Christiane Mielck-Retzdorff

In einer schwülen Nacht

 

 

Kyra stieg aus dem Nachtbus und hatte vor Müdigkeit Schwierigkeiten, das Gleichgewicht auf ihren 10 cm hohen Stilettos zu halten. Sie arbeitete zwar in einer seriösen Bar, deren Publikum sich mehrheitlich aus gelangweilten Geschäftsleuten zusammensetzte, trotzdem oder gerade deswegen bestand ihr Chef darauf, dass sich die ausschließlich weibliche Bedienung figurbetont kleidete und hohe Schuhe trug. Der Anblick von attraktiven Frauen steigert eben die Laune der Gäste und damit deren Bereitschaft länger zu verweilen und mehr zu konsumieren. Keiner von ihnen wusste wohl, wie qualvoll es für die Bedienung war, stets lächelnd mit schmerzenden Füßen umher zu flitzen und die Wünsche nach kühlen, alkoholhaltigen Erfrischungen zu erfüllen.

Bemüht, trotzdem auf den letzten Metern ihre Würde zu bewahren, erreichte Kyra jene Gasse, an deren Ende das Haus stand, in dem sie wohnte. Schon lange war dort die Straßenbeleuchtung ausgefallen. Zum Glück zeigte ihr das schwache Licht vor ihrer eigenen Eingangstür den Weg. Die Herausforderungen des Kopfsteinpflasters hatte sie auch im Stockfinsteren gelernt zu bewältigen. Außer dem gleichmäßigen Klacken ihrer Absätze auf den Steinen, war kein Laut zu hören.

Es herrschten die hohen Temperaturen, die Meteorologen veranlassten, von einer tropischen Nacht zu sprechen. Deswegen waren Kyras Körperstellen an Beinen, Armen und dem Dekolleté nicht bedeckt. Ihre langen Haare hatte sie hochgesteckt, wobei diese Frisur schon etwas an Halt verloren hatte und sich einzelne Strähnen lösten. Das verlieh ihrer Erscheinung eine verwegene Note.

Diesen Weg legte Kyra nach Mitternacht beinahe täglich zurück. Es war Routine. Sie sehnte ihr Zuhause herbei, den Moment, in dem sie endlich ihre Füße aus den Folterinstrumenten befreien konnte. Die sie umgebende Dunkelheit fütterte ihre Müdigkeit. Deswegen bemerkte sie wohl auch nicht das kurze Aufblitzen einer Glut. Im Dunkel eines Hauseingangs stand ein Mann, rauchte eine Zigarette und beobachtete die attraktive Spätheimkehrerin. Eine schwarze Katze streifte lautlos um seine Beine.

 

***

 

Erst als Thomas aus der verräucherten Kneipe an die frische Luft trat, wurde ihm bewusst, dass einer der letzten Cocktails allem Anschein nach schlecht gewesen sein musste. Ihm war etwas schwindelig und seine Umgebung zeigte Doppelbilder. Mehrmals atmete er tief durch, womit sich sein Zustand etwas besserte. Erleichtert erspähte er das Auto, einen Sportwagen, der sein ganzer Stolz war, nur wenige Meter entfernt. Da er diesen erst seit wenigen Tage besaß, war Thomas noch nicht an dieses Geschoss auf vier Rädern gewöhnt. Nach Mitternacht herrschte kaum Verkehr auf der vierspurigen Straße und es waren nur ein paar Kilometer bis zu ihm nach Hause. Warum also sollte er seinen neuen Liebling der Gefahr eines Diebstahls aussetzen?

Die Technik ersparte ihm, mit seinem Autoschlüssel mühsam zu versuchen, das für diesen vorgesehene Loch zu treffen. Der schlummerte in seiner Hosentasche und er brauchte sich seinem Wagen nur zu nähern, damit sich die Fahrertür entriegelte. So einfach hatte es ihm das alte Auto nicht gemacht. Stolz auf sein neues Gefährt stieg Thomas ein.

Der Knopf für die Startautomatik war groß genug, um ihn auch bei Doppelsichtigkeit im ersten Anlauf zu treffen und der Motor lief. Wo war der Knopf für die Klimaanlage? Hatte der Wagen nun Schaltgetriebe oder Automatik? Ein Blick auf den Knüppel in der Mittelkonsole bewies ihm, dass er sich für das sportlicher Schaltgetriebe entschieden hatte. Wie stellte er nun den Rückwärtsgang ein, der ihn von dem Parkplatz auf die Straße beförderte? Nach kurzer Überlegung war es Thomas wieder eingefallen. Er drehte den Kopf nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass sich kein weiteres Auto zu dieser Zeit auf der Straße herumtrieb.

