie die Bremsen griffen, wie sich der Motor auskuppelte, hörte das Zischen und Pfeiffen der Druckluft, die schlagartig aus den Druckzylindern der Radbremsen des Zuges in die Leitungen und Luftbehälter strömte. Die Federspeicher quetschten die Bremsklötze gegen die Radreifen, sein Oberkörper wurde hart gegen die Konsole gedrückt, während er immer wieder das Horn drückte, mit der anderen Hand stützte er sich am Konsolenbrett ab. Die Bremsen kreischten Ohrenbetäubend.
"Geh weg! Hau ab!" Hartmut trat der kalte Schweiß auf die Stirn, die Tachonadel sank viel langsam. Plötzlich erkannte er, das es ein junger Mann in einer dunklen nietenbesetzten Motorrad-Lederjacke war, er trug blaue Schlaghosen und Westernstiefel, eine riesige Schnalle zierte den Gürtel. Hartmut stutzte, während er die Zähne immer fester aufeinander biss. Die Tachonadel kroch nur schleppend abwärts, 340 Tonnen, die von hinten noch immer anschoben. Er würde keine Chance haben. Es war viel zu schnell gegangen.
Vielleicht hatte er drei oder vier Sekunden zu lange gezögert, Sekunden, die sich zur Ewigkeit ausdehnten. Plötzlich war alles wie in einem Zeitraffer. Die Augen des jungen Mannes, erst zu Boden gerichtet, blickten nun plötzlich auf, direkt in Hartmuts Augen. Dieser meinte, Schrecken darin lesen zu können, aber auch Verzweiflung.
Warum? Die Tachonadel bewegte sich langsam nach unten, viel zu langsam. Irgendetwas verwunderte Hartmut an dem Aussehen des jungen Mannes, so kleideten sich Männer in diesem Alter doch schon längst nicht mehr. Ihm wurde plötzlich bewußt, das die "Großen" so herumliefen, als Hartmut sebst noch zur Grundschule gegangen war. Er sah nun auch plötzlich, das der junge Kerl blaue Augen hatte. Augen, die ihn noch immer fixierten. Fassungslos starrte er den jungen Mann immer wieder von oben bis unten an, seine Gedanken kreisten nur noch darum, das er endlich zur Seite springen möge, es sich anders überlegen. Wirf dein Leben nicht einfach so weg!
Und dann plötzlich nur noch der dumpfe Schlag.

Die Polizei und der Bundesgrenzschutz war schnell gekommen, nachdem Hartmut mit letzter Kraft den Notruf über den Zugbahnfunk abgesetzt hatte.
Die Beamten konnten den jungen Lokführer, der zusammengesunken mit einem Nervenzusammenbruch in seinem Sessel hing, nicht beruhigen, der angeforderte Notartzt mußte ihm eine Spritze mit Beruhigungsmittel setzen. "Ich hab zu lang gezögert, ich hätte früher bremsen sollen! Ich hab ihn umgebracht!" wimmerte er immer wieder unter Tränen, während ihn einer der Sanitäter auf die Tragbahre half, das Mittel endlich wirkte. Und die Beamten wußten immer noch nicht, wie sie es dem Lokführer erklären sollten. Es war aber auch seltsam, das er darüber nicht Bescheid wußte.
Denn an jener Brücke passierte es immer in Nächten, an denen der Himmel klar war und der runde Vollmond dicht über dem Horizont stand.
Es war nun beinahe 20 Jahre her, als sich ein junger Mann hier unter dieser Brücke aus Liebeskummer das Leben genommen hatte. Doch er kam immer wieder. Und natürlich würden sie auch dieses Mal keine Leiche unter dem Zug finden, so wie immer seit nun beinahe 20 Jahren...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.08.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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