Angela Pokolm

Der Goldene Ring 1

gewidmet
meinem Mann
und den Einsamen dieser Welt


 

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Erst nach dem Tod ihres Großvaters erfährt Elisabeth die Wahrheit über sein Leben und seine Persönlichkeit. Und dass auch sie ein Teil davon ist, mehr als sie ahnt ...


"Was würde das Päckchen enthalten, welches Vermächtnis ihres Großvaters bergen?

Wieder hörte sie seine ernste und eindringliche Stimme, als er ihr den sorgfältig eingewickelten Gegenstand übergab. Ob er sein nahes Ende geahnt hatte? Elisabeths Hände zitterten, sie holte tief Luft und begann die feinen Fäden vorsichtig zu lösen."


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eins

 

   Als Elisabeth den Treppenabsatz erreichte und vor der Wohnungstür stand, hielt sie erschöpft inne. Ihr Atem ging mühsam wie nach dem Schleppen einer großen Last. Ganz ungewohnt für sie, die doch sonst eher leichtfüßig war und für die Treppen kein Hindernis bedeuteten.
Sie schloss die Tür auf und trat in eine Stille, die ihr Herz sofort wie ein eiserner Ring umklammerte. Eine geradezu laute Stille, in der sie das Ticken der Küchenuhr überdeutlich vernahm.

Elisabeth kam soeben von der Beerdigung ihres Großvaters. Die Trauergäste hatten sich wieder getrennt, jeder war nach Hause zurückgekehrt. Ein unwiderstehlicher Drang hatte die junge Frau hierher gezogen, in die Wohnung ihres Großvaters, in der er fast vier Jahrzehnte seines Lebens verbracht hatte, die auch für sie, seit dem frühen Tod ihrer Eltern, über zwanzig Jahre ihr Zuhause gewesen war.

Die Dielenbretter knarrten unter ihren Schritten, als sie durch die Wohnung ging. Durch den Flur, die Küche und das Schlafzimmer. Alles war wie immer. Sauber, ordentlich, wie ihr Großvater gewesen war, aber alles atmete Leben, als würde er jeden Augenblick zur Tür hereinkommen und nach ihr rufen. Elisabeth betrat das Wohnzimmer. Fast war es ihr, als würde sie ein Sonnenstrahl begrüßen. Es huschte über ihr Gesicht wie ein Hauch, ein liebevolles Streicheln. Sie blickte aus dem Fenster, um nach dem Wetter zu sehen. Aber da waren nur Regen und dichte Wolken. Womöglich hatten sie ihre überreizten Nerven getäuscht oder die Übermüdung. Elisabeth wusste es nicht, doch hatte dieser winzige Augenblick genügt, um etwas von der inneren Starre, von der Lähmung zu nehmen, die ihr Herz seit der Nachricht vom plötzlichen Tod ihres Großvaters umklammert gehalten hatte.

Vielleicht würde sie jetzt den Mut haben, das in Zeitungspapier gewickelte Päckchen zu öffnen, das der Großvater ihr bei ihrem letzten Besuch übergeben hatte? So ernst hatte seine Stimme geklungen, und eindringlich, als er ihr das Päckchen überreichte, als wollte er seinen Worten ein besonderes Gewicht geben. Sie sollte es gut aufbewahren und erst öffnen, wenn er nicht mehr da sein würde. Seitdem hatte sie es aus einem inneren Gefühl heraus stets bei sich getragen.

Neben dem Fenster stand der Schaukelstuhl, Großvaters und ihr Lieblingsplatz. Elisabeth setzte sich hinein und spürte, wie ob der allzu vertrauten Bewegung etwas in ihrer Kehle hochstieg, in den Augen brannte. Das Gefühl der Verlassenheit überwältigte sie. Sie war allein. Endgültig allein. Wie ein Sturzbach kamen die Tränen, überspülten ihr Herz, nahmen den umklammernden Eisenring mit sich, erschütterten ihre zarte, zusammengekauerte Gestalt in Schluchzern.

Es dauerte eine Weile, bis die junge Frau sich soweit wieder gefasst hatte, dass sie an das kleine, in Zeitungspapier gewickelte Päckchen denken konnte. Elisabeth griff in ihre Brusttasche aus weichem Stoff, in der sie es seitdem verwahrt hatte. Es hatte etwa die Größe einer Zigarettenschachtel, mit feinem Faden zugebunden. Ihre Finger zögerten, die Knoten zu lösen. Sie presste die Hand auf ihr pochendes Herz.

Was würde das Päckchen enthalten, welches Vermächtnis ihres Großvaters bergen?
Wieder hörte sie seine ernste und eindringliche Stimme, als er ihr den sorgfältig eingewickelten Gegenstand übergab. Ob er sein nahes Ende geahnt hatte?
Elisabeths Hände zitterten, sie holte tief Luft und begann die feinen Fäden vorsichtig zu lösen.

