Sophie Kissling

Identity

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Mein Name ist Kayla und ich bin kein ganz normales 16-jähriges Mädchen wie es vielleicht von außen scheint. Ich wohne bei meinem Dad in Carrington, Manchester und ich habe es manchmal nicht leicht. Mein Dad arbeitet beim Militär. Er hat sich lebenslänglich verpflichtet damit er das Collage bezahlen konnte und heute hat er zwar den Master in Physikwissenschaften aber keine Zeit für seine Familie. Meine Mum ist gestorben als ich klein war und Sia hat mich aufgezogen. Sia war mein Kindermädchen. Sie arbeitete bis vor 10 Monaten für unsere Familie und heute wohnt sie wieder bei ihrer Familie in Rumänien.

An meine Kindheit kann ich mich kaum erinnern. Das liegt an meiner Krankheit. Sie wurde mit 14 diagnostiziert und ich verlor mein komplettes Gedächtnis innerhalb von ein paar Wochen. Sia hat das alles mit mir durchgestanden, mein Dad war zu dieser Zeit in Afghanistan und ich bin alleine hier. Lesen und schreiben kann ich noch. Ich habe das Niveau einer hochbegabten 16-Jährigen aber meine Erinnerungen an früher sind alle weg. Alle, zumindest die wenigen die mich hier auf dem Land kennen bemitleiden mich für das Geschehene. Ich bin aber nur ein schwarzes Loch. In meinem Leben existiert keine Zeit.

 

Mein Dad hat sich nun seit 8 Wochen nicht mehr bei mir gemeldet. Er ist mir in den letzten Monaten sehr ans Herz gewachsen in denen er Dienstpause hatte. Ihr müsst verstehen ich kannte ihn nach meiner Therapie nicht mehr. Heute gehe ich alle 2 Wochen zu einer Therapeutin aber ihren Namen weiß ich nicht. Ich habe kein Namengedächtnis mehr und Vokabeln kann ich mir auch nicht merken. Deshalb habe ich mein in braunes Leder eingefasstes Notizbüchlein, dass ich immer bei mir habe. Mein Dad heißt William aber für mich einfach nur Dad. An meinem Hals trage ich eine Kette und ich habe keine Ahnung von wo die stammt. Auch mein Dad weiß es nicht. Sia sagte immer sie stamme aus einem früheren Leben, aber ich denke das ist Unfug. Ich werde sie wohl einmal auf der Straße gefunden haben oder so.

 

Es ist 7 Uhr morgens und ich werde heute in die Stadt fahren. Ich gehe selten aus dem Haus. Mein Dad verdient das Geld für mich, weil ich nicht arbeiten kann. Zumindest traut er es mir nicht zu. Der Kaffee, der aus der Maschine fließt, ist dunkelbraun und der einzige Lichtblick in unserem Haus. Das alte Bauernhaus ist heruntergekommen und auf den Dachboden gehe ich schon gar nicht. Ich ziehe mir meine gelbe Regenjacke an und laufe zur Bushaltestelle. Seit einer Woche regnet es ununterbrochen und ich muss aufpassen, dass meine Füße nicht im Schlamm versinken. Der Bus fährt die Landstraße entlang in den Nebel. Es sieht aus als hätten wir kein Ziel. Nach einer Stunde komme ich in Manchester an und suche das Amt auf. Keine Ahnung wofür es genau zuständig ist oder wie es heißt, aber über „das Amt“ arbeitet mein Vater. Ich öffne die schwere Eichenholztüre und bin froh endlich im Warmen zu sein. Hier unten im Erdgeschoss ist alles unter Wasser und ich stehe bis zu den Knöcheln im kalten Nass. Ich gehe eine dunkle Treppe hoch und setze mich in den leeren Wartesaal. Hier herrschet Totenstille und der Automat für die Tickets ist auch außer Betrieb.

