Helga Sievert

Himmel aus Seide (7) Überflüssig

Überflüssig

Meine Eltern hatten sich vor zwei Jahren scheiden lassen und nun hatte meine Mutter einen anderen Mann kennen gelernt. Der war vor kurzem zu uns gezogen. Meine Mutter meinte, ich solle nun Vater zu ihm sagen, aber ich weigerte mich. Immerhin liebte ich meinen leiblichen Vater über alles und ich nannte diesen fremden Mann Onkel Fritz. Aber er war nun mein Stiefvater und einige Wochen, nachdem er zu uns gezogen war, eröffnete mir meine Mutter, dass sie zu einer Kur vom Müttergenesungswerk fahren würde. Deshalb sollten mein kleiner Bruder Klaus-Dieter, der damals 2 Jahre alt war, und ich in ein Kinderheim fahren. Es sollte in den Sommerferien geschehen, damit ich in der Schule nicht zuviel versäumen würde.

Der Tag der Abreise kam und ich lief morgens noch zu Kuddel rüber, um mich zu verabschieden. Kuddel hatte einen seltsamen Blick, ganz liebevoll, aber voller Trauer. Ich sagte ihm, dass ich doch nur für vier Wochen wegfahren würde und dann wieder mit ihm zusammen sein könne. Er lächelte ein trauriges Lächeln und kein spitzbübisches Zwinkern war in seinen Augenwinkeln. Wenn ich etwas haben wolle, solle ich es ihm schreiben, er würde mir dann ein Paket mit all den Sachen, die mein Herz begehrten, schicken. Das fand ich prima und wollte es hemmungslos ausnützen. Schon bei der Abreise kamen mir die leckersten Süßigkeiten in den Sinn, die ich von ihm geschickt bekäme.

Meine Mutter und der Stiefvater fuhren meinen kleinen Bruder und mich in die Harburger Berge. Die gehören noch zu Hamburg, sind aber sehr weit weg von meinem Stadtteil. Mit der Bahn und dem Bus hätten wir einen Weg von über zwei Stunden zu bewältigen. Aber der Stiefvater hatte einen VW-Käfer und so fuhren wir durch ein großes Tor, einen Hügel hinab zu einem großen, alten, mit Schiefertafeln gedeckten Haus. Dort hieß es Abschied nehmen. Mein Bruder wurde von einer großen, in weiß gekleideten Frau einfach auf den Arm genommen und von mir weg über einen dunklen , mindestens zweihundert Meter langen Weg zu einem anderen Haus getragen. Mein Bruder schrie wie am Spieß meinen Namen und ich hörte ihn die halbe Nacht nach mir schreien. Das hat mich derart aufgeregt, dass ich versuchte aus dem Haus zu kommen und zu ihm zu gelangen, aber die Türen waren abgeschlossen und es gab für mich kein Entkommen.

Am Morgen saß ich im Frühstücksraum an einem Tisch mit sechs anderen Kindern. Ich kam mir verloren vor und hatte Angst. Mein Platz war an einer Stirnseite des Tisches und rechts von mir saß ein kleiner, schmächtiger Junge. Alle Kinder sahen zu mir herüber und schienen nur darauf zu warten, dass ich anfangen würde zu weinen, aber ich hielt mich tapfer und als der Griesbrei auf die Teller verteilt wurde, fing ich einen Blick von dem Jungen rechts neben mir auf, der besagte: „Ich bin schneller mit meinem Brei fertig als du.“ „Pöh, das wollen wir doch erst mal sehen," dachte ich und ohne uns abzusprechen, packte jeder von uns den Löffel und in einer Geschwindigkeit, die alle meine alten Rekorde schlug, hatte ich den Griesbrei in mich hineingeschaufelt. Egon, der Junge der versucht hatte sich mit mir zu messen, hatte gerade mal die Hälfte geschafft und schaute fassungslos auf meinen leeren Teller, dann erntete ich einen bewundernden Blick von ihm und damit waren die Machtverhältnisse ein für alle mal geklärt.

