J. Liliana Altair

Gedanken einer Maus 5

Tag 5

Hilf mir zu vergeben...

 

„Es tut mir leid...verzeih mir...ich bitte dich von Herzen...“ Worte des Wolfes für die kleine Maus, die ich bin? Nein, es sind Worte für andere, nicht für mich. Dennoch - sein Schmerz ist der meine, seine Qual ist in mir und seine Angst kann ich in meiner Seele fühlen. Ich kenne Angst, lebe mit und von ihr, kenne ihren Geschmack, ihren Duft und ihr Aussehen, für den Wolf aber sind diese Gefühle neu. Ich sehe ihn in der Ferne stehen, allein, um seine Existenz kämpfend, um sein Leben fechtend und um seine Größe streitend.

Ja - ihr habt richtig gehört - ich bin es, die kleine, graue Maus, die den großen Wolf begleitet, ohne dass dieser es weiß. Und gerade jetzt, da er fällt, bin ich weiterhin bei ihm. Er geriet ins Stolpern, doch er verließ sich auf seine großen Freunde, seine Gefährten aus der Oberen Welt, aus der Welt des Lichtes und der Sonne. Sie aber entzogen ihm ihre helfenden Hände, traten zurück von ihm, ließen ihn allein in der anbrechenden Nacht stehen, die er so wenig kennt. Er weiß nicht, was man in der Nacht tun muss, kennt die Schatten nicht und weiß nicht, wie er mit ihnen leben soll.

Ich sehe meinen Wolf zerbrechen, sehe ihn stürzen, haltlos in eine nicht enden wollende Tiefe, eine lichtlose Nacht, die schlimmer ist als meine Nächte es je waren. Er ist hilflos, verwirrt, ängstlich und schreit um Beistand, aber es ist niemand da, niemand...außer vielleicht mir, der kleinen grauen Maus. Langsam trete ich näher an ihn heran, sehe ihn an mit meinen schwarzen Augen, die an die Nacht gewöhnt sind, und sehe seine Qual. Er hat seine Farben verloren, sein Licht ist erloschen und zitternd hockt er vor mir, wie ein verschreckter Welpe, das sein Rudel verloren hat. Ich strecke meine Hand zu ihm aus, zögere nicht mehr, und berühre ihn sacht, ertaste sein erschrockenes Herz und spreche schweigend seine verängstigte Seele an. Er zuckt zurück, will sich wehren, will schlagen und fortstoßen, dann aber hebt er den Blick und seine tiefen Augen erreichen meine. Ich fühle sein Zittern, kann sein Beben wie mein eigenes spüren, doch ich nehme auch wahr, wie seine Angst ein wenig schwindet.

„Wer bist du?“ höre ich ihn fragen, leise nur, mit furchtsamer Stimme und Unsicherheit in den einst so sicheren Augen, die mich verwundert betrachten und zum ersten Mal wirklich sehen.

„Nur die kleine graue Maus aus den Schatten der Welt...“ antworte ich genauso leise und nehme seine bebende Hand in meine, fühle ihre Kälte und umschließe sie fester, gebe ihr meine Wärme und meinen Kampfgeist, der ungebrochen ist, wie eh und je.

„Was willst du? Dich an meinem Unglück weiden?“ Kälte und Angst brechen aus den Worten heraus und der große Wolf wendet den Blick ab, er verschließt die Augen vor seinem Leben und erwartet einen weiteren Tritt, der ihn endgültig tötet.

„Nein...ich will deine Hand halten, deinen Sturz beenden, helfen, wenn du meine Hilfe haben willst...“ antworte ich ihm und sehe, wie sein Blick zu mir zurückkehrt, voller Unglauben und Misstrauen, aber auch voller Hoffnung.

„Warum?“ Ich höre, dass er es nicht versteht, nicht glauben kann, dass ich, die kleine Maus, ihm helfen will, obwohl er mich nie beachtet hat.

„Weil ich die Maus bin, die aus den Schatten kommt...und du der Wolf bist, der im Licht lebte. Du kannst in den Schatten nicht leben, weißt nicht, wie man das macht, kennst nicht die Gesetze der Nacht, die Regeln der anderen Seite. Ich kenne sie und ich kenne dich...so lange schon...“ Meine Worte scheinen ihn zu verwirren, zu berühren, und er lächelt mich an. Das erste Mal, dass der große Wolf die kleine Maus anlächelt, ja, sie überhaupt wahrnimmt.

„Warum willst du mir helfen, wo alle anderen mich fallenlassen? Du hast nie ein Wort, eine Geste oder nur den Hauch eines Wortes von mir bekommen. Ich verstehe nicht, warum...“ Der Wolf sieht mich an und ich spüre, wie seine Angst schwindet, wie sein Beben nachlässt und seine erschrockene Seele sich neu orientiert.

