Claudia Savelsberg

Der Vampir

Gudrun arbeitete in einer Universiätsbuchhandlung, die bundesweit einige Filialen betrieb. Sie war Abteilungsleiterin für den Bereich Belletristik. Von der Geschäftsleitung, den Kollegen und den Kunden wurde sie geschätzt. Gudrun war zuverlässig, kompetent und freundlich. Man konnte sich auf Gudrun verlassen. Sie war ein Mensch, der immer ein offenes Ohr für die Belange und Sorgen anderer hatte. Sie stand jedem, der Hilfe brauchte, mit Rat und Tat zur Seite. Ihr Mann Dieter, der im Finanzamt arbeitete, sagte oft zu ihr: „Liebling, du hast ein ausgeprägtes Helfersyndrom. Denk auch mal an dich.“ Gudrun lächelte. Ihr Mann konnte sich oft besser abgrenzen als sie und ließ die Sorgen anderer Menschen nicht zu nah an sich ran, das war ihr bewusst. Aber sie konnte nicht anders handeln. Vielleicht war das ein Fehler.

Eines Tages rief ihre Freundin Bettina überraschend an. Gerlinde rechnete kurz nach, vor drei Jahren hatten sie sich das letzte Mal gesehen. Bettina war damals in eine andere Stadt gezogen, sie hatten noch einige Male telefoniert, aber dann war der Kontakt abgebrochen. Gudrun freute sich, Bettinas Stimme zu hören und war neugierig zu erfahren, wie es ihr ginge.

Gudrun erinnerte sich, wie sie Bettina kennengelernt hatte. Sie hatte eine Lehre zur Buchhändlerin angefangen in der Buchhandlung, in der Gudrun arbeitete. Gudrun mochte Bettina, die sie als eine Art jüngerer Schwester sah. Sie verbrachten oft die Mittagspausen zusammen, tauschten sich aus. Gudrun half ihr mit Tipps und Ratschlägen, die Bettina zu schätzen wusste. Sie war noch ein wenig unsicher, hielt den Blick oft gesenkt. Bettina, die sich ihren Mitmenschen kaum öffnete, fasste Vertrauen zu Gudrun und erzählte ihre Lebensgeschichte. Ihre Mutter, die bei ihrer Geburt gerade vierzehn Jahre alt war, hatte sie zur Adoption freigegeben. Die Adoptiveltern waren sehr nett zu ihr, aber sie fühlte sich fremd und suchte nach ihrer lieblichen Mutter. Leider ohne Erfolg.

In der Folgezeit wurde Bettina verhaltensauffällig. Sie schwänzte die Schule und klaute Klamotten, die sich sich von ihrem Taschengeld nicht leisten konnte. Mit Mühe schaffte sie ihren Realschulabschluss und begann dann die Lehre zur Buchhändlerin. Sie hatte immer gerne gelesen, und dieser Beruf wäre das richtige für sie. So stellte sie es Gudrun jedenfalls dar.

Bettina unterlag oft Stimmungsschwankungen. An einigen Tagen war sie schüchtern und in sich gekehrt, an anderen Tagen wurde sie wütend und laut. Sie war schnell beleidigt und fühlte sich von der Welt missverstanden. Gudrun entschuldigte das mit Bettinas Lebensgeschichte und gab sich alle Mühe, hörte ihr zu, tröstete sie.

Irgendwann begann Bettina ein Verhältnis mit ihrem verheirateten Abteilungsleiter. Es wäre die große Liebe, und er würde sich scheiden lassen. Davon war sie überzeugt. Selbst Gudrun konnte dafür kein Verständnis aufbringen und redete ihr ins Gewissen: „Denk an deine Ausbildung! Schlag dir den Mann aus dem Kopf. Der läßt sich nicht scheiden.“ Bettina war beleidigt und sprach zwei Tage kein Wort mehr mit Gudrun. Als die Ehefrau des Abteilungsleiters in die Buchhandlung kam und Bettina vor den Kunden wütend und lautstark zur Rede stellte, kam es zum Eklat. Die Geschäftsleitung hielt Bettina für nicht mehr tragfähig, dennoch gab man ihr die Möglichkeit, die Lehre in einer Filiale des Unternehmens zu beenden.

