Um die Zeit bis zum Dienstbeginn zu überbrücken, beschloss ich, in den Gropius-Passagen bei Kropp schön in Ruhe Fisch zu essen. Um diese Zeit ist es dort für gewöhnlich voll, doch ich hatte Glück. Eine ältere Dame machte gerade Anstalten aufzubrechen, und ich ließ mich an ihrem Tisch nieder. Sie wünschte mir nicht nur höflich „Mahlzeit!”, sondern sagte freundlich: „Lassen Sie es sich schmecken!” Kommunikativ wie ich bin, dankte ich ihr sofort. „Leider schmeckt ’s mir immer zu gut”, sagte ich ohne Koketterie. Ein Wink auf meine üppige Figur. Das hätte ich lieber unterlassen sollen, denn nun wurde die alte Dame gesprächig. „Na, ja, ich kann nicht mehr so viel essen wie früher.” Und das war erst der Anfang.
Dreimal können Sie raten, was folgte. Ein vierzigminütiger ausführlicher Bericht über ihre böse Magenerkrankung einschließlich aller anderen Wehwehchen. Wie konnte ich, bitte schön, mittendrin aufstehen und gehen? Nein, ich hatte in Kasachstan eine gute deutsche Kinderstube genossen. Ich sage das ohne Ironie. In meinem Elternhaus wurde ausschließlich deutsch gesprochen und ein respektvoller Umgangston mit Menschen jeden Alters, Aussehens und gesellschaftlichen Status gepflegt. Während meiner zweiten Pause, bei Kassler und Sauerkraut, hörte ich mir Einzelheiten ihrer Kreislaufprobleme an, eine längere Geschichte. Meine Tischnachbarin war ohnmächtig geworden im Laden, das passierte ihr häufiger in engen geschlossenen Räumen. Wie sollte sie einkaufen? Ich riet ihr zu einer Haushaltshilfe. Den Rat kannte sie schon. Man will ja schließlich unter Leute! Musste sie die unbedingt in den Gropius-Passagen treffen? Doch das sagte ich lieber nicht. Auch ich mag keine überfüllten Passagen, trotzdem gehe ab und zu dorthin. Ich muss da einfach hin als Nord-Neuköllnerin, zu den Geschäften, die es in meiner Umgebung nicht gibt. Früher gab es auch auf der Karl-Marx-Straße drei LEISER-Geschäfte, heute kann ich dafür Tag und Nacht hier Döner essen. Doch zurück zu der alten Dame mit den Kreislaufproblemen, die blass vor mir saß. Der Notarzt hatte ihr empfohlen, ein Glas Wasser zu trinken, eine halbe Stunde auszuruhen und dann nach Hause zu fahren. Ihr Glas war schon lange leer, mein Teller sowieso. Ich bot höflich an, sie zur Tür zu begleiten, doch sie lehnte ab. Glaubte sie etwa, ich wollte bezahlt werden für meine Hilfe oder – Gott bewahre! – schlimmer noch, dass ich ihr die Handtasche stehlen würde?
Nie wieder Mittagspause in diesen Passagen schwor ich mir. Ich fasste Mut, stand auf und ging. Trotzdem, die Frau tat mir leid. Irgendwann geht es mir vielleicht wie ihr? Ich kenne einen Rentner, einen ehemaligen Kollegen, der nie geheiratet hat. Er schwärmte: „Du musst Leute ansprechen, dann triffst du die interessantesten Typen.” Er erzählt jeden Tag einem anderen die immer gleichen Geschichten. Ich freue mich für ihn.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.07.2019.
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Jesus und das Thomasevangelium: Historischer Roman
von Stephan Lill
Einige Tage nach seiner Kreuzigung und Auferstehung
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