Friedrich leitete die Versorgungsabteilung für Lebensmittel und Konsumgüter für Arbeiter in einer kleinen Industriestadt Kasachstans, er gehörte sozusagen zu den „hohen Tieren“. Er war der Vater einer der besten Schülerinnen, deren Klasse ich leitete. Er wohnte im Nebenhaus, seinen Dienstwagen sah ich öfter als ihn. Friedrich war ein vielbeschäftigter Mann. Seine Wahl in den Elternrat lehnte er aus Zeitmangel ab. Er empfahl seine Frau und versprach Unterstützung. Er half beim Renovieren, füllte Tüten mit Geschenken für Väterchen Frost. Als seine Familie in die Bezirksstadt umzog, verlor sich unser Kontakt.
Das Schicksal bestimmte zum Glück, dass wir uns nach Jahren in Berlin wiederfanden. Friedrich war nun Rentner, hatte viel freie Zeit, wir sahen uns öfter und hatten uns viel zu erzählen. Nostalgische Geschichten, mehr oder weniger lustig oder traurig, dennoch kostbar. Friedrich war ein begnadeter Erzähler. Eine seiner Geschichten aus unserem sowjetischen Alltag beeindruckte mich, ich schrieb sie auf.
Die Geschichte beginnt in Moskau. Dorthin führten Friedrichs Dienstreisen, im Ministerium für Innen- und Außenhandel traf er den usbekischen Kollegen Nazim. Beide übernachteten im selben Hotel, ihre Zimmer lagen nebeneinander. Abends saßen sie sich in der Bar, bei armenischem Cognac, russischem Wodka, moldawischem oder georgischem Wein. Friedrich und Nazim leisteten sich auch ausländische Spirituosen, Tokaier zum Beispiel. Sie unterhielten sich auf Russisch und freundeten sich an. Eines Tages lud Nazim ihn ein. „Komm das Wochenende zu mir nach Taschkent, entspann dich in meinem großen Haus und Garten, es ist alles da. Taschkent ist eine wunderschöne Stadt! Und Sonntag fliegst du nach Hause.“ Warum nicht, überlegte Friedrich und rief sofort seine Frau an.
Sie nahmen die erste Aeroflot–Maschine am Samstag und landeten vier Stunden später in Taschkent. Vor ihnen die Wolga im Sonnenlicht. Nazim strahlte und führte Friedrich stolz durch den Garten, vorbei an Obst- und Nussbäumen, Beerensträuchern, Kräuter- und Gemüsebeeten, Weinreben in das zweistöckige Familienhaus, auf der Terrasse lagen Teppiche. Friedrich besaß nichts Vergleichsbares, kein Haus, keinen Garten, keine Wolga. Er bewunderte seinen Gastgeber. Und freute sich, als ihm endlich auf der Terrasse ein Korbstuhl angeboten wurde. Ein kaltes Getränk mit Zitrone servierte ihm eine schlanke Frau in einem bunten langen Gewand mit Kopftuch, das am Dutt verknotet war, sie verbeugte sich beim Betreten der Terrasse, bewegte sich geräuschlos und geschmeidig. Friedrich traute sich nicht zu fragen, ob sie stumm sei. Es verschlug ihm die Sprache, als die Frau eine mit Wasser gefüllte Schüssel vor Friedrichs Füße stellte. Blitzschnell tauchte die Frau seine Beine in das Wasser und begann sie zu waschen. Friedrich dachte, wie gut, dass ich die Socken ausgezogen habe, als ich die mit Teppich ausgelegte Terrasse betrat. Als er seine Sprache wiederfand, fragte er Nazim: „Was soll das? Das ist mir peinlich!“ – „Wieso? Das muss dir keineswegs peinlich sein. Das ist unser Brauch. Dem Gast unseres Hauses werden die Füße gewaschen.“ – „Aber das kann ich doch selbst, das muss keine Frau machen.“ erwiderte Friedrich. „Du verstehst nicht, mein Freund, es ist die Pflicht der Frau, dem Gast diese Ehre zu erweisen.“
Nazim bat Friedrich an den niedrigen runden Tisch aus Kasachstan. Aha, ging es Friedrich durch den Kopf, jetzt darf ich mit sauberen Füßen an den Esstisch. Das hat eine gewisse Logik, denn man sitzt im Schneidersitz. Trotzdem, meine Frau würde das nie tun.
Wieder eilte die Frau auf die Terrasse, sie trug ein schwerbeladenes Tablett. Es duftete nach starken Gewürzen, gebratenem Fleisch, auf dem aufgetürmtem gelben Reis thronte Lammfleisch, das berühmte usbekische Plow. Es folgten Salate, eingelegtes Gemüse und selbstverständlich Wodka zum Anstoßen, den schenkte Nazim ein. Etwas stimmte nicht. Nazims Schnapsglas blieb leer. „Wieso?“ fragte Friedrich irritiert. „Ich darf nicht.“ – „Du darfst nicht? In Moskau hast Du doch immer, sogar gestern noch getrunken. Was ist passiert?“ – „Begreif doch, in meinem Hause darf ich keinen Alkohol trinken.“ Friedrich schaute Nazim perplex an. „Dann trinke ich auch nicht.“ Nazim rief etwas auf Usbekisch, sofort erschien seine Frau und verschwand sogleich wieder, kurz darauf betrat die Terrasse ein junger Mann. „Das ist mein Neffe, der trinkt mit dir.“ Friedrich verging die Lust auf Alkohol, er stieß aus Höflichkeit einmal an und wandte sich dem duftenden Plow zu, dem Ruf nach der beste in der Sowjetunion.
Friedrich blieben schöne Erinnerungen an die Stadt und die Gastfreundschaft an diesem Wochenende in Taschkent. Aber auch widersprüchliche Gefühle, nie hätte er vermutet, dass Nazim ein Doppelleben führte. Friedrich akzeptierte andere Religionen, Rituale und Traditionen. Aber einem gebildeten Menschen wie ihm war es unbegreiflich, wie Nazim mit seiner Ehefrau umging. Auch in mein Bild vom Sowjetmenschen der 70er, 80er Jahre passte es nicht, aber ich glaubte ihm. Mein türkischer Nachbar in Berlin, dessen Tochter mit einem älteren Cousin in der Türkei zwangsverheiratet wurde, erklärte mir: „Hier bin ich Europäer, hinter meiner Tür bin ich Türke. Ich bin Moslem.“ Übrigens, seine Frau kocht auch das betörend duftende Reisgericht Pilaw.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.06.2019.
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