Denise Gehlert

#lost

Wonach streben wir? Wonach richten wir uns?

Manchmal hat man das Gefühl, kein Mensch tut mehr etwas nur für sich selbst. Wir reisen nicht mehr, um die Welt zu sehen, sondern um Bilder zu posten. Wir rennen mit dem Handy und mit den Kameras durch die Gegend, und machen Fotos von allem, was den Leuten gefallen könnte, nicht mehr von dem, was uns gefällt. Wir tun so, als wären wir dort gewesen, haben aber alles nur durch die Kamera gesehen. Hauptsache, wir gehören zum Team #Wanderlust.

Wir machen Sport, um Fotos von gestählten, ästhetischen Körpern in den sozialen Medien zu veröffentlichen und um hierdurch berühmt zu werden. Wir machen den Sport nicht, weil er uns Spaß macht oder weil wir uns etwas Gutes tun wollen. Wir machen ihn einzig und allein, um es der Menschheit zu präsentieren. Und wenn wir dann zum Team #Fitnessmodel gehören, machen wir Werbung für verschiedenste Marken, von denen wir selbst eigentlich gar nichts halten.

Wir sind auch nicht mehr gut. Wir tun so, als wären wir es. Wir wollen, dass andere denken, wir seien gut. Darum tun wir gute Dinge nur, wenn andere es auch sehen. Und wenn es keiner gesehen hat, stellen wir sicher, dass es jemand sehen wird. Wir posten unser veganes Essen, sogar unsere Spenden. Wir posten jede gute Tat, die wir vollbracht haben. Egal, ob wir einem Obdachlosen Geld gegeben haben oder ob wir freiwillig irgendwo aushelfen. Und wenn wir dann zum Team #safetheworld gehören, merken wir, dass wir uns den ganzen Tag selbst widersprechen, weil wir, wenn keiner hinsieht, vielleicht doch ausnahmsweise Plastiktüten benutzen, oder weil uns irgendwann selbst auffällt, dass wir überhaupt keine Lust haben, etwas Gutes zu tun, wenn keiner hinsieht.

Wir leiden auch nicht mehr für uns selbst, sofern wir denn überhaupt leiden. Wir haben alle Depressionen und Burnout, wir sind alle unglücklich und wir lieben es, wenn wir dafür Mitleid bekommen. Wir posten unseren Kampf gegen unsere Depressionen auf Instagram und nennen es mutig und ehrlich, obwohl wir uns eigentlich nur selbst belügen. Wir wollen auch zum Team #staystrong gehören, wollen, dass andere uns sagen, wie toll wir sind und wie unglaublich offen wir mit dieser ach so schwierigen Thematik umgehen. Und wenn wir dann dazugehören, geht es uns auf einmal besser, aber das dürfen wir nicht sagen, sonst wird unseren #supportern noch langweilig.

Wir sind auch nicht mehr romantisch. Wir machen das, was wir in Filmen und in den sozialen Medien sehen, nach, und posten es dann. Wir posten Kerzen und Wein oder eine Badewanne voller Rosenblätter, anstatt den Moment mit unserem Partner zu genießen. Wir posten Bilder, auf denen wir uns küssen und schreiben lange Texte unter sie, in denen wir unsere unendliche Liebe zueinander gestehen, während der andere eigentlich direkt neben einem sitzt. Aber wieso sollte man es sich ins Gesicht sagen, wenn der andere den Beitrag doch einfach mit einem genauso romantischen Text und ganz vielen Emojis kommentieren kann. Dann hoffen wir inständig, dass unsere Affäre nicht eifersüchtig wird und es sich vielleicht sogar wagt, unserem Partner zu schreiben. Wenn wir dann genug romantische Abende gepostet haben, gehen wir getrennt in eine Discothek und schleppen irgendwen ab. Das posten wir natürlich nicht. Das passt ja nicht zu unseren #relationshipgoals.

Wir kümmern uns auch nicht mehr. Wir besuchen unsere Familie nicht, egal, ob sie in Nevada oder im Nachbarshaus wohnen. Aber wenn wir es tun, posten wir ein Foto davon, wie sehr wir unsere #family lieben und wie toll alle sind. Wenn wir dann mit unseren Verwandten in die Kamera gelacht haben und schnell den Geburtstagskuchen gegessen haben, fahren wir wieder nachhause und hoffen, dass es bis zum nächsten Geburtstag noch ein bisschen dauert.

Wir machen andere klein, um uns besser zu fühlen. Reden andere Träume schlecht, wenn wir selbst keine haben, oder wenn wir dieselben haben und sie nicht umsetzen können. Wir wollen, dass es den anderen gut geht, aber wir wollen, dass es uns besser geht. Aber wir können uns auch nichts vorwerfen, denn eigentlich wollen wir alle genau dasselbe und suchen nur ein Mittel, um unser Ziel zu erreichen.

Wir wollen Anerkennung. Wir wollen Aufmerksamkeit. Wir wollen auffallen. Wir wollen anders sein. Wir wollen eine Bedeutung haben. Und wir wissen nicht, wie wir zwischen all den Menschen auffallen sollen, suchen uns die ganze Zeit selbst. Jetzt, in einer Zeit, in der alles, einfach alles, in den sozialen Medien zu sehen ist, ist es noch schwieriger, dieses Ziel zu erreichen. Denn wir haben zu viel Konkurrenz. Und vor lauter Konkurrenz wächst der Wunsch nach Bestätigung nur noch mehr. Er wächst, bis wir die Kontrolle darüber verlieren. Er wächst, bis wir uns auf der Suche nach uns selbst verlieren. Und das, das ist das traurige an dem Ganzen. Die Menschheit, die sich selbst im Weg steht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.06.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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