Gudrun hielt das für eine gute Idee und malte Bettina aus, welche Chancen sich ihr damit eröffnen würden: ein neues Umfeld, neue Kollegen, das Leben in der Großstadt. Viele Möglichkeiten, die sie für sich nutzen konnte. Bettina schmollte wie ein Kleinkind und fühlte sich mal wieder von der Welt missverstanden. Gudrun sicherte ihr zu, dass sie in jeder Situation auf ihre Unterstützung zählen könnte, auch wenn sie zukünftig zweihundert Kilometer entfernt wohnte. Bettina schien überzeugt, packte ihre Siebensachen und zog um. Sie würden bestimmt in Kontakt bleiben. Bettina rief tatsächlich noch einige Male an, dann brach der Kontakt ab. Gudrun nahm es als gutes Zeichen, vermutlich hatte Bettina das gefunden, wonach sie gesucht hatte.

Jetzt rief Bettina plötzlich wieder an nach der langen Zeit. Gudrun wollte natürlich wissen, wie es ihr ginge, wie ihr Leben aussähe. Bettina überschüttete sie mit einem Wortschwall: sie hätte ihre Lehre beendet, wäre dann zu einem anderen Unternehmen gewechselt. Da hätten ihr die Kollegen nicht gefallen, und da hätte sie wieder gewechselt. In der neuen Firma hätte ihr Chef sie sexuell belästigt, und dann hätte sie gekündigt. Jetzt wäre sie arbeitslos. Ein Online-Buchversand hätte ihr einen Halbtagsjob angeboten, aber den wollte sie nicht, weil das unter ihrem Niveau wäre.

Bettina redete fast dreissig  Minuten lang ohne Punkt und Komma. Natürlich fühlte sie sich wieder von der ganzen Welt mißverstanden, das hatte sich in den letzten Jahren nicht geändert. Das einseitige Gespräch war für Gudrun anstrengend, und sie versuchte, die Informationen zu ordnen. Was sie gehört hatte, gefiel ihr nicht, aber sie entschuldigte es mit Bettinas Lebensgeschichte.

Die Anrufe kamen dann öfter, auch spät am Abend. Bettina erkundigte sich nie, wie es Gudrun ging, sondern erzählte immer von ihren eigenen Problemen. Die Ratschläge, die Gudrun ihr gab, überhörte sie einfach. Dieter war genervt: „Gudrun, brech den Kontakt zu dieser Frau ab. Sie will sich nichts sagen lassen. Sie ist wie ein Vampir, der anderen Menschen die Kraft aussaugt. Sieh das endlich ein.“ Gudrun nickte. Wahrscheinlich hatte ihr Mann recht, aber sie wollte Bettina nicht im Stich lassen. Das konnte sie nicht. Es entsprach nicht ihrem Wesen.

Bettinas Geschichten wurden immer abenteuerlicher. Sie bemerkte Kratzspuren an ihrer Wohnungstür und glaubte, dass jemand versucht hätte, bei ihr einzubrechen. Ab sofort würde sie ein großes Küchenmesser auf ihren Nachttisch legen, um sich verteidigen zu können. Dann hätte ihre Nachbarin, eine liebe ältere Dame, sie bespitzelt und überwachte jeden ihrer Schritte. Außerdem hätte sie mit Sicherheit einen Gehirntumor.

Selbst Gudruns Geduld und Langmut reichten nicht mehr, um den permanenten Wortschwall zu ertragen. Sie merkte, dass sie an ihre Grenzen kam: „Bettina, ich kann dir nicht mehr helfen. Du brauchst dringend einen Fachmann. Such dir einen Pschychotherapeuten.“ Bettina war beleidigt und rief einige Zeit nicht mehr an.

Dann meldete sie sich wieder. Sie hatte einen Therapeuten gefunden, und die ersten Sitzungen waren sehr gut und hatten ihr geholfen. Gudrun atmete auf. Bettina erzählte weiter: „Du, der Mann ist einfach süß. Wie er mich anschaut. Ich habe mich in ihn verliebt. Er erwidert meine Gefühle, da bin ich mir sicher. Es ist die große Liebe, glaub mir.“

Gudrun war fassungslos. Sie sah eine weitere Katastrophe auf Bettina zukommen, war aber nicht mehr gewillt, die sonderbare Aktionen mit ihrer Lebensgeschichte zu entschuldigen. Relativ barsch sagte sie: „Bettina, reiße dich zusammen und mach die Therapie. Der Therapeut ist nicht in dich verliebt, das bildest du dir ein. Ein Therapeut wird sich nie auf eine Beziehung mit seiner Patientin einlassen, weil er es nicht darf. Hast du mich verstanden?“ Bettina war beleidigt. Gudrun verstand sie nicht. Niemand verstand sie, die ganze Welt hatte sich gegen sie verschworen. Dieter legte in einer bezeichnenden Geste den Zeigefinger an die Stirn: „Bettina gehört in die Klapse.“ Insgeheim gab Gudrun ihm Recht, auch wenn sie dabei ein schlechtes Gewissen hatte.

