Helga Sievert

Himmel aus Seide (8) Das Ende

Erstarrung

Als ich vierzehn Jahre alt war, kam es zu einem schrecklichen Streit zwischen Kuddel und mir. Ich kann mich nicht erinnern, je mit ihm gestritten zu haben, umso schlimmer habe ich dieses empfunden. Vielleicht wollte ich, auf dem Weg ins Erwachsenwerden, mich auch nur mal durchsetzen, anderer Meinung sein, jedenfalls ging ich danach sehr wütend nach Hause und war sehr, sehr trotzig. Es ging ums Rauchen. Kuddel hatte sein Leben lang geraucht und später, als er Durchblutungsstörungen in den Beinen bekam, zwar nur noch wenige Zigaretten am Tage geraucht, aber er hatte es niemals aufgegeben.

Mich hatte man einige Tage vor diesem Streit beim heimlichen Rauchen erwischt und in der damaligen Zeit war das noch ein ungeheures Verbrechen. Eine Fürsorgerin kam zu uns ins Haus und teilte dies meiner Mutter mit. Die hatte nichts anderes zu tun als das auch Kuddel und Tante Emmy zu erzählen und Kuddel machte mir Vorwürfe. Ich wäre noch zu jung zum rauchen und überhaupt wäre rauchen schädlich. Ich war wütend, weil er ja selber rauchte, und deshalb hatte ich natürlich Widerreden. Er war sehr, sehr aufgebracht und an diesem Abend schieden wir im Streit, obwohl ich am nächsten Tag mit der Schulklasse nach Sylt verreisen würde.

Am Morgen dachte ich noch daran vielleicht schnell um die Ecke zu laufen und Kuddel und Tante Emmy tschüss zu sagen. Doch ich schämte mich noch immer etwas wegen des Streites am Vorabend, so stockte mein Schritt zwar, als ich an der Ecke Hellbrookstraße vorbei kam, ein leichtes Zögern nur, aber mehr auch nicht. Ich holte tief Luft und ging mit meinem Koffer zum Bahnhof, bestieg die S-Bahn und fuhr zum Hauptbahnhof, wo ich meine Klassenkameraden traf und schon hatte ich ihn vergessen, denn jetzt sollte es los gehen, nach Sylt, eine unbeschreibliche Reise für mich.

Es erwartete uns ein hübsches kleines Schullandheim am Rande der Dünen und dahinter brauste das Meer. Ich konnte es nicht erwarten dort hin zu kommen und sobald sich Freizeit ergab, gingen meine Freundin und ich durch die berühmten Sylter Dünen dem Meer entgegen. Es war ein wunderschöner Tag, heiß und wie geschaffen für neue Abenteuer. Und dann sahen wir es, das Meer, in flaschengrün ungebändigt und wild. Mein Herz öffnete sich und ich stürzte über den breiten Strand dem Wasser entgegen. Dort hatte ich das Gefühl endlich tief durchzuatmen und ich dachte, dass Kuddel noch nie verreist war, jedenfalls nie weit weg. Nur einmal zu seiner Schwester am Stadtrand von Hamburg auf der anderen Seite der Elbe. Aber das hier hatte er noch nie gesehen und ich wünschte ihn mir her. Jetzt, auf der Stelle sollte er sich das mit mir zusammen anschauen. Ich nahm mir vor, alles für ihn tief in mir aufzunehmen und ihm später davon jede Einzelheit zu erzählen, wie die Wellen sich aufbäumten, am oberen Rand ganz hell, fast durchscheinend wurden, dann umschlugen und sich schäumend und brausend am Strand brachen. Von dem Geräusch, das sie dabei machten konnte ich nicht genug bekommen. Ja, ich wollte ihn überreden mit Tante Emmy an die Nordsee zu fahren, das würde ihnen sicher gefallen.

Die Tage in der Vogelkoje, so hieß das Schullandheim, waren erfüllt von Freude und einer ersten, zarten Verliebtheit in einen Jungen unserer Klasse, doch immer wieder dachte ich an Kuddel und machte mir Gewissensbisse, dass ich morgens nicht mehr rüber gegangen war um tschüss zu sagen. Ich schämte mich und traute mich auch nicht ihm eine Ansichtskarte zu schicken.

An einem Abend, es war den ganzen Tag schon eine besondere Stimmung unter uns Mädchen gewesen, lagen wir im großen Schlafsaal und jemand fragte mich ob ich nicht etwas singen wolle. Und ich sang das Lied Mamatschie von Lys Assia. Am Ende des Liedes als es im Text heißt: Mamatschie, Trauerpferde wollt ich nicht, wurde mir plötzlich sehr elend. Als ich geendet hatte, hörte ich einige Mädchen leise weinen und ich selber hatte einen dicken Kloß im Hals und wusste nicht, wie mir eigentlich war. Selbst am nächsten Morgen war ich noch bedrückt. Ich ging nach dem Frühstück runter zum Meer und es tobte ein Sturm. Auch in mir tobte es, ich kauerte mich in die Dünen und schaute dem wild gewordenen Meer zu, wie es schäumte und gegen den Strand donnerte. Aus meiner Mulde heraus schaute ich weit über den Horizont und mir wurde ganz seltsam zumute. Ich dachte an Kuddel und es schien als sähe ich ihn am Horizont. Er war mein Fernziel, zu dem ich heimkehren konnte, wenn ich von dieser Reise zurück käme. Dann stand ich auf und ging entschlossen zum nächsten Kiosk, kaufte eine Ansichtskarte mit einem süßen Seehund darauf, beschrieb sie mit Worten, die nicht stimmten, denn es ging mir nicht gut und ich hatte irres Heimweh, verdrehte alles und behauptete, dass ich hier eine tolle Zeit hätte und schickte sie an Kuddel und Tante Emmy. Danach fühlte ich mich etwas erleichterter und es waren ja auch nur noch ein paar Tage, dann wäre ich wieder bei ihnen und wenn ich auch schon zu groß wäre um mich auf seinen Schoß zu setzen, so konnte ich mich doch in seine Arme drücken und seine tröstende Nähe fühlen.