In diesem Heim durften wir den ganzen Tag draußen ohne Aufsicht herumtollen. Es war ein riesiges Gelände und sehr hügelig. Das kannte ich noch nicht. Für mich waren es Berge, die ich mit einer Kraft in den Beinen und einem Affentempo hoch rannte, um dann kurz zu verschnaufen, mich umzublicken, den nächsten Hügel erblickte und dann wieder hinabstürmte, um ohne anzuhalten den neuen Hügel wieder zu erklimmen. Das konnte ich über Stunden durchhalten und wurde es nicht müde. Alles dies wollte ich Kuddel zeigen, ihn bitten mit mir hier herzufahren, wenn ich wieder zu Hause sein würde. Jede Geheimecke wollte ich ihm zeigen und alle die Verstecke, wo ich mit Geheimnissen beschriebene Schiefertafeln versteckt hatte.

Auf dem Gelände waren viele Stellen, an denen wir uns Höhlen bauten und später bauten wir uns mit alten Wolldecken eine Indianerwohnung. Um immer Süßigkeiten zu haben, ging ich in das Hauptgebäude und half dort beim Abtrocknen. Danach durfte ich in die Riesendose greifen und so viele Bonbons, wie ich fassen konnte, mitnehmen. Welch ein Gefühl! Plötzlich konnte ich unheimlich viele Bonbons mit einem Griff fassen und stolz trug ich meinen Schatz in unsere Indianerbehausung. Dafür war ich natürlich auch der Häuptling und durfte alle anderen schikanieren.

Es hätte eine unbeschwerte, glückliche Zeit sein können, ich hatte kein Heimweh, bekam Post und Pakete von Kuddel und alle Kinder und Erwachsenen liebten mich, wenn nicht da das Drama mit meinem kleinen Bruder gewesen wäre. Immer, wirklich immer, wenn ich nur in die Nähe des großen Haupthauses kam, hörte ich ihn jammern und meinen Namen wimmern. Es schnitt mir ins Herz und manchmal stellte ich mich heimlich in die Gebüsche am Spielplatz für die Krabbelkinder und beobachtete ihn, wie er wimmernd im Sand saß und nach mir jammerte.

Eines Tages wurde es der Kindergärtnerin zuviel und sie nahm ihn hoch und klopfte ihm heftig auf den Po. Er kreischte und ich kam wie ein Racheengel aus dem Gebüsch geschossen, riss ihr den Jungen aus dem Arm und küsste und herzte ihn, tröstete ihn so gut ich konnte. Die Frau wurde sehr, sehr böse auf mich und wollte ihn mir wieder wegnehmen. Doch ich schrie sie an, dass sie ihn geschlagen hätte und das es ja kein Wunder sei, dass er so jammerte, wenn er doch nicht zu mir durfte und das doch alles war was er wollte. Ich würde jetzt immer hier bei ihm bleiben und mit ihm spielen. Mein Bruder lehnte wie ein Säugling mit dem Kopf an meinem Hals und hatte Schluckauf. Irgendwie schaffte es die Kindergärtnerin mit Hilfe einer anderen, mir den Kleinen zu entreißen. Diese spitzen Schreie von ihm werde ich mein Leben lang nicht vergessen und so ging es wieder die ganze Nacht, über all die Meter bis zu meinem Schlafsaal hörte ich ihn nach mir schreien, bis das Schreien in ein langgezogenes Heulen überging und irgendwann nur noch Wimmern zu hören war.

Am nächsten Tag kam meine Betreuerin zu mir, nahm mich beiseite und versuchte mir zu erklären, warum ich nicht zu meinem Bruder durfte. Ich sah das überhaupt nicht ein und gebärdete mich wie toll, doch sie sprach nun ein Verbot aus und weil ich sie so mochte und sie immer so nett zu mir gewesen war und wollte, dass das so blieb, versprach ich ihr mich nicht mehr am Spielplatz oder in der Nähe meines Bruders blicken zu lassen. In mir war ein Gefühl als hätte ich ihn verraten und ich drängte es beiseite, immer und immer wieder, doch ich hielt mich an mein Versprechen.

Nun war ich schon vier Wochen hier und meine Mutter kam nicht um uns abzuholen. Aber dafür bekam ich anderen Besuch. Kuddel und Tante Emmy waren plötzlich da und ich fühlte mich wie im Himmel, als ich in seine Arme flog und ihn heftig umarmte. Wir wollten uns überhaupt nicht mehr loslassen, so sehr hatten wir uns vermisst. Tante Emmy hatte Tränen in den Augen und küsste und herzte mich und sagte, wie groß ich geworden wäre und wie hübsch und überhaupt wie sehr sie sich freue mich so wohlauf zu sehen.