Das Zeitungspapier umschloss ein zusammengefaltetes, stark vergilbtes und brüchiges Blatt einer Johannisburger Tageszeitung aus dem Jahr 1940. Wo hatte Großvater das nur her? Darin eingewickelt war ein goldener Ring etwa von der Größe eines Armreifes und eine Reihe eng beschriebener Blätter von der Hand ihres Großvaters. Und da war noch etwas, was ihr auf den ersten Blick entgangen war: ein Blatt, aus einem Schulheft offenbar, mit einer Art gezeichneter Landkarte und den geschriebenen Worten

Bleib Dir treu. I.",

in einer Handschrift, die sie nicht kannte.
Was hatte dies zu bedeuten?
Elisabeth betrachtete den Zeitungsausschnitt des Johannisburger Tagblattes, konnte aber außer einigen unbedeutenden Nachrichten keinen Hinweis auf die Absichten Großvaters erkennen. Auch der goldene Reif und die Kartenskizze gaben ihr keinerlei Aufschluss. So wandte sie sich den beschriebenen Blättern zu.

"Meine Lisa, meine liebes Kind und Freude meines Lebens!"

Diese Worte lösten in Elisabeth einen neuen Tränenstrom aus. Ihre ganze Kindheit und Jugend zusammen mit ihrem Großvater lagen darin. Noch stärker spürte sie ihre Einsamkeit.
Vielleicht war jetzt doch kein so guter Zeitpunkt, diese Zeilen Großvaters zu lesen. Aber irgendetwas zog sie unwiderstehlich zu den beschriebenen Blättern hin. Sie musste es einfach lesen, sie musste wissen, was Großvater, der ihr so viele Jahre Vater und Mutter ersetzen musste, ihr zu sagen hatte. Was es mit dem goldenen Reif auf sich hatte. Ob er einer Frau gehört hatte? Vielleicht Großmutter, an die sich Elisabeth nicht erinnern konnte, da auch sie viel zu früh verstorben war? Waren an sie die Worte „Bleib Dir treu." gerichtet? Wenn ja, wer hatte diesen Satz geschrieben?

Großvaters Handschrift war es nicht.

Oder?

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   Draußen war es inzwischen recht dunkel geworden. Der regnerische Tag war frühzeitig zu Ende gegangen. Elisabeth zog die Vorhänge zu und schaltete die kleine Lampe neben dem Schaukelstuhl ein. Dann nahm sie erneut die eng beschriebenen Bogen zur Hand. Sie achtete nicht auf ihre Müdigkeit, ihren pochenden Kopf  und auch nicht auf die unbehagliche Kühle in der Wohnung, in der keine Heizung lief. So sehr verlangte es sie, die Worte ihres Großvaters zu lesen.

"So viele Jahre haben wir Seite an Seite gelebt, ja man kann sagen, das Leben gemeistert," schrieb ihr Großvater.
Wir waren einander Kraftquelle und Freude in den langen Jahren. Du verlorst als Kleinkind schon Deine Eltern und ich als Mann in den besten Jahren meine  Frau. So hat uns das Schicksal, das Leben, oder, wie Du bestimmt sagen würdest, ein guter Gott, zusammengefügt, dass wir einander Stütze und Freude seien. Ich sehe vor mir Dein frisches und junges Gesicht mit den schönen blauen Augen, die denen Deines Vaters, meines jüngsten Sohnes so ähnlich sind.

"Was möchtest Du mir sagen, worauf willst Du hinaus ...?"
höre ich Dich mit dem Ungestüm der Jugend fragen. Aber, meine Lisa, wenn man acht Jahrzehnte durchwandert, sammelt sich so Vieles im Buch des Lebens an, dass es gar nicht so einfach ist, den Faden zu finden.

Weißt Du eigentlich, mein Kind, wer ich bin? Natürlich weißt Du, dass ich Dein Großvater bin, Dein Opusch, wie Du mich von Kindesbeinen an gerufen hast. Ach, ich höre immer noch Deine helle Stimme, wenn Du vom Spielen im Hof oder von der Schule nach Hause kamst und schon im Treppenhaus riefst, „Opusch, ich bin daa!" oder als Du mir Deinen ersten Freund vorstellen wolltest ... Welche Lebensfreude schwang in jedem Ton!
Aber ich schweife ab, verzeih einem alten Mann!

Ja, Lisakind, weißt Du, wer ich wirklich bin?
Albert Schweitzer hat einmal gesagt, dass Menschen, so vertraut sie miteinander auch sein, so nahe sie sich stehen und wie lange Zeit sie auch ein Leben miteinander teilen mögen, sich niemals wirklich kennen.
Wir gehen Seite an Seite wie im Dunkeln. Nur ab und zu kann uns ein blitzlichtartiger Moment einen winzigen Ausschnitt der Seele des anderen Menschen enthüllen. Und um wie viel mehr muss diese Tatsache erst zutreffen bei Menschen, deren Lebensstart um fast ein halbes Jahrhundert entfernt voneinander liegt, wie Du und ich.