„Hallo?“ – niemand antwortet. „Haaaalllooooo?“ ich öffne die Tür am Ende des Flures, welche mit Büro angeschrieben ist nachdem ich 3-mal angeklopft habe. „Guten Tag“, sage ich in die Dunkelheit hinein, „draußen war niemand und dann dachte ich...“ – „Was machst du hier Kind?“, fragt eine tiefe Männerstimme in ungeduldigem Ton. „Mein Name ist Kayla und ich suche meinen Vater. William Peter, er ist in Afghanistan im Dienst und hat sich seit 8 Wochen nicht mehr bei mir gemeldet. Da er von ihnen aus arbeitet dachte ich sie können mir sagen, ob es im gut geht.“ – Schweigen. „Hör mal mein Kind“, fängt der Alte nun doch an zu sprechen, „dein Daddy ist im Krieg und nicht auf einem Vergnügungswochenendtrip. Da sterben täglich tausende von Menschen. Du kannst froh sein, wenn er lebend wieder zurückkehrt und musst hier nicht „die ich bin Halbwaise und ich bin alleine zu Hause bitte rufen sie meinen Daddy an Karte“ ausspielen. Hast du etwa das Gefühl mich interessiert es was dein Daddy so treibt?!“ – „Ehm es tut mir leid, dass ich sie gefragt habe, aber ich wohne in Hilberg und habe einfach Angst.“ – „Du bist 16 stimmt’s?“, fängt er an und ohne eine Antwort von mir abzuwarten fährt er fort: „Wir sind nur für minderjährige Kinder verpflichtet eine Unterkunft zu organisieren. Da das bei dir nicht zu trifft, bitte ich dich jetzt zu gehen. Nein ich befehle es dir!“ Tränen überströmen mein ganzes Gesicht. Ich habe keine Ahnung wo ich jetzt hin soll. Nach Hause kann ich nicht der letzte Bus ist schon vor einer Dreiviertelstunde gefahren und ich werde wohl hierbleiben müssen. Ich gehe die Treppe zur U-Bahn hinunter und fahre Richtung Stadtzentrum wo eine Telefonkabine ist. Von dort aus kann ich meine Tante anrufen.

„Kayla?“, höre ich es am anderen Ende der Leitung juchzen, „ich bin so froh deine Stimme zu hören. Wie geht es dir? Was machst du gerade und wo bist du? Ich versuche euch seit Monaten zu erreichen. Wie geht es William. - „Lilly, ich war krank und Dad ist in Afghanistan.“, fange ich an und erzähle ihr was in den letzten Jahren so passiert ist. Zumindest den Teil an den ich mich noch erinnern kann. Vor lauter Weinen versteht sie wahrscheinlich nur die Hälfte, aber ich bin so froh, endlich mal mit jemandem reden zu können.

Ich übernachte unter einem Vordach der Stadtbibliothek. Am nächsten Morgen kaufe ich gleich mit all meinem Ersparten ein Ticket und fahre zu Tante Lilly nach Oxford, wo ich und mein Dad vor meiner Diagnose gelebt haben. Die Fahrt dauert lange und ich höre die ganze Zeit über Musik aus meinem I-Pod, doch plötzlich durchzuckt es mich wie ein Blitz. Den Song, den ich gerade höre, kannte ich von irgendwo. Ich konnte mich seit meiner Krankheit sonst nie an etwas Altes erinnern und glaubt mir der Song war alt. „Na na na na na“. Ich kenne die Melodie aber von wo? „Na na na na na.“ Ich kenne dieses verdammte Lied aber von wo? Irgendetwas tief in mir, in dem Teil, der denkt, dass ich nicht total verrückt und durchgeknallt bin sagt mir, dass das keine Krankheit war, sondern irgendetwas anderes mit mir geschehen war.

Was kann im Leben passieren und was sind nur Träume oder Fantasien? Ich habe mein Gedächtnis verloren und hoffe, dass es dafür eine plausible Erklärung gibt. Ich habe das Lied wieder gehört, und festgestellt, dass das eine CD ist, welche mir mein Dad im Krankenhaus immer abgespielt hat. Ich habe Sehnsucht nach meiner Mum und bin dabei mich langsam an meine Vergangenheit zu erinnern, aber was soll ich tun? Ich bin alleine hier, mein Dad liebt mich zwar, aber er ist nie da. Er könnte auch hier in England arbeiten, aber er tuts nicht. Das Leben ist nie perfekt und ich muss lernen mit der Situation umzugehen. Ich gehe jetzt in eine Therapie. Außerdem wurde ich für eine Studie aufgenommen. In Deutschland testen sie ein neues Medikament und ich wurde von vielen Patienten ausgewählt. Das könnte eine riesen Chanse sein. Alle würden jetzt denken ich hätte meinen Dad angerufen. Ihm am Telefon heulend vor Freude mitgeteilt, dass ich wieder gesund werden könnte. Nein das habe ich nicht. Ich möchte ein neues Leben beginnen und für den Anfang hat mir meine Tante schon geholfen. Jetzt muss ich das alleine anpacken und hohle meinen Dad dann vielleicht dazu, wenn ich bereit dafür bin.

Und denkt nicht, dass das hier jetzt kein Happy End ist. Es ist ein gutes Ende. Das Medikament könnte anschlagen. Also wünscht mir Glück.

 

Ende

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.04.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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