Angela Pokolm

Der Goldene Ring 2

zwei


   Ich hatte eben meine Vorführungen mit Grego beendet und gab meinem Freund etwas Wasser zu trinken. Eine Pause war eingetreten, und die Menschen schwatzten fröhlich durcheinander, die Kinder lärmten.
Aus heiterem Himmel überfiel mich eine tiefe Traurigkeit, die ich nicht deuten konnte. Ich versuchte das seltsame Gefühl loszuwerden, zu verdrängen, indem ich mit der Lehrerin ein Gespräch über die Theatervorstellung begann, die gleich folgen sollte.

Mit einem Mal wurde die Tür aufgerissen und drei Männer traten in die Schenke. Es war unser Bürgermeister Karuweit mit zwei Herren, deren Kleidung sie sogleich als besonders linientreue Gefolgsleute der derzeitigen Regierung unseres Landes auswies.

Der fröhliche Lärm verstummte. Ich spürte ein Frösteln zwischen den Schulterblättern, so als wäre etwas Eisiges in unsere Schenke herein gekommen. Doch Karuweit und die beiden Männer setzten sich einfach an einen freien Tisch, ließen sich etwas zum Trinken geben und verhielten sich ansonsten unauffällig. Die Leute begannen wieder miteinander zu reden, der Lärm schwoll an. Doch irgendwie blieb die Stimmung gedrückt.
Eine  Spannung lag im Raum.

Ich stand noch immer neben der Lehrerin, als Karuweit plötzlich aufstand, ein Glas mit Schnaps in der Hand, und auf mich zukam. Mit einer zackigen Bewegung hielt er mir das Schnapsglas hin.

"Da, trink!" herrschte er mich an.
„Trink auf unseren Führer!"

Ich schaute ihn nur an. Ich spürte das Bedrohliche, das von ihm ausging und war wie gelähmt.
Es war totenstill im Raum, die Spannung stieg ins Unerträgliche.

Trink!" fuhr er mich noch mal an. „Na, wird's bald?!"

Da ich mich immer noch nicht rührte, zog Karuweit eine schwere Militärpistole, richtete sie auf mich und befahl:

Knie nieder, du Polackenbrut, und trink auf den Führer!"

Da spürte ich, wie in mir etwas zerriss, eine bis zum äußersten gespannte Saite sprang. Meine Eltern hatten mich gelehrt, stets zu mir selbst zu stehen, mich selbst und meine Seele nie zu verraten.
So schaute ich Karuweit offen in die Augen und sagte ruhig:

Nein! Ich knie nur vor Gott!"

Ich sah das böse Feuer in Karuweits Augen aufglimmen und wappnete mich innerlich für das, was nun folgen würde.
Im gleichen Augenblick hörte ich neben mir ein zorniges Brummen und eine mächtige Gestalt schob sich zwischen Karuweit und mich, richtete sich auf und hob die Tatzen.

Grego!
Er kam, um mir zu helfen! Mich zu schützen! Wie er es immer getan hatte.
Kaum war mir dies bewusst geworden, als eine ganze Reihe von Schüssen fielen.
Ich sah Grego zur Seite taumeln, hörte sein gequältes Brummen.
Dann brach er zusammen.

Ich stand wie versteinert.
Sah Karuweit mit der rauchenden Pistole in der Hand und einem bösen, ja triumphierenden Lächeln im Gesicht.
Sah Grego, meinen Freund, hilflos am Boden liegen. Blut sickerte über sein Fell.
Wie in Zeitlupe, gleichsam schwerelos, ging ich zu ihm, legte seinen Kopf auf meine Knie, streichelte ihn.
Er blickte mich an mit seinen dunklen Augen, in denen die ganze Hingabe seiner Tierseele lag und berührte mit der Zunge meine Hand.
Ich sah seinen brechenden Blick, las darin die Hilflosigkeit eines Tieres, das von den Menschen bislang nur Gutes erfahren hatte, und das eine solche Tat der Gewalt nicht zu verstehen vermochte, weil es sie nicht kannte.
Dann schob sich ein trüber Schleier über seine Augen, sein schwerer Kopf sank zurück.
Mein bester Freund war tot.
Ermordet.

Ich spürte, wie eine glühende Flamme in mir hochschoss und mich ganz erfasste. Ich sprang auf und stürzte mich mit meinen bloßen Fäusten auf Karuweit.


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   Was dann geschah, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Ich habe keine Erinnerung daran, kam erst zu mir, als ich im Flur unseres Hauses vor meiner Mutter stand, die mich forschend anblickte und dann in ihre Arme nahm.
Um es kurz zu machen, ich musste einige Tage das Bett hüten, bekam hohes Fieber und phantasierte.
Es dauerte lange, bis ich wieder richtig auf den Beinen war. Aber ich war ein anderer geworden. Nicht mehr der heitere, unbefangene Bursche, der auf Menschen und Tiere mit dem gleichen Vertrauen auf das Gute zuging. Ich war ernst und in mich gekehrt.
Brutal war die Tür zur Kindheit hinter mir zugeschlagen. Ich war gewissermaßen über Nacht erwachsen geworden, ein Mann, meinem Alter an innerer Reife weit voraus."