Ich bin nun mal 46 Jahre eher als Du, mein liebes Enkelkind, in diese Welt gekommen und möchte Dir von einem Ereignis erzählen, das mich und mein Leben entscheidend geprägt hat, das ich aber dennoch keinem Menschen bislang anvertraut habe. Auch nicht Deiner Großmutter, meiner lieben Frau, und auch nicht meinen beiden Söhnen. Ich habe es nie fertiggebracht, davon zu sprechen und habe alles, was mit der Geschichte, die ich gleich vor Dich hinlegen werde, in einer tiefen Kammer meines Herzens verborgen gehalten."

Elisabeth legte die Blätter auf den kleinen Lampentisch und stand auf. Nein, sie konnte nicht weiterlesen!
Dass Großvater ausgerechnet ihr sein Herz ausschütten wollte! Sie war richtig aufgeregt – und angespannt zugleich ...
Immerhin hatte er einen Bruder und eine Schwester. Und Großnichten und Großneffen waren auch da. Andererseits, Großvater und sie hatten sich wirklich sehr gut verstanden, sie waren, wie man so sagt, ein Herz und eine Seele gewesen. Der Altersunterschied zweier Generationen hatte kaum eine Rolle gespielt.
Sinnend verweilte Elisabeth einen Augenblick bei dem tiefen Gefühl der Verbundenheit und des Verstehens, das sie mit ihrem Großvater geteilt hatte.

Dann nahm sie die Blätter ihres Großvaters wieder auf und suchte die Stelle, an der sie mit dem Lesen aufgehört hatte.
Sie musste wissen, wie es weiterging, was Opusch ihr anvertrauen wollte!

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   Mit klopfendem Herzen las Elisabeth weiter:

Lisotschka, mein Kind, Du weißt, dass ich aus Ostpreußen stamme, genauer gesagt aus Masuren. Du weißt, wie sehr mein Herz noch heute an meiner Heimat hängt. Eine Tatsache, die nicht einmal meine Geschwister wirklich verstehen können. Für sie war mit dem großen Krieg und der Flucht das Ostpreußen ihrer Kindheit Vergangenheit, abgeschlossen. So hörte ich auf, zu ihnen davon zu sprechen. Nur Du, meine Enkeltochter, hattest als Einzige immer ein offenes Ohr für meine Erinnerungen. So klein Du auch warst, hatte ich doch stets das Gefühl, dass Du mich mit der Seele und dem Herzen verstehst."

Elisabeth hob den Kopf. Das stimmte. Sie war gewissermaßen mit Ostpreußen und Masuren aufgewachsen. Und merkwürdig, sie liebte dieses Land. Immer schon, als wäre es seit jeher ihre Heimat. Als hätte sie es seit der Geburt gekannt.

Masuren," schrieb Opusch weiter, „was für ein herrliches Land! Die unendlichen tiefen Wälder, bis zum Horizont. Und die vielen Seen. Wie stille aufgeschlagene Augen, die zum Himmel aufblicken.
Das Gefühl der Unendlichkeit, das einen überkommt, wenn man am Rande eines Feldes steht. Die aufsteigenden Nebel über den kristallklaren Seen am Abend. Wenn es ist, als würde der Atem Gottes über das Land wehen. Mohn- und Kornblumen in den Feldern, Rufe der Elche in den sumpfigen Wäldern und die Schreie der Seeadler hoch über uns. An der Kuppel eines Domes aus Wind und Licht ...

Du weißt auch, Lisakind, dass ich aus einem kleinen Dorf an der Grenze komme. Es war keine Seltenheit, dass, vor allem im Winter, wenn der Hunger sie trieb, Wölfe aus den Weiten Russlands ihren Weg bis zu uns fanden. Wir waren längst daran gewöhnt und wussten mit diesen faszinierenden Tieren umzugehen.
Doch zu Beginn eines Winters, ich war wohl fünf Jahre alt, ereignete sich etwas Außergewöhnliches.

Eine Bärin kam mit ihrem Jungen in unser Dorf. Brach mitten auf der Straße zusammen.
Die Mutter war verletzt, konnte nur auf drei Beinen humpeln. Sie war angeschossen worden, wie sich später zeigte und vermutlich aus ihrem Winterlager vertrieben worden.

Durch den Blutverlust geschwächt, konnte sie nur mehr unzureichend für sich und ihr Kind Nahrung beschaffen, und so waren beide Tiere stark abgemagert. Wahrscheinlich hatte sie die Notwendigkeit, einen Unterschlupf für den Winter und vor allem Nahrung zu finden, zur Wanderung getrieben. Ungewöhnlich war nur, dass die sonst so scheuen Tiere, die den Menschen meiden, direkt in eine Ortschaft kamen.
Vermutlich war es der Hunger gewesen und der verzweifelte Drang, für ihr Kind zu sorgen, weil sie es selbst nicht mehr konnte, der die Bärenmutter in die unmittelbare Nähe zu unseren Häusern gebracht hatte; vielleicht spürte sie auch schon mit dem feinen Instinkt des Wildtieres, dass ihre Überlebenschancen sehr gering waren.