Wir gingen zum großen Haupthaus, denn sie wollten natürlich auch den Klaus-Dieter abholen und dann mit uns ins nächste Cafe gehen und Torte mit Schlagsahne essen. Hach, da gab es eine Marzipantorte und die wollte ich unbedingt probieren. Doch im Haupthaus wurde uns gesagt, dass wir Klaus-Dieter nicht mitnehmen durften und schon hatte er wieder meine Stimme gehört und fing an zu kreischen und konnte sich nicht mehr beruhigen. Wir standen unten am Fenster und da sah ich Kuddel weinen. Schnell wandte er sich Richtung Waldweg und Tante Emmy nahm mich an die Hand und sagte, dass wir nun zum Cafe gehen wollten, doch ich war sehr erschrocken, dass Kuddel weinte, wo ich ihn doch noch nie habe weinen sehen, auch nicht als er aus dem Krankenhaus gekommen war, weil er einen Schlaganfall erlitten hatte.

Nun wollte ich Kuddel alle meine Geheimecken zeigen, aber Tante Emmy erklärte mir, dass das nicht ginge, denn Kuddel könne ja nicht so laufen wie ich und seit seinem Schlaganfall konnte er nur noch sehr langsam gehen. Ich sah das natürlich ein und so erzählte ich das alles, voller Lebendigkeit und Freude, aber auch Bedauern, weil er es ja nun nicht mit eigenen Augen sehen konnte.

Nach einigen Stunden fuhren sie wieder nach Hause und in mir blieb eine Wehmut zurück, nun doch auch wieder nach Hause zu wollen und abends bei ihnen in der Küche am Tisch zu sitzen, fast sehnte ich mich danach wieder unter dem Küchentisch zu verschwinden und dort zu hocken, ihnen zuzuhören wie sie sich unterhielten. Doch dazu war ich natürlich schon zu groß, aber ich hätte es doch zu gerne wieder gemacht.

Endlich, nach sechs Wochen, einen Tag bevor meine Schule wieder begann, kamen meine Mutter und mein Stiefvater ganz unverhofft und holten uns ab. Als mein Bruder mich sah, fing er sofort wieder an zu weinen, doch ich nahm ihn der Erzieherin einfach aus dem Arm und er drückte sich selig in seine Kuhle an meinem Hals. Auch als meine Mutter ihn nehmen wollte, fing er sofort an zu quengeln und klammerte sich an mich. Sie war so klug es nicht weiter zu versuchen, verzog nur gekränkt die Lippen und bekam einen harten, schmalen Strichmund, ihre Augen blickten leidend, so als wäre alles Leid auf sie abgeladen und merkte gar nicht, dass all dieses Leid bei meinem Bruder war. Später sollte ich dann erfahren, dass meine Mutter nicht im Müttergenesungswerk gewesen war, sondern mit ihrer neuen Liebe eine lange Reise unternommen hatte und nach vier Wochen noch keine Lust gehabt hatte uns nach Hause zu holen. Deshalb hatten wir zwei Wochen länger in diesem Heim bleiben müssen, was für mich nicht schlimm gewesen war, aber für meinen kleinen Bruder eine unendliche Qual, die größte bisher in seinem kurzen Leben und später, als wir erwachsen waren und ich so einiges begriff, wusste ich, dass er ein Trauma dabei erlitten hatte.

Als wir zu Hause waren, wollte meine Mutter mit uns schön Kaffeeklatsch machen und mich überreden zu meinem Stiefvater nun nicht mehr Onkel Fritz zu sagen, wo er doch so lieb zu uns sei und so viele Spielbälle mitgebracht hatte. Doch ich weigerte mich und sah ihn nur hasserfüllt an und bestand darauf nun endlich zu Kuddel gehen zu können. Sie hatte meinem Willen nichts entgegenzusetzen und hatte wohl ein schlechtes Gewissen. Das fühlte ich, konnte es aber nicht deuten. Ich nutzte es erbarmungslos aus und so bekam ich meinen Willen und durfte den restlichen Tag und Abend bei Kuddel verbringen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.08.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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