Fassungslos schaute Elisabeth auf die Zeilen ihres Großvaters. Ihr ganzes Herz brannte. Die Schriftzüge verschwammen vor ihren Augen. Heiß tropfte es von ihren Lidern in ihren Schoß, benetzte ihre Hände, die beschriebenen Bögen ihres Großvaters.
Elisabeth weinte. Sie weinte lautlos und still, die Tränen flossen einfach aus ihr heraus. Es war der Schmerz der reinen und unschuldigen Kreaturen, die sich einer grausamen, stärkeren Macht gegenüber sehen, die sie nicht verstehen können. Oh, wie fühlte sie mit Opusch, teilte sein Leid um Grego, seinen besten Freund! Wie konnte so etwas geschehen, wie konnten Menschen, ein Mensch, so sein?

Eine dunkle, weit zurück liegende Erinnerung stieg vor ihr auf. Sie war ein kleines Mädchen, stand vor der Tür des Kindergartens und hielt in der Schürze ihres Kleidchens ein Kätzchen. Es war ihr zugelaufen, hinkte stark und war ganz abgemagert, hatte wohl großen Hunger. Offenbar hatte das Tier Hilfe gesucht, bei ihr, dem Kind.
Es war merkwürdig mit Elisabeth. Die Tiere liefen ihr zu, hatten keine Scheu vor ihr, dem Menschen. Vor allem Tiere in Not, wie ein kleiner Vogel mit verletztem Flügel oder ein hungriger Hund. Eichhörnchen setzten sich auf ihre Schulter, Enten und Schwäne kamen zu ihr. Das Kind, so klein es war, behandelte alle diese Tiere mit der Achtung und Rücksichtnahme, die ihnen gebührte und die Großvater sie stets lehrte. Die Hilfebedürftigen nahm sie mit nach Hause, wo sie, unter Anleitung ihres Opusch, gepflegt wurden.
Auch das Kätzchen wollte sie heimbringen und wartete auf Großvater.

„He, was hast du da?" hörte sie auf einmal eine grobe Stimme neben sich.

„Zeig her!"

Und eine schmutzige Jungenhand griff in ihre Schürze, entriss ihr das kleine, maunzende Kätzchen.

„Nein!" schrie Elisabeth, „nein, das darfst du nicht! Es ist krank!"
Und versuchte an das Tier zu gelangen, stieß und trat und zerrte an dem Jungen.
Ein hämisches Gelächter antwortete ihr und ein derber Stoß warf sie zu Boden. Der Junge rannte mit dem Kätzchen davon.
Elisabeth weinte bitterlich. Als ihr Großvater kam, fand er sein Enkelkind mit schmutzigem Kleidchen und zerrissener Schürze vor, hemmungslos weinend. Als er mit viel Geduld die Geschichte aus dem Kind herausgebracht hatte, konnte er sein tapferes Mädchen nur fest in die Arme nehmen und an sein Herz drücken.
Sie hatten nie erfahren, was aus dem Kätzchen geworden war.

Elisabeth ließ den Tränen freien Lauf, wischte sie nicht weg.
Es tat so gut, diesen Strom über ihr wundes Herz fließen zu spüren; er kühlte die brennenden Male, die darin eingegraben waren. Sie weinte um den Schmerz des kleinen Mädchens, dem auf grobe Weise ein verletztes Tierchen entrissen wurde, das bei ihr Schutz gesucht hatte, sie weinte um das Leid ihres Großvaters ob des Verlustes seines Freundes Grego, sie weinte um ihre eigene Einsamkeit und Verlassenheit, um ihre Eltern, die sie nie gekannt hatte, um den Tod des wunderbaren Menschen, der sie verstanden und ihr Leben voller Liebe begleitet hatte, um ihren Opusch.
Elisabeth saß lange Zeit so auf ihren Schaukelstuhl gekauert in der atmenden Stille der dunklen Wohnung. Als der Tränenstrom allmählich versiegte, fühlte sie sich leichter. Sie trocknete die Tränen und blickte auf die Uhr. Schon halb 3 Uhr! Nun spürte sie auch, wie müde  sie war, wie kalt diese Wohnung und wie ihre Augen brannten.
'Eigentlich müsste ich mich hinlegen,' dachte sie, ‚und die restlichen Seiten von Großvaters Brief später lesen.'

Sie zählte die Blätter. Nein, es war nicht mehr viel; vielleicht könnte sie diese Zeilen doch noch lesen, bevor sie sich niederlegte. Irgendwie kam es ihr unhöflich vor, Großvaters Worte jetzt einfach abzuwürgen. Eine zu große Intensität lag darin. Elisabeth kühlte ihre brennenden Augen mit Wasser, nahm sich dann noch eine warme Decke vom Sofa und begann zu lesen.

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   „Bestimmt, Lisotschka, mein Mädchen, wirst Du fragen, weshalb niemand von den vielen anwesenden Menschen mir zu Hilfe kam. Weshalb niemand etwas tat, um Karuweit aufzuhalten, ihn zur Vernunft zu bringen. Glaub' mir, Lisakind, ich habe viel und oft darüber nachgedacht. Zu einem klaren, befriedigenden Schluss kam ich nie.
Vielleicht war es die Angst vor den beiden Herren in der schwarzen Uniform mit den Blitzabzeichen, die sie lähmte. Doch auch diese beiden hatten nicht eingegriffen. Aus irgendeinem Grund blieb dieses Ereignis, einschließlich meines nicht gerade linientreuen Auftretens, ohne Folgen für meine Familie und mich. Die beiden Herren verschwanden aus unserem Dorf und kamen nie wieder.