Alle diese Überlegungen stellte ich erst sehr viel später an. Damals war es für mich, den Fünfjährigen, einfach ein aufregendes Erlebnis.

Mein Vater hat uns Kinder gelehrt, Achtung vor jedem Lebewesen zu haben, ein jedes als Gottes Werk und Wille, mit liebender Hand in unsere Welt gesetzt, anzusehen. Mein Vater verstand es auch, kranke Tiere wunderbar zu heilen, beruhigend auf sie einzuwirken und war, obwohl ein einfacher Bauer, als Viehdoktor in der ganzen Gegend bekannt und geachtet.

So kam es, dass es meinem Vater gelang, den Widerstand der Dorfbewohner zu überwinden und die beiden halbtoten Geschöpfe dazu zu bringen, sich noch bis in den Schuppen unseres kleinen Gehöftes zu schleppen, wo er sie versorgen konnte.
Um es kurz zu machen, Lisakind, die Bärenmutter überlebte nicht, sie hatte zu viel Blut verloren, war zu sehr geschwächt. Aber das Kleine blieb am Leben.

Und wurde mein Freund.

Lisakind, Lisotschka, zu Dir kann ich so offen sprechen, denn ich weiß, Du wirst mich verstehen. Eine Freundschaft zwischen einem Menschen und einem Wildtier, einem Tier, das aus der freien Wildbahn stammt, also frei geboren wurde, ist etwas ganz Besonderes und Kostbares. Denn es geschieht freiwillig, unmittelbar aus dem Herzen heraus und ist ohne Falsch und Arg, ohne Eigennutz und Besitzgier.

Selbst unter uns Menschen ist eine solche Freundschaft, wobei jeder ganz er selbst bleibt, sich keinen Zwängen anpassen und unterordnen muss und dennoch eine tiefe innere Verbindung bleibt, sehr selten. Ich würde es jedem Menschen wünschen, dies einmal erfahren zu haben, denn es prägt Seele und Herz für das Unverfälschte und Echte für das ganze weitere Leben. Wem so etwas begegnet ist, der wird eine wahre Freundschaft immer erkennen, wo Alter, Lebensweg und Herkunft keine Rolle spielen und nur die Seelen unmittelbar miteinander sprechen."

Elisabeth hielt inne. Sie hatte mit einem mal das Gefühl, als wäre etwas Helles, Lichtes im Zimmer. Ihre kleine Tischlampe beleuchtete eben ihren Schoß, in dem sie die Blätter ihres Großvaters hielt; der Rest des Zimmers lag im Dunkel.

Und doch war es, als leuchtete der Raum, strahlte aus den Ecken ein freundliches und warmes Licht. In ihrem Herzen stieg etwas Leichtes empor, klar, farbenfroh und durchsichtig, wie eine Kugel aus feinstem Glas und Spinnweb gemacht, wuchs und stieg und erfüllte sie schließlich ganz.
Der düstere Tag mit der Beerdigung, der ewige Regen und die nassen Erdklumpen, die auf den Sarg fielen, die furchtbare Kälte der Einsamkeit, die Leere, die zurückgeblieben war, hatte sie ganz vergessen.
Welch ein Mensch war Großvater gewesen! Wie reich war seine Seele!
Tief berührt von seinen Worten gab sie sich eine Weile ganz dieser wunderbaren Empfindung hin und fuhr schließlich fort zu lesen.

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   „Ich nannte den jungen Bären Gregor, ein Name aus einem alten Volkslied, das meine Großmutter oft sang und der mich irgendwie fasziniert hatte. Aus Gregor wurde schließlich Grego.

Grego, mein Freund.

Wir wuchsen miteinander auf, das Menschenkind und das Bärenkind. Wie oft schlief ich bei Grego im Heu, ja ich nahm ihn sogar mit ins Haus. Meine Eltern und Geschwister behandelten ihn als ein weiteres Familienmitglied, schenkten ihm die Zuneigung, die man ihm einfach geben musste.

Du wirst Dich nun fragen, ob denn niemand, allen voran meine Eltern, sich Sorgen machte, ja Angst hatte, ein Tier aus der Wildnis und noch dazu einen Bären, der ja für uns Menschen durchaus gefährlich werden kann, in unserem nächsten Umfeld zu haben; auch und besonders angesichts der innigen Gemeinschaft, die mich mit dem Wildtier verband.

Doch, Lisakind, diese Sorgen gab es sehr wohl. Wir hatten, insbesondere anfangs, mit meinen Eltern immer wieder Gespräche und Diskussionen in der Familie, teils ruhig und sachlich, vor allem von Seiten meines Vaters, teils leidenschaftlich und heftig von meiner Seite und der meiner Mutter und Geschwister. Auch im Dorf war man gegenüber der Tatsache, dass nun ein Bär in unserer Gemeinschaft lebte, anfangs schon sehr zurückhaltend und sogar abweisend. Und es ist nur dem ruhigen und weitblickenden Einfluss meines Vaters zu verdanken, dass der junge Bär fürs erste bei uns bleiben durfte; alles andere wäre sein Todesurteil gewesen.

