Lena Kelm

Wie ein Fisch im Ozean

 

Kollegen und Freunde, alle warnten mich, sie fanden mein Vorhaben irrsinnig, ich würde es bestimmt bereuen. Womit hatte ich sie in solche Aufregung versetzt? Zwei Wochen Urlaub an der Algarve hatte ich gebucht ohne Begleitung. Ich verstand ihre Besorgnis nicht. „Zwei Wochen alleine Urlaub? Todlangweilig! Du hältst es höchstens eine Woche aus!“ Ich ließ mich nicht verunsichern. Mein Bedarf an Urlaub inklusive Geselligkeit war erschöpft. Ich arbeite im Sozialbereich, führe täglich Gespräche, endlich wollte ich einmal in Ruhe Sonne, Meer und gutes Essen genießen und meine Konversation auf Danke und Bitte beschränken.

Beim Einchecken im Hotel, verspürte ich ein leichtes Unbehagen. Alle sprachen englisch an der Rezeption, keiner verstand mich. Auf der Etage lauschte ich vergeblich nach dem vertrauten Deutsch. Am nächsten Morgen beim Frühstück hörte ich gefühlt hundert Menschen ausschließlich Englisch rattern. Ich fühlte mich verloren. Wie gern hätte ich eine vertraute Vokabel vernommen. Ich kramte nach ein paar englischen Brocken aus der Studienzeit in meinem Gehirn, aber bei dem Tempo kam ich nicht mit.

Das befremdende Gefühl ließ am Atlantikstrand nach. Die englischen Gesprächsfetzen wurden vom Brausen des Ozeans verschlungen. Entspannt döste ich, aß genüsslich zu Mittag, trank einen Espresso und erkundete die Umgebung. Die ockerfarbene Erde und das spärliche Grün erstaunten mich, die Landschaft ähnelte der Steppe in Kasachstan, wo ich aufgewachsen war.

Die Gastwirte waren unaufdringlich, die Verkäufer in den winzigen Geschäften zurückhaltend, sie ließen mich in Ruhe alles bewundern und überlegen, schwatzten mir nichts auf. Angetan war ich von den portugiesischen LKW-Fahrern. Von Berlin war ich anderes gewöhnt. Ich begriff: Es gibt noch höfliche Fahrer, die Regeln beachten und vor Zebrastreifen halten. Sie erschreckten die Passanten nicht mit ihren Hupen, niemand erlitt einen Herzinfarkt.

Zufrieden kehrte ich in den Speisesaal zu hundert hungrigen Urlaubern zurück. Wieder überkam mich das Gefühl des Fremdseins, ich kam mir vor wie eine Außenseiterin. Aus Zimmern und Fluren drang Englisch, angeheiterte Hotelgäste unterhielten sich lautstark, Kinder tobten im Korridor bis kurz vor Mitternacht. Auf meinem Zimmer gab es keinen Fernseher, mein Taschenbuch hatte ich längst im Flugzeug und am Strand ausgelesen. Was sollte ich tun, während ich darauf wartete, dass die Kinder erschöpft in die Betten fielen. 

Beim Frühstück, im englischen Stimmengewirr, überkamen mich erste Zweifel. Hatten meine Berliner doch recht? Das halte ich keine zwei Wochen aus. Es war keine gute Idee gewesen. Ich hätte es wissen müssen, Portugal war ehemals eine englische Kolonie. Das Alleinsein unter Fremden trug nicht zu meiner Erholung bei. Und das englische Frühstück war mir nicht nur fremd, sondern auch zu fett. Nach Omelett mit Toast ging ich langsam zum Strand, um mir einen schönen Latte-Macchiato zu gönnen. Ich überquerte eine breite Straße und fand mich in einer schmalen Gasse wieder. Außer mir und einem Paar auf der gegenüberliegenden Seite war die Gasse menschenleer. Wir liefen in die gleiche Richtung. Nach ein paar Schritten hörte ich die Frauenstimme:

„Nein, das hast du gesagt!“

„Nein, das habe ich nicht gesagt.“ widersprach der Mann.

Mich traf es wie ein Blitz: Deutsche! Es klang so vertraut. Ich versuchte mit dem Paar Schritt zu halten.

„Nein, das hast du gesagt!“ behauptete die Frau.

„Das habe ich nicht gesagt.“, antwortete der Mann gereizt.

„Nein, das hast du gesagt!“ Ihr Ton klang eine Oktave höher.

„Nein, das habe ich nicht gesagt.“ Der Mann verlor die Beherrschung, der Streit ging weiter. Ich verlor das Interesse und sehnte mich nicht mehr nach der deutschen Sprache. Plötzlich durchfuhr es mich: Genau das brauchte ich nicht. Ich wollte Ruhe! Von da an ging es mir besser. 

In einem Buchladen erstand ich zwei deutsche Bücher, trank nebenan einen Latte-Macchiato und lief ans Meer. Meine Seele genoss in vollen Zügen die Weite des Ozeans, den unendlichen blauen Himmel über mir und meine Freiheit an den verbleibenden Urlaubstagen. Ich unternahm längere Spaziergänge, eine Reise nach Andalusien, lernte ein polnisches Paar, eine junge Frau aus Köln und eine russische Kellnerin kennen. Wir plauderten beim Frühstück und gingen unserer Wege.

Die zwei Wochen waren im Nu herum. Als ich in Berlin landete, stellte meine Tochter verwundert fest: „Mama, du hast dich gut erholt!“ – „Habe ich, mein Kind, prächtig! Ich fühlte mich zwei Wochen frei wie der Fisch im Ozean. So, wie ich es mir gewünscht habe.“

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