Doch es kam keine Post von ihm und auch nicht von Tante Emmy. Eine Karte bekam ich von meiner Mutter, in der sie mir schrieb ich solle auf mich aufpassen und nichts mit einem Jungen anfangen, was mir schon wieder total auf die Nerven ging. Keine Grüße von Kuddel und auch sonst Totenstille. Am Tag der Abreise wurde ich wieder sehr unruhig innen drin und unsicher ob ich direkt zu ihnen gehen sollte. Wenn er vielleicht noch sauer auf mich war? Aber nein, dass konnte nicht sein, er hatte mich lieb und war nie böse auf mich gewesen. Ich konnte nicht verstehen, warum er nicht geschrieben hatte. Also war er doch böse auf mich?

Der Zug lief im Hauptbahnhof ein und keiner war da mich abzuholen. Egal, ich konnte auch mit zwei meiner Klassenkameraden nach Barmbek fahren. Dort angekommen ging ich zielstrebig Richtung Kuddel. Jetzt noch durch den Rübenkamp und dann bin ich da. Ich stellte mir vor, wie er sich freuen und mich verschmitzt anlächeln würde. Doch wieder stockte mein Schritt, als ich an der Ecke zur Hellbrookstraße stand und wieder zögerte ich und wieder ging ich nicht die paar Schritte zu seiner Wohnung, sondern bog in unsere Straße ein nach Hause. Dort klingelte ich, doch keiner öffnete mir. Ich stellte also meinen Koffer vor die Tür und wollte nun doch zu Kuddel. Je näher ich seiner Wohnung kam, desto langsamer wurde mein Schritt. Was war nur mit mir los? Mein Herz klopfte laut und meine Beine zitterten so merkwürdig. Nein, so konnte ich nicht einfach bei ihnen auftauchen, also kehrtgemacht und zu meiner Freundin Christl. Die war zwar auch nicht zu Hause, aber die Mutter ließ mich ein und ich wartete am Fenster bis ich das Auto meines Stiefvaters sah.

Als er mich auf sich zukommen sah, traf mich sein giftiger Blick und er schien wütend zu sein, weil er mich vom Hauptbahnhof abholen wollte und ich schon weg gewesen sei. Ich stellte mich dumm und ging gar nicht darauf ein, aber mir war trotzdem seltsam mulmig. Dann fragte er ob ich denn schon bei Tante Emmy drüben gewesen sei. Unsicher verneinte ich kleinlaut und plötzlich wusste ich instinktiv was los war. Mir sackten fasst die Beine weg, als ich seinen seltsamen Blick sah. Und dann trafen mich seine ungeschickt hervorgebrachten, schonungslosen, gefühllosen Worte, wie eine Keule. Kuddel war vor zwei Wochen gestorben, an dem Morgen als ich zur Klassenreise aufgebrochen war und mich nicht mal mehr von ihm verabschiedet hatte.

Es traf mich wie ein Schlag in den Magen und ich versteinerte. Alles in mir war taub, meine Gedanken schienen nicht mehr zu fließen und mein Körper war plötzlich wie aus Holz. Ich dachte, ich müsse doch jetzt weinen, aber in mir regte sich nichts. Überhaupt nichts, ein großes Nichts. Sogar der Hass auf meinen Stiefvater war verschwunden, ich sah ihn als eine kleine, graue Figur neben mir stehen und verschloss mich vor der Welt.

Eine Stunde später kam meine Mutter nach Hause und sagte, dass ich nun zu Tante Emmy gehen solle, sie würde schon auf mich warten. So ging ich taub und steif zu ihr rüber und sie nahm mich in die Arme und weinte und schluchzte. Doch ich blieb stocksteif und schämte mich etwas, weil ich nicht weinte, weil ich überhaupt kein Gefühl in mir hatte.

Sie erzählte mir, dass Kuddel an dem Morgen als ich zur Klassenreise aufgebrochen war, einen dritten Schlaganfall erlitten hatte, ins Krankenhaus gekommen sei und zwei Tage später gestorben war.

Als ich abends in meinem Zimmer schlaflos am Fenster stand, begann es zu regnen und ich dachte, das passt gut, denn ich wollte auch gerade weinen. So schlug mir der Regen ins Gesicht und ein trocknes Schluchzen kam ganz tief aus mir, doch die Dämme wollten nicht brechen. Das passierte erst viele Jahre später, als ich erwachsen war und an seinem Grab stand. Da endlich konnte ich weinen und es war so hemmungslos, so tief, so voller Liebe und Verlust, wie ich nie in meinem Leben aus Wut oder Verletztheit geweint hatte und ich hockte im Gras vor dem schäbigen Sandstein, auf dem sein Name stand, aber noch nicht mal das Wort Kuddel und am liebsten hätte ich es dort eingeritzt, denn dort lag Kuddel, mein Kuddel, der Engel meiner Kindheit.

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