So verging die Zeit, Wochen und Monate und irgendwann Jahre eilten dahin und das Bärenkind schaffte es tatsächlich, mit seiner freundlichen und verträglichen, ja liebenswerten Natur, mehr und mehr das Herz und das Vertrauen meiner Geschwister und schließlich meiner Eltern und selbst der Dorfgemeinschaft zu erobern.

Ich habe Grego nie gewaltbereit erlebt – bis auf ein einziges Mal, und das aus gutem Grund. Doch davon erzähle ich Dir später.
Selbst seine Bärenkräfte, im wahrsten Sinne des Wortes, die mit dem Heranwachsen des Tieres immer stärker wurden, wusste er stets geschickt und behutsam gegenüber uns Menschen einzusetzen.
Grego mochte die Menschen, zeigte keinerlei Scheu, Misstrauen oder Aggression uns gegenüber wie es sonst seinen Artgenossen eigen ist. Vielleicht, weil er von klein an unser Leben geteilt hatte, ihm unser Geruch und Verhalten vertraut waren, vielleicht auch, weil ihm von Seiten der Menschen bislang nur Gutes widerfahren war.


Meine Eltern erkannten im Laufe der Zeit, dass sie mich ohne Bedenken Grego anvertrauen konnten, dass er mich heil nach Hause bringen würde, wenn wir unterwegs waren. Es war nicht nur einmal, dass er, mit dem sicheren Instinkt des Wildtieres, mich vor einer Gefahr bewahrte, die leicht ernste Folgen hätte haben können. Sei es nur vor dem Biss einer Kreuzotter oder einem falschen Schritt auf dem Pfad durch den Sumpf.
Grego und ich waren vom ersten Augenblick an ein Herz und eine Seele. Ich war es, der dem kleinen Tier das Futter brachte, der an seiner Seite ruhte, nachdem seine Mutter ihren schweren Verletzungen erlegen war. Der dem jungen Bären anfangs Tröster und schließlich Spielgefährte war, mit dem er tobte und sich balgte, wie es die Art dieser Tiere ist.

Grego wuchs rasch heran und übertraf mich bald an Größe und Stärke. Wie oft ritt ich auf seinem Rücken oder saß in einem kleinen Wägelchen, das er den Weg entlang zog.

Grego machte mit mir Wanderungen und Streifzüge durch die Wälder, und ich lernte dabei eine Menge von ihm. Ich lernte die Natur mehr und mehr irgendwie mit den Augen meines Freundes zu sehen. Ich lernte auf kleine Zeichen, Winzigkeiten aufzupassen, die mir bislang gar nicht aufgefallen waren, wie das Sirren eines Insektenflügels, den Schatten eines vorbeifliegenden Vogels, kaum merkliche Bewegungen im Schilf oder im Wasser. Und erkannte, welch eine Vielfalt von Leben uns selbst auf kleinstem Raum umgibt!
Ich lernte die Körpersprache Gregos zu deuten, wenn wir unterwegs waren, etwa seine besondere Art, Wind aufzunehmen, wenn Elche in der Nähe waren, den Kopf zu heben, wenn es galt sich zurückzuziehen.
Grego ging mit mir zum Baden in unseren Dorfsee. Und er begleitete mich auch im Winter, sogar zum Eislaufen. Er hielt keine richtige Winterruhe, verkroch sich nur ab und zu für ein paar Tage und tauchte dann wieder ganz munter bei uns auf, hatte sich wohl an unsere menschliche Lebensweise angepasst.

Oh, Lisakind, wenn ich Dir diese wunderbaren Bilder meiner Erinnerung nur in all ihrer Farbenpracht übermitteln könnte! Die zugefrorenen masurischen Seen, durch den eisigen Wind vom Schnee glatt gefegt und vom Mond beschienen, beleuchtet wie ein verzauberter Ballsaal. Und über uns der samtene Himmel, fein bestickt mit goldenen Sternen. Und wir tanzten. Tanzten den Reigen der Feen auf dem blinkenden Eis. Grego versuchte mit uns Schritt zu halten, uns auf die schimmernde Eisdecke zu folgen. Aber da er keine Schlittschuhe tragen konnte, glitt er aus und schlitterte auf seinen 4 Tatzen breitbeinig wie ein Schneepflug dahin. Schließlich setzte er sich auf seine Hinterkeulen und schaute uns verdrießlich zu. Er sah so komisch dabei aus, dass wir oft lachen mussten. Doch versäumten wir nie, immer wieder zu ihm hin zu gleiten, ihn zu berühren und beruhigend zu ihm zu sprechen, um dem Tier eine Situation zu erleichtern, die ungewohnt für es war."

Elisabeth musste innehalten und laut auflachen. So lebhaft konnte sie sich die Erlebnisse ihres Großvaters und seiner Familie mit dem tollpatschigen Bären auf dem Eis vorstellen. Ach, und diese klare Sternennacht und die schimmernde Eisfläche! Die fröhlichen Menschen beim Schlittschuhtanz! So angeregt hatte sie diese Lektüre von ihres Großvaters Aufzeichnungen, dass sie nahezu froher Stimmung war. Sie war nicht einmal müde, obwohl es schon auf Mitternacht ging ...