Ja, und Karuweit, der mir meinen Freund nahm. Der es darauf anlegte, mich zu demütigen. Sein Verhalten, seine Brutalität, hat mich am meisten beschäftigt.
Zwischen Karuweit und meinem Vater bestand eine unterschwellige Rivalität, die mein Vater aber nie als solche auslebte. Karuweit neidete meinem Vater seine Gabe, mit Tieren so selbstverständlich umgehen, sie mit ganz einfachen Mitteln aus der Natur heilen zu können. Neidete ihm das Vertrauen, das nicht nur die Tiere, sondern auch Menschen zu ihm hatten, zu ihm kamen, wenn sie Hilfe brauchten; neidete ihm die Achtung, die ihm von den Dorfbewohnern entgegengebracht wurde.

Im Dorf wurde gemunkelt, dass Karuweit Tierarzt werden wollte, aber diese Ausbildung nie beendet hatte. Sei es aus Unfähigkeit, sei es aus Geldmangel – über die Ursache gab es viele Meinungen. Angeblich soll Karuweit sich nur deshalb um das Bürgermeisteramt bemüht haben, um überhaupt irgendwo eine Rolle zu spielen, etwas zu sagen zu haben. Und so lag es auf der Hand, dass er mit scheelen Blicken auf meinen Vater schaute, dem alles, was er selbst gerne gehabt hätte, scheinbar mühelos zuflog. Weil mein Vater aber stets freundlich und gut zu ihm war und auch sonst mit seiner Familie ein rechtschaffenes Leben führte, hatte Karuweit keine Angriffspunkte, um ihn in die Niederungen seines eigenen engen Denkens herabzuziehen, wie es kleine Naturen oft zu tun pflegen, wenn ihnen ein größerer Geist, eine freie Persönlichkeit begegnet.

Doch, eine Schwachstelle im Leben meines Vaters gab es: seine Herkunft.
Du weißt, Lisakind, dass unsere Familie und unser Name ursprünglich aus Polen stammen. Meine Eltern konnten fließend Polnisch – wie übrigens viele Menschen in dem Grenzland Masuren, - und meine Mutter, Deine Urgroßmutter, war ebenfalls polnischer Abstammung. Im südlichen Ostpreußen keine Ausnahme und Seltenheit.
Doch für Karuweit, der schon immer mit dem Herrn mit dem kleinen Bärtchen auf der Oberlippe und seinen Gesinnungsgenossen sympathisiert hatte, mag das polnische Geblüt unserer Familie der Dorn gewesen sein, den er durch die Demütigung eines vermeintlich schwachen Gliedes dieser„Polensippe" zu brechen glaubte.
Das vermeintlich schwache Glied war ich. Ich war ihm, so glaubte er vielleicht, allein, ohne Beistand der Eltern, hilflos ausgeliefert. Vielleicht hatten die beiden Uniformierten ihn auch dazu angestachelt, zumindest ihn durch ihre Anwesenheit „stark" gemacht. Wer weiß es?
Als schmächtiger Fünfzehnjähriger hätte ich keine Chance gegen einen handfesten Mann mit der bulligen Gestalt eines Karuweit gehabt.

Wenn nicht – ja, wenn mir nicht mein bester Freund zu Hilfe gekommen wäre.
Vielleicht empfand Karuweit Gregos aufgerichtete Gestalt in dem Augenblick tatsächlich als Bedrohung, so dass seine Schüsse Notwehr waren. Warum aber dann sein böses, triumphierendes Lächeln, als Grego zu Tode getroffen am Boden lag? Dieses Lächeln, mit dem er
mich anblickte? Sich ganz offensichtlich an meiner Betroffenheit, an meinem Schmerz weidete? Das sich in meine Seele eingebrannt hat wie ein glühendes Eisen. Vielleicht war es auch von Karuweit bewusst so eingefädelt, dass Grego mir zu Hilfe kommen sollte, damit er ihn vor meinen Augen töten, kaputtmachen konnte, um mir weh zu tun. Weil er wusste, wie sehr ich, meine Familie, den Bären liebte.
Andererseits hatte Grego so manchen Leckerbissen, so manche Streicheleinheit von der Hand Karuweits erhalten. Und es war gar nicht so selten, dass ich bei Karuweits zum Essen eingeladen war – der älteste Sohn unseres Bürgermeisters war einer meiner besten Schulkameraden.

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   Stunden um Stunden habe ich damit zugebracht, eine Antwort zu finden. Irgendwo den Faden zum Guten im Menschen zu finden. Um nicht selbst daran zu zerbrechen. Ich habe gegrübelt und nachgedacht, bis mir der Kopf schmerzte, bis meine Tage wie Galle waren und die Nächte eine Gruft der Finsternis. Ich hatte keinen Glauben mehr und kein Vertrauen zu Menschen. Ich mied ihre Gesellschaft, war ein Eigenbrötler geworden.
Erst die Begegnung mit der Liebe, die Begegnung mit meiner Frau, Deiner Großmutter, ließ mein verzweifeltes Ringen sanfter und schwächer werden; ließ mich lernen, Menschen und ihr Verhalten einfach hinzunehmen wie sie sind und keine Antwort mehr zu suchen. Diese überlasse ich dem Himmel, zu dem ich den Zugang auch erst nach langem mühevollen inneren Suchen und Kämpfen wiederfand, und der über unendlich mehr Weisheit verfügt, als alle Menschen seit ihrem Anbeginn zusammen je aufbringen werden.