Thomas setzte zurück, doch bremste sofort wieder, als er das Quietschen von Reifen neben sich hörte. Ein gelber Kleinwagen war kurz vor einer Kollision mit dem Sportwagen zum Stehen gekommen. An dessen Steuer saß eine junge Frau, die mit entsetztem Blick auf die Situation starrte. ‚Noch mal gut gegangen. ‘, freute sich Thomas, lächelte die Frau an und gab ihr Zeichen vorbeizufahren. Diese schien jedoch unter Schock zu stehen. ‚Dumme Henne. ‘, dachte er und wurde langsam böse, weil er nach Hause wollte. Seine eben noch freundliche Miene verzog sich zu einer hasserfüllten Fratze. Das erschreckte die unschuldige Fahrerin so sehr, dass sie vorsichtig um den Sportwagen herum fuhr, um dann mit Vollgas davon zu brausen. ‚So wie die heizt, baut sie noch einen Unfall. ‘, dachte Thomas, fuhr rückwärts auf die Straße und gab seinen starken Pferden die Sporen.

 

***

 

Es war schon nach Mitternacht als die Eheleute, Susanne und Herbert Maiwald den Fernsehen ausstellen, um ins Bett zu gehen. Beide mussten am nächsten Tag nicht früh aufstehen, weil sie arbeitslos waren. Wie jeden Abend warf Susanne Maiwald noch einen kurzen Blick in das Zimmer ihres vierjährigen Sohn Roman, um sich zu vergewissern, dass der Kleine ruhig schlief.

Natürlich machte sie dabei nicht das Licht an, trotzdem bemerkte die Mutter sogleich, dass Romans Bett leer war. Das Fenster stand sperrangelweit offen. Vermutlich musste ihr Sohn noch mal pinkeln. Also ging sie zum Badezimmer, wo Herbert Maiwald, ihr den Rücken zudrehend, vor dem WC stand und hineinstrullte.

„Wie oft muss ich Dir noch sagen, dass Du dich hinsetzen sollst.“, herrschte sie ihn an. „Wo ist Roman?“

„Hier nicht.“, war die gleichgültige Antwort.

„Wer hat das Fenster in seinem Zimmer aufgeschlossen und geöffnet?“, fragte die Frau aufgebracht.

„Ich. Es war ziemlich heiß in seinem Zimmer. Er braucht doch frische Luft.“

„Von der Hauptstraße kommen doch nur Abgase.“

„Nun reg Dich wieder ab.“, forderte ihr Mann, während er die letzten Tropfen von seinem Pimmel abschüttelte. „Roman schlief doch schon und es herrschte draußen kaum Verkehr.“

Die Mutter hastete durch die 2 ½ Zimmer Wohnung auf der Suche nach ihrem Sohn, wobei sie immer wieder dessen Namen rief und schließlich mit drastischen Strafen drohte, wenn er nicht aus seinem Versteck herauskam. Doch Roman erschien nicht.

Nun gesellte sich auch ihr Mann zu ihr und sagte nur: „Dieser Lausbub.“, wobei er offensichtlich etwas stolz auf seinen Sohn war.

„Herbert, der Junge ist weg. Wir wohnen im Erdgeschoss und es ist ein leichtes, in Romans Zimmer einzudringen, ihn im Schlaf zu überrumpeln und zu entführen. Diese Pädophilen schrecken doch vor nicht zurück.“

„Nun bleib mal ruhig, Susanne. Vielleicht ist er nur aus dem Fenster gekrabbelt und erforscht neugierig die Gegend.“

„Aber das ist doch gefährlich.“, wand die Mutter beängstigt ein.

„Also müssen wir wohl rausgehen und den Ausreißer suchen.“, stellte Herbert Maiwald nüchtern fest.

Zwei Stunden durchforstete das Ehepaar erfolglos die Umgebung, bis sie in ihre Wohnung zurückkehrten und die Polizei riefen.

 

***

 

Anke Schlüter wälzte sich schlaflos in ihrem Doppelbett. In so heißen Nächten bedauerte sie, den Einbau einer Klimaanlage bisher versäumt zu haben. Der Schlafplatz neben ihre war leer, eine Umstand, an den sie sich mittlerweile gewöhnt hatte. Anfangs fühlte sie sich unglücklich, wenn ihr Ehemann Wolfram nicht neben ihr lag, weinte oft, weil sie ahnte, dass der Grund für seine Abwesenheit eine andere Frau war.