Eines Abends rief Bettina wieder an und weinte fürchterlich. Sie hatte ihrem Therapeuten gesagt, dass sie ihn liebte. Er hatte ihre Gefühle nicht erwidert und ihr die Adresse einer Kollegin gegeben, von der sie sich weiter behandeln lassen könnte. Zwischen ihm und ihr bestand keine Basis mehr für eine erfolgreiche Therapie.

Gudrun seufzte innerlich. Sie hatte die Katastrophe kommen sehen. Sie wusste keinen Rat mehr. Bettina hatte sich einen „Gift-Cocktail“ gemischt, wie sie sagte. Sie wollte sich umbringen, es hatte alles keinen Zweck mehr. Gudrun redete ihr zu, sie sollte sich in therapeutische Behandlung begeben. Dort könnte man ihr helfen, es gäbe sicher einen Ausweg, und viele gute Kliniken, wo sie einen stationären Aufenthalt beantragen könnte. Bei den Formalitäten würde sie ihr auch gerne helfen. Bettina legte einfach auf. Dieter war nicht zuhause, und Gudrun wusste nicht, was sie tun sollte. Sie machte sich große Sorgen.

Sie erinnerte sich plötzlich, dass Bettina einen Bruder erwähnt hatte, der auch in der Stadt wohnte, in der sie lebte und arbeitete. Sie griff zum Telefonbuch und telefonierte einige Nummern ab, dann hatte sie Bettinas Bruder tatsächlich am Telefon. Er reagierte genervt: „Ach, meine Schwester will sich mal wieder umbringen? Ist ja nicht das erste Mal. Passen Sie auf, Bettina ist wie ein Vampir. Sie will sich nicht helfen lassen und saugt die wenigen Menschen, die noch zu ihr stehen, bis aufs Blut aus.“

Gudrun war irritiert, der eigene Bruder hatte Bettina einen Vampir genannt. Und sie hatte sich ja auch manchmal ausgenutzt gefühlt. Die ganzen fruchtlosen Gespräche, bei denen Bettina nur Gudruns Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Ihre Probleme waren der Nabel der Welt gewesen, und Gudrun hatte immer wieder darauf reagiert. Das gestand sie sich in diesem Augenblick ein, und dabei hatte sie kein schlechtes Gewissen. Trotzdem bat sie Bettinas Bruder, nach seiner Schwester zu sehen. Er kam noch rechtzeitig. Bettina wurde ins Krankenhaus gebracht, und man pumpte ihr den Magen aus.

Zwei Tage später rief Bettina aus dem Krankenhaus an. Gudrun war erleichtertet, als sie die Stimme ihrer Freundin hörte, riet ihr dringend, solange im Krankenhaus zu bleiben, wie es nötig war. Bettina bat Gudrun, ihr einige Sachen für das Krankenhaus zu besorgen. Der Notarzt hatte sie sofort eingeliefert, und sie hatte nichts. Gudrun kaufte ein Nachthemd, Toilettenartikel, ein paar Süßigkeiten. In das Päckchen legte sie auch noch einen Umschlag mit Geld, damit Bettina telefonieren konnte. Dazu schrieb sie einen liebevollen Brief, in dem sie Bettina ihre Hilfe und Unterstützung zusicherte.

Einige Tage später rief Bettina an, gegen den Rat der Ärzte hatte sie sich selbst entlassen. Gudrun konnte dies nicht gutheißen, bemühte sich allerdings um Verständnis, fragte, ob Bettina jetzt eine Therapie machen wollte. Sie könnte immer noch auf ihre Unterstützung zählen. Unvermittelt brüllte Bettina los: „Ich nehme es dir übel, dass du meinen Bruder angerufen hast. Das Nachthemd, das du mir geschickt hat, ist einfach häßlich. Und die blöden Süßigkeiten habe ich gleich ins Klo geworfen.“

Das war zuviel, selbst für einen Menschen wie Gudrun. Bettina keifte weiter, niemand würde sie verstehen, alle wollten ihr doch nur Böses, und sie brauchte keine Therapie, weil sie allen Menschen überlegen wäre. Als Bettina kurz Atem holte, sagte Gudrun einfach: „Ruf mich nie wieder an. Du bist es nicht wert, dass ich mich weiter um dich kümmere. Du bist ein Vampir, der anderen Menschen die Kraft aussaugt. Und du wirst leider immer ein Vampir bleiben.“ Dann legte sie auf. Dabei spürte sie ein extremes Gefühl der Erleichterung. Vampire würde sie nie mehr in ihr Leben lassen.

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