Peter-Xaver Lübke

Dschungel-Wahnsinn

Mittlerweile sind weitere Stunden vergangen, seit wir Sam zurückgelassen haben. Keinem von uns gefiel diese Idee, aber es war sein letzter Wunsch. Er könnte uns sonst verletzen, sagte er. Also gingen wir. Sahen zu, wie sich ein Mensch freiwillig an einen der endlos hohen Bäumen binden ließ, nur um keine Gefahr für andere und sich selbst darzustellen. Er hat sich mit seinem Schicksal abgefunden, sagte er.

Keiner von uns hat seitdem ein Wort gesagt. Jeder von uns hörte seine Schreie wieder und wieder, die durch das Dickicht hallen. Schreie nach Hilfe und Schreie, dass das endlich aufhören soll. Doch wir gingen weiter. Schauten nicht zurück. Das hatten wir ihm versprochen, nein, das hatten wir uns versprochen.

Wir hatten bereits davon gehört, lachten jedoch und hielten Geschichten darüber für Schauermärchen, einen Mythos, eine Legende, die seit Jahrhunderten überliefert worden ist und an der genauso wenig dran sein würde, wie an dem vorhergesagten Weltuntergang der Maya. Geschichten der Einheimischen, die eigentlich die Kinder davon abhalten sollen, sich in den Dschungel zu verirren. Das war nicht das erste Mal, dass wir solche Warnungen mit gutem Gewissen ignorierten. Doch diesmal scheint unsere westliche Ignoranz und fehlender Respekt gegenüber Sitten und Bräuche bestraft zu werden.

Dschungel-Wahnsinn nannten sie es. Die Seele des Waldes würde sich gegen jedes Lebewesen wehren, das versuche in das System einzudringen oder diesem gar zu schaden. Dringt man zu tief in den Wald ein, so würde der Wald in einen selbst eindringen und alles daran setzen, den Schädling zu vernichten.

Wir sind die Schädlinge. Der Mensch, der als Jäger und Sammler definiert wird, wird zum Gejagten.

Uns liegt noch ein Tagesmarsch bevor, bis wir wieder auf Zivilisation treffen würden. Wir, Wissenschaftler, Geologen und Photographen, wissen nicht wovor wir Angst haben sollen. Wir wissen nicht, wie wir präventiv mit der Gefahr umgehen sollen, wie wir uns schützen könnten. Wir wissen bloß, dass der Dschungel bereits in unseren Köpfen ist und dass wir diesen Wald so schnell es geht verlassen müssen.

 „Erst nimmt er dir das Licht und dann nimmt er dich“

Diese Worte wiederholten sich in einer Endlosschleife in meinem Kopf. Wir wollten diese Warnung nicht glauben. Erst als Sam mit aufgekratzten Augen aufwachte, wussten wir was damit gemeint war. Er beklagte sich den Tag davor schon über seinen juckenden Augen. Wir schoben es auf die hohe Luftfeuchtigkeit oder eine Allergie, aber dachten uns nichts dabei. Der rote Faden unserer Expeditionen: Wir dachten uns nichts dabei. Wir versprachen Sam Hilfe zu holen, doch dieser hörte uns nicht mehr. Er war in einen Schreikrampf aus Beleidigungen und weinerlichem Betteln verfallen. Das Verlangen sich zu Kratzen war bereits stärker als seine Vernunft. Nur ein drei Zentimeter dickes Seil hielt Sam davon ab, seine blutigen Hände noch tiefer in seine Augenhöhlen zu graben. Wie lange das Seil halten würde, wussten wir nicht.

Mittlerweile fängt es an zu dämmern. Wir haben uns dazu entschieden diese Nacht nicht zu rasten. Uns ist bewusst, dass wir im Schein der Taschenlampen nur mäßig Fortschritte machen werden, aber jeder von uns hat Angst. Angst noch länger in dieser Todesfalle zu bleiben, Angst zu schlafen, Angst um Sam, Angst wie er zu enden.

Komplett in Gedanken versunken, schlägt mir ein nasser Zweig ins Gesicht. Ich schreie kurz auf und werde sogleich von allen Seiten angeleuchtet. Man spürt die Anspannung deutlich, niemand kann entspannen. Wie Tiere, die ein nahendes Unwetter spüren können und immer unruhiger werden. Jeder weiß, dass es jeden zu jederzeit als nächsten erwischen kann. Die Tatsache, nicht zu wissen, wann und ob es erneut passieren wird, bringt uns psychisch an unsere Grenzen.

Ich wische mir über das Gesicht. Die Blätter wurden mir direkt ins Auge gepeitscht. Ich versuche den Schmerz wegzublinzeln, kann aber das Auge immer nur kurz offen halten. Ähnlich als würde man in einem zu stark gechlortem Schwimmbecken die Augen Unterwasser öffnen. Als das Brennen sowohl mit offenem, als auch geschlossenem Auge nicht nachlässt, fange ich an mir das Auge zu reiben. Es fühlt sich gut an.

So Befreiend.

Ich konzentriere mich rein auf das Schmerz lindernde Gefühl und merke, wie der Dschungel um mich herum langsam immer stiller wird. Die Vögel verstummen, das Rauschen der Blätter verschwindet. Die dumpfen Rufe meiner Kollegen werden immer leiser. Ich sehe, wie sie aufgeregt ihre Münder weit auf und ab bewegen, doch kann sie nicht mehr hören. Sie reißen und rütteln an meinen Handgelenken und lassen mich wie einen Grashalm, der von einer kühlen Sommerbrise erfasst wird, hin- und herwiegen.

Kühl läuft eine Träne zwischen meinen roten, nassen Fingern über meine Wange in meinen Mundwinkel.

Er schmeckt metallisch.  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.06.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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