„Du bist der Wolf...nur darum...“ Ich weiß, er glaubt mir meine Worte nicht, ich sehe es in seinen Augen. Er ahnt, dass es mehr ist, er scheint es zu sehen, zu spüren und mit seinen sehr feinen Sinnen zu riechen. Doch er lächelt nur, und er nickt, aber er sagt nichts, kann nicht ausdrücken, was er fühlt und denkt. Ich hingegen kann es, ich spüre seine Gefühle, höre seine Gedanken und weiß um sein Herz und seine verletzte Seele. Ich bin eine Maus, ich bin zwar klein, doch mein Mut ist so groß wie ich selbst, und wenn es notwendig ist, reicht er für zwei. Ich bin ein Kämpfer aus den Schatten der Welt, und ich kämpfe seit jeher für mich und meine kleine Seele. Der Wolf aber musste nie kämpfen, er war von Anbeginn stark und unangreifbar, bis ihn der Jäger aus den Schatten meiner Welt anschoss und schwer verwundete.

Jetzt ist es der Wolf, der schwach ist und Schutz in der Nacht sucht. Er ist ein zu großes Ziel, zu viele Jäger können ihn sehen und treffen. Ich bin nur die kleine Maus, mich trifft kein Jäger so leicht, er sieht mich nicht einmal. Ich bin kein Opfer, das sich für ihn lohnt, der Wolf aber - mein Wolf - geriet in sein Schussfeld und er tat, was ein Jäger seit Anbeginn der Welt zur Aufgabe hatte: er schoss und traf, sah den Wolf fallen und ließ ihn als Warnung für andere einfach liegen.

Was der große Jäger aber nicht wusste, war, dass eine kleine Maus, die seinem Blick entging, auf Seiten des Wolfes steht und ihn auffängt, wenn er fällt. Es ist das Vorrecht der kleinen Wesen, frei zu handeln, ohne beachtet zu werden, und das habe ich getan. Ich handele nach freiem Willen und reiche dem großen Wolf meine kleine Pfote. Jetzt gehen wir zusammen durch das Dunkel und das große Vierbein lässt sich von mir führen. Er sieht mich nur an, lächelt schwach und fühlt sich sicher bei mir.

„Du bist keine Maus, Wesen aus den Schatten der Welt...du bist ein Engel, ein Leitstern durch die Nacht der Einsamkeit...“ Die Stimme des Wolfes erreicht mein Ohr und ich sehe ihn an.

„Glaube mir, ich kenne Seelen wie dich...sie verzeihen denen alles, die sie sich als Schützling erwählt haben, und sie helfen ihnen, was immer sie auch getan haben...“ Seine Worte klingen in meinen Ohren und ich weiß, dass er sie ehrlich meint. Ich spüre, wie seine Hand die meine fester umfasst, dann bleibt er stehen, sieht mir in die Augen und ich nehme wahr, wie sein Körper sehnsuchtsvoll nach mir ruft. Der große Wolf ruft die kleine Maus - niemals zuvor ist solch ein Geschehen vorgekommen.

„Hilf mir, zu verzeihen...zeige mir, wie man vergibt, wie man in den Schatten besteht, wie man wirklich lebt und...wirklich liebt...“ Seine Stimme zittert, sein Körper ebenso und seine Augen, sie brennen. Ich kann sein altes Feuer in ihnen sehen, und doch ist es anders. Es ist nicht mehr alles verschlingend, es ist alles wärmend, nicht mehr alles vernichtend, sondern alles beschützend...nicht mehr leer und grell weiß, vielmehr voller Tiefe und einzigartigem Farbenspiel.

„Willst du dich mir anvertrauen, dann zeige ich dir alles, was du willst...“ Ich höre meine eigenen Worte und bin erstaunt über meinen Mut. Ich sage dem Wolf, was er tun soll, und er...lächelt und nickt.

„Ich will...zeige mir deine Welt...ich will von dir lernen und ich gebe dir meine Stärke dafür, meinen Schutz und meine Seele. Ich lege mich zu deinen Füßen, Maus aus den Schatten der Welt, Engel der Nacht...zeige einem Wolf aus dem Licht, wie er im Dunkel leben kann. Wir werden zusammen laufen, gemeinsam streiten und einen neuen Weg finden, den wir miteinander gehen können...“ Die Stimme des Wolfes klingt warm und ehrlich, ich glaube ihm.

„Dann komm...ich zeige dir mein Reich...ich nehme dich mit...“ Ich sehe ihn an, suche den Kontakt zu seinen Augen und seiner Seele und spüre, wie er sich in meine Hände begibt. Sein Körper, sein Herz, die Allegorie seines ganzen Wesens, alles legt er mir zu Füßen. Er drängt sich an mich wie der Welpe an seine Mutter, mit demselben Vertrauen und der gleichen Bedingungslosigkeit.

Ich weiß nicht, ob ich alles glauben kann, was ich höre, sehe und fühle, doch ich bin bereit mich darauf einzulassen. Wenn es nur für kurze Zeit ist, nur so lange andauert, bis er ins Licht zurückfindet, dann muss ich das akzeptieren. Vorerst aber werde ich ihm zeigen, was er wissen will. Ich werde ihm geben, was er braucht, und ich werde nehmen, was er mir gibt. Ich kann nicht anders, denn ich bin die kleine graue Maus aus den Schatten der Welt - ich kenne das Leben und ich weiß, nichts ist von Dauer, allem voran die Liebe nicht...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.05.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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