Und mit den Erfahrungen meines 81jährigen Lebens, Lisotschka, mein Mädchen, kann ich Dir nur sagen, eines der größten Rätsel in Gottes Schöpfung, vielleicht das größte überhaupt, ist der Mensch. Ich gebe Dir, Du liebes, liebes Kind mit Deiner reinen Seele den Rat mit auf Deinen Weg: Versuche niemals das Verhalten von Menschen ganz, von Grund auf zu verstehen. Du bereitest Dir nur Kummer und Schmerzen.

Zu Karuweit bleibt nur noch zu ergänzen: Er verschwand aus unserem Dorf, unserer Gegend, still und unauffällig. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Überhaupt war es, als hätten alle Zeugen dieses dramatischen Ereignisses ein Übereinkommen getroffen, nicht mehr darüber zu sprechen, ihren Alltag wieder aufzunehmen, als wäre nichts geschehen. Auch die Kinder. Deshalb haben auch meine Geschwister, Deine Großtante, Dein Großonkel, nie etwas von jener Begebenheit in einem unserer Gespräche über die Heimat je erwähnt. Vielleicht wollten sie mich schonen, vielleicht verdrängten sie alles nur. Ich will gar nicht weiter darüber spekulieren, ich lasse die Frage im Raum stehen.

So viel noch, Lisakind, damit du Dir ein abschließendes Bild dieser einschneidenden Geschichte in meinem Leben machen kannst:
Der Zorn angesichts der Ermordung Gregos hatte mir unglaubliche Kräfte verliehen. Wie der Nachbar, der mich nach Hause brachte, meinen Eltern kurz berichtete, hatte ich Karuweit einige durchaus unangenehme Schläge verpasst, als ich mich mit meinen bloßen Fäusten auf ihn stürzte; er blutete aus der Nase und hatte zwei Zähne verloren.
Und ich will Dir etwas gestehen: Ich freue mich heute noch darüber!

Den toten Körper Gregos nahmen die 'Wanderer' mit sich und versenkten ihn unter dem Eis des Moores inmitten der Wälder unseres Dorfes. Als ich dann wieder genesen und auf den Beinen war, übergab mir mein Vater ein in eine Seite des Johannisburger Tagblattes eingewickeltes Päckchen. Ein Enkel von Meister Igor hatte es in einer der Nächte nach Gregos Tod gebracht. Es war ein goldener Ring und eine Seite aus einem Schulheft mit einer Karten-Skizze des Ortes, wo Gregos Überreste der Natur übergeben wurden. In steiler, energischer Handschrift waren die Worte beigefügt:

"Bleib dir treu! I."

Ich wusste sofort: diese Weisung schickte mir Meister Igor. Um mir Mut zu machen. Um mir in seinem Feingefühl für Wunden und Verletzungen der Hilfebedürftigen den Weg zu weisen zu mir selbst, aus der Krise und den Selbstzweifeln heraus zu dem Menschen mit dem Glauben an das Gute, der ich als Junge war.
Es sollte Jahre dauern, bis ich an diesen Faden anknüpfen konnte; und es sollte immer wieder Augenblicke geben, in denen sich über mein Herz jener Schleier der Wehmut legte, der Menschen manchmal ein Leben lang begleitet, deren Kindervertrauen an das Gute in unserer Welt durch einen harten Schlag gewaltsam beendet wurde.

Auch Meister Igor und seine Leute sah ich niemals wieder. Drei Tage nach Gregos Tod waren sie nach Osten aufgebrochen. Zu einer ungewöhnlichen Zeit, mitten im Winter. Sie kamen nie mehr in unser Dorf zurück."

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   Nachdenklich starrte Elisabeth auf die Blätter ihres Großvaters. Nun verstand sie vieles. Wie oft hatte sie erlebt, dass Opusch auf einmal, mitten im Spiel, in einem Gespräch, innehielt, manchmal nur wie einen Schatten von seinen Augen zu wischen schien, manchmal aber sich mit einer Entschuldigung in einen anderen Raum zurückzog.
Oh, wie oft hatte sie als kleines Mädchen geglaubt, sie hätte etwas falsch gemacht, etwas gesagt oder getan, was ihren Opusch kränken würde. Und sie hatte Schuldgefühle, verkroch sich unter dem Küchentisch und zog die Tischdecke ganz weit herunter, damit sie nicht gesehen wurde. Weinte und fühlte sich verlassen und einsam.
Erst als nach einer Weile der Großvater wieder nach ihr rief, sie ganz fest in seine Arme schloss und ihr sagte, dass sie sein Sonnenschein, sein liebes, kleines Marjellchen sei, war alles wieder gut. Doch sie lernte bald, mit diesem plötzlichen Wunsch ihres Opusch nach Alleinsein umzugehen, wusste, dass sie dann besonders lieb zu ihm sein musste. Ein Kinderherz versteht ja so vieles, ganz intuitiv, was der Verstand noch nicht zu fassen vermag.
Später kam es dann sogar vor, dass sie beide zusammen traurig waren, manchmal miteinander weinten. Dann zog Opusch sein großes kariertes Taschentuch hervor, trocknete erst ihre, dann seine Tränen. Und zuweilen, wenn die Stimmung am traurigsten war, holte er seine Geige heraus und spielte - am liebsten Händels wunderschöne Sonate „Meine Seele hört im Sehen“, sein Lieblingsstück. Wenn dann das Jauchzen der unsterblichen Musik des Meisters ihrer beider Gemüt erfüllte, waren Wehmut und Schmerz im Nu verflogen.
Ach, welche Erinnerungen überkamen sie da! Elisabeth kämpfte mit den Tränen, die schon wieder fließen wollten. So würde sie nie mit den Aufzeichnungen Großvaters zu Ende kommen! Sie schluckte tapfer die Tränen herunter und nahm die verbliebenen Blätter zur Hand.

