Manfred Gries

Zwei seiten einer Münze

Zwei Seiten einer Münze


Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde - so steht es in der Bibel. Und alles, worüber wir nachdenken, ist: Stimmt das? Niemand sucht den Himmel oder die Erde im eigenen Bewusstsein. Die Befürworter leben im Himmel ihre Phantasien aus und die Kritiker suchen nach Gründen, warum das Leben stattfindet. Ja, stattfinden ist wahrscheinlich die beste Vokabel, die unseren Zustand beschreibt. Den Zustand zwischen Himmel und Erde.

An diesem Morgen fehlte Eddie in der Andacht, die für die Versammelten selbstverständlich geworden war. Eddie, der sich mit Geistern gut auskannte und dessen Verstand stets wach war für die kleinen Dinge des Lebens. Etwas spät in den Schlaf gekommen, war er zur Unzeit erwacht. Der Frühstücksraum war aufgeräumt und das Geschirr wieder im dafür vorgesehenen Schrank verstaut. Alle saßen in der kleinen Kapelle und hörten dem Prediger zu, was Gott an diesem Tag an wunderbaren Dingen für die Gläubigen bereit hielt. Übrigens - wie das bei Predigern so ist - waren alle Dinge reine Vermutung und Eddie hasste Vermutungen. Für ihn musste alles logisch sein, denn das Leben war für ihn nur ein Teil seiner kleinen Welt, die an diesem Morgen von Hunger geprägt wurde. Er setzte sich an den leeren Frühstückstisch und wartete das Ende der Andacht ab - lauschte den Klängen, die aus der Kapelle zu ihm drangen. Halleluja - das war das Zeichen, dass nun Bewegung in sein Leben kommen würde. Denn mit Halleluja endete jeden Morgen die Andacht in der kleinen Kapelle, die Eddie als “Himmel“ bezeichnete. “Erde“ war für ihn immer der Ort, an dem er sich gerade befand. Und dort gab es nichts zu essen.

Mit dem Verklingen des Hallelujas betraten nach und nach die Gesättigten den Frühstücksraum. Eddie lächelte. Sein “Haldol“ getrübter Blick - er hatte gerade einen Schub - begrüßte jeden Einzelnen persönlich auf der Erde im Frühstücksraum. Und jedem Einzelnen stand die Frage auf dem Gesicht geschrieben: “Warum hast du nicht an der Andacht teilgenommen?“ Eddie wartete geduldig ab, bis sich alle versammelt hatten. Dann stand er auf. Die Gedanken der Anwesenden schweiften noch im Himmel, als die Worte aus Eddies Mund fielen: “Wer nichts zu essen bekommt soll auch nicht beten.“ Niemand verstand ihn so wirklich, denn der Himmel war eigentlich woanders und Essen gehörte nun einmal zu den Regeln auf dieser Erde. Und die galt es einzuhalten. Das war zumindest auf den Gesichtern der Botschaftsempfänger abzulesen. Verbal folgte der Aussage Eddies nichts. Jeder drehte sich um und ging seinem Tagwerk nach.

Eddie selbst richtete sein Augenmerk auf das Mittagsessen, das für ihn nun Linderung versprach. Bis zu diesem Zeitpunkt blieb er am Tisch sitzen, beobachtete die Zeichen am Himmel, die das Mittagsessen ankündigen würden und Gott lächelte. Eigentlich hatte er sich das alles nicht so gedacht. Aber verantwortlich war er schon für Eddie und die Andächtigen. Und so sorgte er dafür, dass Himmel und Erde auf eine Münze geprägt wurden. Eine Münze mit zwei verschiedenen Seiten. An diesem Tag kamen die Andächtigen dem Paradies einen Schritt näher und Eddie wartete geduldig auf das Ausrollen der Münze, die Gott geworfen hatte, um allen Beteiligten Recht zu geben. Gegen Mittag beendete sie ihre Bewegung neben dem Stuhl, auf dem Eddie saß. Und alle schauten auf das Ergebnis.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.08.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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