Denise Gehlert

Tee

Ich liebte ihn. Wirklich. Ich liebte ihn so sehr. Ich streichelte sanft durch sein Haar, streichte vorsichtig über seine Wange. Sie war kalt. Aber ich wusste, dass das nur sein Körper war. Er selbst war schon immer warmherzig gewesen. Seine grünen Augen starrten in meine. Sie fesselten mich jedes Mal aufs Neue.

Es war Winter. Ich sah aus dem Fenster und beobachtete, wie die Schneeflocken leicht und elegant vom grauen Himmel herabfielen. Er hatte den Kamin angemacht. Es würde sicherlich bald wärmer werden. Ich hatte ihm seinen Lieblingstee gekocht, wie immer, wenn er an kalten Wintertagen von der Arbeit kam. Essen hatte ich heute nicht vorbereitet. Der Kühlschrank war leer.

Der Duft des zimtig riechenden Tees durchflutete den ganzen Raum. Meine Tasse war noch voll. Ich wollte den Tee lieber genießen, nicht so wie mein Mann. Er war noch nie ein Genießer gewesen. Den Tee hatte er so schnell getrunken, wie ich ihn gekocht hatte.

Ob sie ihm wohl auch immer Tee kochte?

Mein Mann und ich hatten uns bereits in der Schule kennengelernt. Wir waren so verliebt gewesen, und das hatte sich auch nie geändert. Er liebte mich, das wusste ich. Und ich liebte ihn. Wirklich. Ich liebte ihn so, so sehr.

Wir waren einfach füreinander bestimmt. Wir lachten so viel zusammen, hatten so viel miteinander erlebt. Wir waren gerne unterwegs, immer auf Reisen. Wir teilten tausende Erinnerungen. Das konnte sie nicht von sich behaupten. Sie waren für ihn Spielchen, und ich wusste das. Er war schon immer so gewesen. Wir hatten darüber gesprochen. Der einzige Fehler dieses sonst perfekten, so liebevollen Mannes war, dass er nicht treu sein konnte. Er konnte es einfach nicht. Ich verstand das, wirklich. Manche Menschen können das eben nicht. Es war okay für mich, wenn er ab und an ein Techtelmechtel mit einer anderen Frau hatte, denn ich wusste, dass er mich liebte. Mich wollte er nicht teilen, und das war okay. Ich war nicht wie er. Er reichte mir vollkommen, sowohl emotional als auch körperlich. Aber Menschen sind eben einfach verschieden.

Doch dieses Mal war es anders. Wir waren seit dreizehn Jahren verheiratet, und ich kannte ihn einfach. Er verhielt sich nicht so, wie er sich sonst verhielt, wenn er von einem seiner Techtelmechtel kam. Er hatte sich auch noch nie so lange mit ein und derselben Frau getroffen. Wir sprachen auch nie über seine anderen Frauen. Ich wusste es, und damit war es gut. Aber dieses Mal sprach er von ihr. Nicht viel, aber er sprach von ihr.

Ich konnte seinen Körper teilen, ja. Weil ich ihn liebte und ihn mit seinen Macken akzeptierte. Aber manchmal, da reicht auch bedingungslose Liebe nicht. Manchmal muss man Handeln, um sich selbst zu schützen. Ich wusste, dass ich es nicht ertragen würde, ihn mit ihr zu teilen, geschweige denn, ihn an sie zu verlieren. Nein. Ich trank meinen Tee, langsam und genüsslich. Dabei streichelte ich weiter sein volles Haar. Er war so ein schöner Mann. Natürlich wollten all die Frauen ihn. Ich wollte ihn ja auch. Und ich hatte solches Glück gehabt, dass er sich damals entschieden hatte, mich zu heiraten. Mich zu lieben. 
Ich nahm einen großen Schluck von dem Tee. Das Gift wirkte schnell. Auch ich spürte bereits, dass mein Körper nicht mehr richtig arbeitete. Ich lächelte. Es fühlte sich schön an. Wir würden hier gemeinsam sterben, so wie wir auch gemeinsam gelebt hatten.

„Bis dass der Tod uns scheidet.“, flüsterte ich, gab ihm einen Kuss auf die kalte Stirn und wartete, bis mein Herz endlich aufhörte, für ihn zu schlagen.

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