Mit dem goldenen Ring, Lisakind, den mir Meister Igor zukommen ließ und der nun vor Dir liegt, hat es eine besondere Bewandtnis.

Er ist ein Familienerbstück und wird seit Jahrhunderten – ich weiß selbst nicht genau, seit wann – von Generation zu Generation weiter gegeben. Es heißt, dass einer unserer Vorfahren, ich glaube, er hieß Bartolomeusz, ihn von seinem Freund, einem tatarischen Reiter, wie sie in früheren Zeiten so oft durch unser Land zogen, erhalten haben soll. Die Zeiten waren rau und viele Kriege wurden geführt im damaligen Königreich Polen. Umso mehr wog die Freundschaft dieser beiden Menschen so verschiedener Herkunft; ja, sie sollen einander sogar mehrmals das Leben gerettet haben.

Als der Tatare schließlich in seine Heimat, in die Steppen des Ostens, zurückkehrte, ließ er, als Unterpfand ihrer Freundschaft, unserem Ahnen den goldenen Ring zurück. Genaueres ist mir nicht bekannt, nur dass die beiden Freunde sich wohl nie wieder gesehen haben und der Ring somit in unserer Familie verblieb.
Mit ihm ist ein ethisches Ideal verknüpft, das in unserer Familie seit jeher einen hohen Stellenwert einnimmt:
Der Ring hat in seiner Form keinen Anfang und kein Ende, ist unendlich. So wie auch die wahre Freundschaft zwischen zwei Seelen unendlich, unzerstörbar, ist.

So gilt dieser Ring für uns in der Familie als Symbol der echten, unverfälschten Freundschaft. Er wird immer an denjenigen weiter gegeben, in dessen Leben sich eine solche innige seelische Gemeinschaft offenbart. Ich gebe zu, dass dies nicht ganz einfach zu erkennen und zu entscheiden sein mag. Doch hat es meines Wissens nie ernsthafte Unstimmigkeiten deswegen in der Familie gegeben. Irgendwie wurde die Entscheidung des Ringträgers immer angenommen und als gültig akzeptiert.

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   Ich bekam den Ring von meinem Vater an dem Tag, an dem Grego nach seinen Wanderungen durch die Wälder und Ebenen des Ostens mit dem Treck von Meister Igor und seinen Leuten wieder zu mir zurückkehrte. Mein Vater gab ihn an mich weiter aufgrund der Einzigartigkeit der Freundschaft und Liebe zwischen mir und Grego, einem Menschen und einem wild und frei geborenen Tier. Und mit Vaters Einverständnis schlang ich den Ring an einem fein geknüpften Band um den Hals meines Freundes.
Meister Igor, der wusste, welche Bedeutung der Ring für uns hatte, gab ihn nach Gregos Tod in meine Hände zurück."

Elisabeth hielt inne, nahm den goldenen Ring und betrachtete ihn. Fast empfand sie so etwas wie Ehrfurcht, ja geradezu Scheu bei dem Gedanken, wie vielen Angehörigen ihrer Familie er schon gehört hatte, durch wie viele Hände er gewandert war!

Der tatarische Reiter und Bartolomeusz. Elisabeth versuchte sich die beiden Freunde vorzustellen. Sah sie miteinander über die weiten Steppen dahinjagen, auf dem Rücken windschneller Pferde, sah sie miteinander im Kampfgetümmel, der eine des anderen Rücken deckend, sah, wie der Tatare Bartolomeusz aus der Gefangenschaft befreite, wie Bartolomeusz stolz und aufrecht für seinen Freund, den Tataren eintrat, für ihn bürgte.

Elisabeths Wangen glühten und ihr Herz klopfte, als sie sich in diese Szenen hinein versetzte. Ja, sie fühlte sich ihrem Ahnen Bartolomeusz und seinem Freund in dem Moment so verbunden, war von dem unverbrüchlichen Zusammenhalten der beiden Freunde derart bewegt, dass sie aufsprang und mit großen Schritten durch das Zimmer lief. Fast gewaltsam musste sie sich zur Ruhe zwingen, als sie den goldenen Ring erneut ergriff und in das Licht der kleinen Lampe hielt.

Der Ring war schlicht, ohne Muster und Verzierungen. Und strahlte dennoch eine stille Würde aus, die Elisabeth tief berührte. Und das damit verknüpfte Ideal! Eine wahre Freundschaft!
Elisabeth wusste nur zu gut, trotz ihrer jungen Jahre, wie selten es war und wie schwierig, einen echten Freund unter den Menschen zu finden. Wie Viele es gab, die sich als Freund bezeichneten, und dann, wenn einen einmal etwas Schweres drückte, wenn man einmal selbst sein Herz vor dem „Freund" öffnen, die Bürde vor ihn hinlegen wollte und sich nach ein wenig Güte und Verständnis, nach Rückendeckung und Angenommen sein auch im Leid sehnte, - ja dann stand man ganz allein.
Elisabeth hatte Zeit ihres Lebens nur ihren Opusch gehabt. Er war ihr bester Freund gewesen.