Und so, Lisakind, mein Mädchen, gingen die Jahre dahin," schrieb Opusch weiter.
„Grego und ich waren nahezu unzertrennlich und bald im Dorf und in der ganzen Gegend bekannt als Meister Michael und sein Bär. Ja, es kam vor, dass Menschen aus weiter entfernten Orten bei uns auftauchten, nach Grego und mir fragten und fasziniert waren von dem Vertrauensverhältnis, das uns verband. Jeder achtete das Tier als meinen Freund, und meine Schulkameraden beneideten mich um ihn.
Doch dann, ich war etwa neun Jahre alt, kündigte sich eine Veränderung an.

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   Grego war nun fast ein ausgewachsener Bär. Bereits zwei bis drei Jahre zuvor war uns schon aufgefallen, dass ihn nach dem Winter eine Unruhe befiel, die von Jahr zu Jahr stärker wurde. Zeitweise war mein Freund auch schon in den Wäldern untergetaucht und hatte sich dann nach Tagen, ganz zerzaust und zottig, wieder bei uns eingefunden.
Mein Vater, der viel Verständnis für Tiere und ihre Bedürfnisse hatte, sagte mir, dass sich Gregos Naturtrieb, im Frühjahr und Sommer auf Brautschau zu gehen, meldete.

So kam es dann, dass mein Vater in seiner verständnisvollen Art mir den Rat gab, dass es für Grego am besten wäre, ihn der Natur zurück zu geben, wohin er eigentlich gehörte. Schweren Herzens willigte ich ein.
Nun war Grego ja nicht von klein an in der Wildnis aufgewachsen und an sie gewöhnt, hatte sich vielmehr – aus freiem Willen - uns Menschen angeschlossen; der Weg in die freie Wildbahn zurück konnte daher von dem Tier nicht ohne  Anlaufschwierigkeiten eingeschlagen werden.
Die beste Lösung schien deshalb die zu sein, so erklärte mir mein Vater, ihn den Sinti mit zu geben, die alljährlich im Winter in unser Dorf kamen, wo sie nicht zuletzt als geschickte Handwerker und Heilkundige ihr Geld verdienten.

Wir mochten diese Leute, die wir im Dorf fast schon liebevoll "unsere 'Wanderer'" nannten, und ganz besonders ihre Musik. Sie waren eigentlich eine große Familie, in der von der Urgroßmutter bis zum Enkelkind alle Generationen vertreten waren und die, anders als sonst die ostpreußischen Sinti, die meist Bauern waren, ihr Unterwegssein liebten, zumindest im Sommer. Für uns Kinder vor allem war das eine faszinierende Welt! Mein Vater schätzte sie insbesondere deshalb, weil sie die Natur und ihre Wesen achteten und wusste, dass sie unser Anliegen, Grego nach und nach an ein Leben in der Wildnis zu gewöhnen, gewissenhaft ausführen würden.
Umso mehr, da sich in ihren Reihen ein Tierflüsterer befand, ein Mann mit durchdringendem Blick und geheimnisvoller Ausstrahlung. Ihm wurden magische Kräfte nach gesagt, dank derer er jedes Tier – und, so hieß es, sogar jeden Menschen - in seinen Bann ziehen könnte.
Ich hatte vor Meister Igor immer ein bisschen Bange - außer, wenn mein Vater dabei war. Er und Meister Igor verstanden sich ausgezeichnet und hatten so manches anregende Gespräch über die Natur, die Welt und die Menschen miteinander geführt.

Heute weiß ich, dass Meister Igor einfach ein sehr guter Kenner der Natur und ihrer Heilkräfte war. Dazu besaß er das feine Einfühlungsvermögen in Wesen und Bedürfnis der Tiere, Pflanzen und Menschen, die ihm begegneten, das auch mein Vater hatte. In unserer  heutigen Welt  würden wir ihn vielleicht als Heilpraktiker oder Naturheilkundigen bezeichnen.
Bei ihm würde Grego in guten Händen sein.

Nun glaube nicht, mein Mädchen, dass es so einfach für mich war, meinen besten Freund herzugeben, ihn gehen zu lassen. Nein, Lisotschka, es war ein schwerer Kampf für mein Kinderherz. Aber von meinem guten Vater hatte ich gelernt, jedes Lebewesen in seiner Art zu achten, seine Bedürfnisse zu respektieren. Niemals ihm meine Wünsche aufzuzwingen.
Und so lernte ich das Loslassen – diese Fähigkeit, die uns das Leben um so vieles erleichtert und die doch nur durch Schmerz und Leid zu erlernen ist.

Erspare mir, meinen herzzerreißenden Abschied von Grego, meine Tränen, den Kummer meiner Familie und die herzliche Anteilnahme der Dorfbewohner zu beschreiben. Nur soviel lass mich sagen, dass Grego, trotz seiner Anhänglichkeit an mich, die Trennung fast gelassen hinnahm, wenn man die Stimmung, das Verhalten eines Tieres so bezeichnen kann. Es war, als hätte er gewusst, dass es Zeit war zu gehen, seiner Bestimmung zu folgen. Tiere haben ja ein Wissen und feine Instinkte, eine Art siebten Sinn, die bei uns Menschen vielfach verschüttet sind.
Vielleicht spürte er auch, dass es kein Abschied für immer sein sollte, was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal zu träumen wagte."

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   Elisabeth stand auf und schob den Vorhang ein klein wenig zur Seite und blickte auf die Straße. Es war sehr still. Wie immer um diese mitternächtliche Stunde. Der Mond stand gerade über dem Giebel des gegenüberliegenden Hauses und beleuchtete die verlassene Straße, die stillen Wege, die noch vom Regen glänzten. Die dichte Wolkendecke war aufgebrochen und gab den Blick auf den nachtdunklen Himmel und einige Sterne frei.
Elisabeth lehnte ihren Kopf an das Fensterkreuz und schaute auf den Mond. Es war der gleiche Mond, der auf die schimmernde Eisfläche geschienen hatte, wo Opusch mit Grego und seiner Familie so manche vergnügte Stunde verbracht hatte.

Der gleiche Mond, der den Weg Gregos und der 'Wanderer' begleitete, in die endlosen Wälder des Ostens. Und der vielleicht über der Kammer des neunjährigen Michaels stand, der eben den größten Trennungsschmerz verarbeiten musste, der seinem Kinderherzen bislang auferlegt war.
Elisabeth war gefangen in der Erzählung ihres Großvaters. So ganz und gar gefangen, dass die kalte Wohnung um sie herum, der dunkle Raum mit der kleinen Tischlampe und ihrem ovalen Schein, die Straße und Häuser draußen, sich auflösten, verschwanden.
Sie war der kleine Michael in dem stillen Dorf am Rande von Masuren.
Sie war der neunjährige Junge, der dem Wort seines Vaters so sehr vertraute, dass er seinen besten Freund loslassen, gehen lassen konnte, weil es das Beste für ihn war.

Elisabeth dachte an ihren eigenen Vater, an den sie keine Erinnerungen hatte. Wie mochte er gewesen sein?
Von Opusch wusste sie, dass sein Wesen dem ihren ähnlich war, feinfühlig, ernsthaft und vor allem mit der Liebe zu allen Lebewesen, den Tieren im besonderen, die auch ihr eigen war und die sie bewogen hatte, den Beruf der Tierärztin zu erlernen.
Ob zwischen ihrem Vater und ihr wohl auch so ein Vertrauensverhältnis gewesen wäre wie es Opusch zu seinem Vater hatte? Oder wären sie einander zu ähnlich, um eine solche Partnerschaft zwischen Vater und Tochter aufbauen zu können? Vielleicht hätte sie sich mit ihrer etwas leichter veranlagten, liebenswürdigen Mutter besser verstanden?
Elisabeth hatte schon oft über diese Fragen nachgedacht. Auch wenn es müßig und sinnlos war, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, kam es doch vor, dass bei gewissen Gelegenheiten ihre Gedanken zu ihrem Vater und ihrer Mutter eilten.

In ihrer Handtasche hatte sie ein Bildchen ihrer Eltern, das kurz vor ihrem Unfall aufgenommen worden war. Elisabeth trug es immer bei sich und zog es jetzt hervor, hielt es in den hellen Schein der kleinen Lampe.
Sie sah ein hübsches, attraktives Paar, bis zur Brust fotografiert. Sie mussten sich sehr geliebt haben. Das sah man an der Art, wie sie die Köpfe aneinander schmiegten, eher einander liebevoll anblickten als in die Kamera schauten.
Elisabeth durchforschte die Gesichter ihrer Eltern nach vertrauten Zügen. Ja, sie erkannte auf Anhieb die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, die Haare, die Lippen, die Nase. Die Augen, auch in der Form, waren die ihres Vaters. Wie Opusch geschrieben hatte.
Sie versuchte ihrem Vater in die Augen zu blicken, eine vertrauensvolle Gefühlsregung herauf zu beschwören. Aber das Bild blieb stumm, zeigte nur einen liebevoll lächelnden jungen Mann, der seine Frau innig anblickte.
Elisabeth seufzte und steckte das kleine Bild wieder in die Tasche. Ein kleiner Winkel ihres Herzens tat ein bisschen weh. Es waren eben doch – ihre Eltern.
Erneut griff sie nach den Aufzeichnungen ihres Großvaters, suchte die Stelle, wo sie weiterlesen konnte.