Außer Jarina.

Mit weit geöffneten Augen blickte Elisabeth sinnend in das Halbdunkel des stillen Zimmers.

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   Es war an ihrem ersten Schultag. Elisabeth stand mit ihrer Schultüte am Eingang zur Schule. Die Lehrerin rief die Kinder zusammen und wollte eben mit der ganzen Schar ins Schulgebäude hinein gehen, als ein Mädchen mit schwarzen Locken, begleitet von einer Frau mit langem dunklen Kraushaar zu ihnen kam. Das kleine Mädchen trug keine Schultüte, sondern ging mit Krücken. Ihre Mutter hatte einen großen Strauß bunter Blumen im Arm. Elisabeth beobachtete, wie sie ein paar Worte mit der Lehrerin sprach, ihr die Blumen übergab und sich dann liebevoll von ihrem Kind verabschiedete, die beiden einander noch zuwinkten.

Sofort fühlte sie sich zu dem schwarzlockigen Mädchen hingezogen. Und als die Kinder dann im Klassenzimmer waren und alle sich einen Platz aussuchen wollten – unter Aufsicht der Lehrerin natürlich – oh, wie sehr wünschte sie sich da, dass das fremde Mädchen ihre Freundin wäre, dass sie nebeneinander sitzen konnten! Elisabeth schloss die Augen und drückte sich selbst die Daumen ganz fest; noch nie in ihrem Leben hatte sie sich etwas so sehr gewünscht!
Auf einmal hörte sie neben sich eine weiche Stimme mit fremdartigem Klang:

„ Hallo, ich heiße Jarina. Und wer bist Du?"

Elisabeth riss die Augen auf - und schaute in das lächelnde Gesicht des fremden Mädchens! Für den Moment war sie so überrascht, dass sie gar nicht gleich sprechen konnte – so sehr hatte sie sich auf ihren Herzenswunsch konzentriert.
Die Fremde sagte noch einmal:

„Hi, ich bin Jarina, wie heißt du denn?"

„Ich heiße Elisabeth, aber du kannst Lisa zu mir sagen," brachte sie dann endlich hervor.

„Lisa, willst du meine Freundin sein?" Diese Frage musste Jarina nicht noch einmal wiederholen. Mit strahlendem Lächeln rief Elisabeth „Ja! Ja!".

Und so spontan, wie es nur Kinder können, begann ihre Freundschaft, die nun schon – Elisabeth überlegte - 26 Jahre währte.

Die Blumen, die Jarinas Mutter statt einer Schultüte mitgebracht hatte, ruhten gepresst in einer Mappe zwischen feinem Papier in Elisabeths Bücherschrank. Jarina hatte sie ihr noch am ersten Schultag geschenkt.

Jarina, ihre Freundin.
Jarina war eine Romni und lebte damals mit ihrer Familie im Anbau eines Bauernhauses am Stadtrand. Sie hatte als kleines Mädchen Kinderlähmung gehabt und konnte nur mit Hilfe von Krücken gehen. Trotz allem hatte sie Glück gehabt; denn vielleicht war gerade dies, zusammen mit der tatkräftigen Unterstützung des kinderlosen älteren Bauernehepaares, dem der Hof gehörte, der Grund, dass sie überhaupt regelmäßig eine Schule besuchen konnte.

Und dennoch alles andere als ein einfacher Weg für Jarina.

Elisabeth konnte nicht anders, konnte auch diese Erinnerung nicht aufhalten, die vor ihr inneres Auge trat.

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   Elisabeth und Jarina gingen in die vierte Klasse. Es war ein Tag wie alle anderen. Der Unterricht war zu Ende, und die Kinder strömten lärmend über den Schulhof auf die Straße. Elisabeth wartete auf Jarina, die noch ein Gespräch mit der Klassenlehrerin hatte.
Unterdessen kauerte Elisabeth vor einem der kleinen Froschteiche, die auf dem Schulgelände angelegt waren und beobachtete die vielen Tiere, die sich im und am Wasser tummelten, die kleinen Kaulquappen, die eilig schwänzelnd dahinschwammen, zur Oberfläche stießen, um sogleich wie ein Pfeil wieder in der Tiefe zu verschwinden. Sie war fasziniert von dem ganzen Gebrumme und Gesumme der Insekten, die sich um das Wasser herum zu schaffen machten, die eleganten Wasserläufer, wie sie auf der Teichoberfläche dahinglitten wie Schlittschuhläufer – bis einer der Goldfische nach ihnen schnappte; oder die bunt glitzernden Libellen, die im Sturzflug herabstießen um nach einer der vielen Fliegen zu haschen, die sich von der glänzenden Oberfläche des Wassers angezogen fühlten. Elisabeth hätte Stunden so sitzen können, ganz in die Tierwelt um sich herum versunken; es war ihr viel lieber als mit den anderen Kindern herum zu tollen. Sie war zart, still und in sich gekehrt und froh, wenn sie sich einmal aus den Spielen der Kameraden davonschleichen konnte ...
Auf einmal hörte sie ein lautes Geschrei über den Schulhof. Fast verwirrt hob sie den Kopf und schaute in die Richtung, woher der Lärm kam. Wie magisch angezogen erhob sie sich aus der kauernden Stellung und ging auf eine Traube von lärmenden Kindern zu, die sich um etwas in ihrer Mitte geschart hatte, was Elisabeth nicht erkennen konnte. Als sie näher kam konnte sie einzelne Schreie verstehen:

„Jarinek hat Dreck am Steck!
Jarinek hat Dreck am Steck!"
Ein lautes hämisches Gelächter folgte.

Jarina!

Die Stimme kannte sie!
Das war doch die dicke Gabi aus der Nachbarklasse! Die suchte sich immer einen aus, den sie verspotten konnte.
Diesmal hat sie sich Jarina vorgenommen!
Wie eine Flamme schoss der Zorn in Elisabeth hoch.
Sie rannte los und flog wie ein Pfeil mitten in die grölende Kinderschar hinein.
Umringt von den schreienden und lachenden Kindern stand Jarina ganz allein, gestützt auf ihre Krücken. Tränen glitzerten in ihren Augen, aber sie stand dennoch stolz und aufrecht und schaute ihren Peinigern offen ins Gesicht.
Elisabeth packte die lauteste Schreierin, die dicke Gabi, beim Arm, gab ihr ein paar schallende Ohrfeigen und stand im Nu neben Jarina.
Beschützend legte sie den Arm um die Schultern ihrer Freundin.
In dem Moment hatte Elisabeth keine Angst. Sie glaubte die Stimme ihres Opusch zu hören, der sie Achtung vor jedem Wesen und Mut zu sich selbst gelehrt hatte. Und die schüchterne, stille Elisabeth wuchs über sich hinaus und herrschte die anderen Kinder zornig an.

„ Schämt euch! Es braucht keinen Mut, einen Schwächeren anzugreifen!"

Schlagartig hatte das Geschrei und Gegröle aufgehört. Es war ganz still. Die beiden Freundinnen schmiegten sich aneinander. Als Elisabeth fast nun doch Angst vor ihrem eigenen Mut bekommen wollte, lockerte sich plötzlich der Kreis um die beiden Mädchen, die ersten rannten davon.

Und mit einem mal liefen alle weg.
Jarina und Elisabeth waren allein.
Die beiden Kinder drückten einander ganz fest. Und Elisabeth wusste, dass sie immer zu Jarina stehen würde. Sie konnte noch jetzt das Gefühl der Verbundenheit empfinden, das ihre Freundin und sie in dem Augenblick geteilt hatten.

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   Jarina.
Sie war neben ihr gestanden bei der Beerdigung. Und eine warme Hand hatte ihre kalten, klammen Finger umschlossen, hatte ihr den Trost und die Wärme gegeben, derer sie so sehr bedurfte. Elisabeth meinte noch jetzt den innigen Druck ihrer Hand zu spüren, als die ersten Erdschollen auf den Sarg ihres Opusch fielen. Es war der Augenblick, der ihr das Endgültige, den Abschied für immer deutlich machte, von dem Menschen, der so viele Jahre ein liebender Teil ihres Lebens gewesen war ...

 „Und nun," schrieb Opusch weiter, „Lisotschka, mein Mädchen, übergebe ich den Ring an Dich. In Dir, Kind, hat sich der Kreis meines Lebens vollendet, der vor über siebzig Jahren mit der ganz besonderen Begegnung zwischen einem Menschenkind und einem Tierkind sich öffnete und mit dem Augenblick sich schloss, als Du, ein kleines, gerade zweijähriges Mädchen nach dem Unfall Deiner Eltern in meine Arme gelegt wurdest. Den Platz in meinem Herzen, der nach dem Tod meines Freundes Grego so lange leer geblieben war, nahmst Du kleine Person ein, mit all dem Ungestüm und aller Lebendigkeit des Kindes und jungen Menschen.
In Dir bekam nicht nur mein Leben, das nach dem Verlust meiner lieben Frau in eine dunkle Sackgasse der Einsamkeit gemündet war, einen neuen Inhalt und Sinn. In Dir wurde auch eine Brücke geschlagen von Alt zu Jung, von der Vergangenheit zur Zukunft.
Wir waren mehr als Großvater und Enkelkind, wir waren Freunde!

Wie ehemals mit Grego, lernte ich, das Leben, die Welt, mit den Augen eines anderen Geschöpfes, mit Deinen Augen zu betrachten.

Ich lernte, mich am Augenblick zu freuen wie ein Kind, mich mit Dir zu freuen, mit Dir zu lachen.
Und durch Dich lernte ich, meine Vergangenheit, den Tod Gregos, die traurigen Ereignisse des großen Krieges und die Flucht mit dem Verlust meiner Heimat, den Tod meiner Frau, meines Sohnes und Schwiegertochter, nun endgültig nicht mehr mit Verzweiflung und Leid im Herzen zu betrachten, sondern als den Lebensweg anzusehen, den Gott für mich vorgesehen und der seinen, wenn auch für mich verborgenen, Sinn hatte.
Vielleicht haben unsere Lieben im Himmel ihren Gutteil dazu beigetragen, dass alles so gekommen ist. Denn ich glaube fest daran, dass Diejenigen, mit denen wir zu Lebzeiten innig verbunden waren, auch nach ihrem Tode um uns sind, unsere Schritte liebevoll mit uns gehen ...

Möge der goldene Ring des Tataren Dein Leben begleiten, Dir den Mut verleihen, stets zu Dir selbst zu stehen, Du selbst zu sein.
Und so die wunderbare Gabe Deines Herzens zu erhalten, das Echte und Unverfälschte eines anderen Wesens auch im Verborgenen zu erkennen.