Ich durchlebte den Trennungsschmerz mit aller Leidenschaft und Heftigkeit eines Kindes,"
schrieb Opusch weiter, „was weder für mich noch für meine Eltern und Geschwister einfach zu ertragen war. Doch die Intensität der Verlustgefühle nahm bald ab – Kinder leben ja so viel mehr in der Gegenwart als wir Erwachsenen – aber die Erinnerung und die feine Sehnsucht nach meinem besten Freund blieb tief in mir zurück, wob so manchen wundersamen, sehnsüchtigen Traum.
So verging die warme Jahreszeit, es wurde wieder Winter.

Und mit dem Winter – kam Grego. Er war auf einmal da, stand vor unserem Haus, kam mitten in unseren Alltag hinein.

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   Die jubelnde Freude über das Wiedersehen, Lisotschka, brauche ich Dir nicht zu beschreiben. Ich fühlte mich wie im Himmel, meine Sehnsucht, mein schönster Traum, den ich wider alle Vernunft manchmal geträumt hatte, war in Erfüllung gegangen!

Von unseren Sintifreunden erfuhren wir später, dass es nicht möglich gewesen war, Grego in die Wildnis zu entlassen. Er wollte nicht. Zwar verschwand er von Zeit zu Zeit in den Wäldern, manchmal für Wochen, kehrte aber stets zu ihrem Treck zurück. Und er fand ihn unfehlbar, wohin sie inzwischen auch gewandert sein mochten.

Meister Igor erzählte, dass er auch beobachtet hatte, dass Grego hin und wieder Halt machte, den Weg zurückschaute und witterte, als warte er auf etwas. Und als die Sinti sich wieder auf ihren Weg nach Westen machten, in die Richtung, wo unser Land und Dorf lag, sei Grego nicht mehr zu halten gewesen. Er eilte ihnen voraus und traf schließlich zwei Tage vor Meister Igor und seinen Leuten bei uns ein.

Grego und ich verlebten den Winter zusammen wie immer, teilten alles miteinander und waren ein Herz und eine Seele, so dass ich schon dachte, er hätte sich für mich entschieden, würde nun bei mir bleiben.
Doch als die 'Wanderer' im Frühjahr wieder nach Osten aufbrachen, schloss sich Grego ihnen an. Ganz von selbst. Und damit begann sich eine merkwürdige Gewohnheit meines Bärenfreundes zu
entwickeln: Im nächsten Winter kam Grego mit den Sinti zu mir zurück, im Frühjahr darauf ging er erneut mit ihnen auf Wanderschaft.
So ging es fünf Jahre lang. Und ich, wir alle, hatten uns an diesen Rhythmus gewöhnt, hatte ihn doch das Tier selbst gewählt und fühlte sich offenbar wohl dabei. Und ich glaubte daran, dass es immer so weiter gehen würde, dass mein bester Freund nun seinen Platz in meinem Leben gefunden hätte.
Aber das Schicksal hält stets Überraschungen für uns bereit.

Im sechsten Jahr, Lisa, mein liebes Kind, verlor ich meinen Freund, endgültig und für immer. Es war schlimm – und vor allem so sinnlos und unverständlich.
Trotz der über sechs Jahrzehnte, die seitdem
vergangen sind, fällt es mir noch immer nicht leicht, darüber zu berichten. Doch Du, mein Augenstern, die Du mir in vielem so ähnlich bist, die Du mein Herz und meine Liebe zu Gottes Geschöpfen am besten verstehst, sollst wissen, was damals geschah.

Es war das Jahr 1940, ich war fünfzehn, ein schmaler Junge mit verträumten Augen, der jeden Tag als eine Art Abenteuer erlebte und wurde oft für jünger geschätzt als ich war. Im Herzen trug ich noch den Glauben an das Gute in den Menschen, den ich mir seit meiner Kindheit bewahrt hatte.
Grego und die Sintifamilie waren wieder da, und es sollte am Nachmittag und Abend in unserer Dorfschenke ein kleines Fest stattfinden mit Musik und Tanz.

Leider mussten wir auf die anregende Gesellschaft unserer Sintifreunde und ihre nicht nur in unserer Familie so geschätzte Musik verzichten. Die sich immer mehr zuspitzende politische Lage der wachsenden Verfolgung und Diskriminierung von Minderheiten, darunter der Sinti, machte auch das Überleben der 'Wanderer' zu einem überaus schwierigen Balanceakt - selbst in unserer, ihnen eigentlich wohl gesonnenen Dorfgemeinschaft. Das bedeutete für sie, sich weitgehend in Deckung zu halten. Eine schwere Bürde für unsere freiheitsliebenden Freunde.

Die Lehrerin wollte mit den Kindern ein heiteres Theaterstück aufführen, und ich sollte mit Grego einige Kunststücke zeigen, die ich ihm beigebracht hatte.

Schade war nur, dass meine Eltern nicht dabei sein konnten – mein Vater lag mit seinem Lungenleiden zu Bett, und meine Mutter wachte bei ihm. Auch Meister Igor konnte aufgrund der gefährlichen Lage für ihn und seine Familie nicht anwesend sein.
Vielleicht wäre sonst alles anders gekommen.
Vielleicht hätte das Schlimmste abgewendet werden können.

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Fortsetzung folgt

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.05.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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