Bleib Dir treu!

In tiefer Liebe, meine Elisabeth,

bin ich immer bei Dir,

Dein Opusch."

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   Hoch aufgerichtet stand Elisabeth da, in dem vom leisen Schimmer der Tischlampe matt erhellten Wohnzimmer. Zu sehr hatten die Worte ihres Großvaters und das mit dem goldenen Ring verknüpfte Vermächtnis an ihr innerstes Empfinden gerührt.

Tränen liefen über ihre Wangen. Noch einmal riss der Schmerz des Verlustes, des unwiederbringlich Verlorenen, an ihrer Seele. Die Worte ihres Großvaters ließen wie im Zeitraffer die Jahre ihrer Kindheit und Jugend in seiner Obhut an ihr vorüber gleiten. Doch diesmal schwang unter dem dunklen Samt der Trauer noch eine andere Melodie mit.
Fein wie helles Glas und Kristall, zerbrechlich noch, zart, aber doch immer mehr erstarkend, spürte Elisabeth einen Hauch von Licht, ja von Glück.

Sie hob den Kopf, schaute zum Fenster. Durch die Vorhänge stahl sich leise das erste Licht des Tages; das Wohnzimmer, die Gegenstände darin nahmen behutsam Konturen an, erwachten gleichsam zum Leben nach der langen dunklen Nacht. Der Schein der kleinen Lampe wirkte fahl und seltsam unwirklich. Elisabeth knipste das Licht aus, schob die Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster.
Kühle Morgenluft strömte herein, strich über ihre müden Augen. In ihrem Herzen fühlte sie eine nahezu feierliche Stille. Fast traumverloren nahm Elisabeth den goldenen Ring in die Hände, der im sanften Morgenlicht verhalten schimmerte. Sie drückte ihn an ihre Wange, spürte die Kühle des Metalls.
Da war ihr, als ginge auf einmal eine Wärme von dem Ring aus, strömte zu ihrem Herzen, zu ihren Händen, ihren Füßen. Eine Wärme, die sie ganz erfüllte, ihr Fühlen und Denken mit sich nahm.
Sie stand vor dem geöffneten Fenster in der frischen Morgenluft, doch sie spürte es nicht. Sie sah nicht den feinen Streif des beginnenden Morgenrots am Horizont, nicht die stillen Häuser auf der anderen Straßenseite, sie hörte nicht, wie die ersten Vögel ihre Stimmen erhoben und hörte auch nicht das einsame Auto langsam vor dem Haus vorüber fahren. Elisabeth war ganz Empfinden.

Sie war Teil von etwas. Von etwas Großem.
Sie konnte für dieses Gefühl nur das Wort Liebe finden.

Sie gehörte zu Menschen, zu einer Familie, war eines ihrer Glieder, deren höchstes Ideal auch das ihre war.
Sie trug es in sich. Was Opusch ihr mit seinem Vermächtnis des goldenen Ringes und mit seiner Geschichte gezeigt hatte.
Ganz stark empfand sie nun das Gefühl seiner Gegenwart.

Und sie hatte Jarina.

Ein Gefühl von Glück und Geborgenheit überwältigte die junge Frau. Tränen strömten über ihr Gesicht – es waren Tränen der Freude.

Eine Weile stand sie so am Fenster, die Hände mit dem goldenen Ring fest an ihr Herz gepresst und lauschte auf die ersten Stimmen des erwachenden Tages. Wie schön dieser Morgen war!

Elisabeth schloss leise das Fenster, nahm die eng beschriebenen Blätter ihres Großvaters auf, strich sie glatt und verstaute sie mit der Kartenskizze Meister Igors und dem Zeitungsblatt sorgsam in ihrer Tasche. Den goldenen Ring streifte sie über ihren Arm. Er passte, als wäre er für sie gemacht.

Noch einmal ging Elisabeth durch die stille Wohnung ihres Großvaters, atmete tief das Leben und die Erinnerungen, die mit jedem Gegenstand verknüpft waren. Dann schloss sie behutsam die Tür, ging die Treppe hinunter. Ihre Schritte waren leicht, ja glitten beinahe über die Stufen. In der offenen Haustür blieb Elisabeth stehen.
Der Mond war weitergewandert, verblasste vor dem hellen, leuchtenden Morgen. Im Osten färbte sich der Himmel apfelgrün und rosa. Über ihr im Baum sang eine Amsel.

Ein neuer Tag begann.

<><><>
Ende


 


noch paar Worte zum Schluss ...

 

   Die Idee zu dieser Erzählung gab mir das Lied "Tanz alter Tanzbär" der 1969 verstorbenen Sängerin Alexandra. Handlung und  Personen sind allerdings völlig anders als in dem Lied - sie entstammen sämtlich meiner Phantasie.

Eine ganze Weile trug ich die Geschichte mit mir herum, malte sie im Kopf immer wieder neu aus. Irgendwie fehlte immer die rechte Gelegenheit, sie nieder zu schreiben. Diese bot sich mir dann, als es galt, ein großes Loch in meinem Leben zu bewältigen - "Der Goldene Ring" hat seinen ganz wesentlichen Anteil daran.

Wenn es mir gelungen ist, mit meiner Erzählung das eine oder andere Lesergemüt anzusprechen, dann freue ich mich sehr!

Herzlichst,
Angela Pokolm.
(Erstfassung 2005)


 


 

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