Obwohl sie drei gemeinsame Kinder hatten, nahm Wolfram es seit Beginn ihrer Ehe nicht so genau mit der ehelichen Treue. Er sah gut aus, war als Steuerberater erfolgreich und zu solchen Männern gehörte einfach eine junge Geliebte. Ihre Freundinnen hatten sich mit dieser Tatsache arrangiert. Und so wandelten sich Ankes Gefühle über die Jahre von Enttäuschung über Wut bis zur Gleichgültigkeit.

Doch seit einiger Zeit hatte sich etwas verändert. Wolfram erwarb für sich und seine junge Geliebte eine Wohnung und verbrachte seine Nächte dort. Er war 56 Jahre alt, die gemeinsamen Kinder erwachsen, lebten im Ausland und er überdachte einen Neustart mit dieser anderen Frau. Auch das Wort Scheidung war schon gefallen.

Diese Vorstellung beängstigte Anke nicht etwa, weil sie ihren Ehemann noch liebte, sondern wegen der finanziellen Folgen. Sie hatte versäumt, eigenes Vermögen beiseite zu schaffen, war nie berufstätig gewesen, weil sie sich der Erziehung der Kinder gewidmet hatte. Als sie damals schwanger geworden war, hatte sie ihre Studium einfach hingeworfen und den Heiratsantrag von Wolfram angenommen. Mit nun 48 Jahren hatte sie ohne Abschluss und Berufserfahrung keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Als Witwe würde sie keine finanziellen Sorgen haben, doch bei einer Scheidung konnte ihr trickreicher Mann sein Einkommen als so niedrig darzustellen, dass Ankes Unterhalt kaum den Sozialhilfesatz übersteigen würde. Also wertete sie es als himmlisches Zeichen, dass sie kürzlich den Ausspruch hörte „Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen Menschen umbringen sondern nur, dass es so wenige tun.“

Als sie dann in einem Kriminalroman las, wie giftig alle Bestandteile des Maiglöckchens selbst im getrockneten Zustand sind, nistete sich in ihren Gedanken ein Plan ein. Da Wolfram seit Neustem, angeregt durch seine Geliebte, mit Begeisterung Smoothies, Mixgetränke aus Obst, Gemüse und Kräutern, zu sich nahm, wollte Anke ihm bei seinem morgigen Besuch so einen Drink, verfeinert mit reichlich getrocknetem Maiglöckchen, servieren. Da dessen Gift Herzrhythmus Störungen verursachte und ihr Mann schon länger Probleme mit dem Herzen hatte, würde sein Tod niemanden erstaunen. Über diesen beruhigenden Gedanken schlief Anke ein.

 

***

 

Als Kyra am nächsten Tag die U-Bahn besteigen wollte, wurde sie von einem Mann, der sich vorbeidrängelte, heftig angerempelt. Um Entschuldigung bat er nicht. ‚Die Hitze macht die Menschen wirklich aggressiv. ‘, dachte Kyra. Dieser Mann war der vollkommen übermüdete Thomas, der die Nacht auf einer Polizeiwache verbracht hatte.

Als er in seinem Sportwagen mit überhöhter Geschwindigkeit fast einen kleinen Jungen überfahren hätte und daher scharf bremsen musste, waren sofort die Beamten eines zufällig am Straßenrand haltenden Streifenwagens bei ihm. Doch anstatt sich darüber zu freuen, dass dem Kind nicht geschehen war, fragten diese, ob er Alkohol getrunken hatte. Thomas verneinte das, wurde aber trotzdem aufgefordert, in so ein Röhrchen zu pusten, welches frecher Weise einen hohen Alkoholwert in seinem Blut anzeigte. Thomas versuchte die Beamten durch Ausreden und dem Wedeln mit einem 100 Euro Schein zu beschwichtigen, doch sie bestanden darauf, ihn für eine Blutprobe mit auf die Wache zu nehmen. Warum musste ausgerechnet er an zwei so uneinsichtige Neidhammel geraten?

Den schicken Wagen musste er stehen lassen und in den Morgenstunden seinen Führerschein abgeben. Nun war er auf dem Weg zu einem Anwalt für Verkehrsrecht, weil er als Außendienstmitarbeiter eines großen Versicherungskonzerns sein Auto unbedingt brauchte. Der als ausgesprochen fähig bekannte Rechtsbeistand würde es schon richten.

Hastig stieg noch eine Frau mit einem widerborstigen, quengelnden Jungen in die U-Bahn. „Mama, warum muss ich denn mit? Beim Zahnarzt zu warten, ist so langweilig. Warum darf ich nicht bei Papa auf der Baustelle sein?“

„Roman, das habe ich Dir doch schon erklärt. Dein Vater hat zufällig diesen Aushilfsjob ergattert und kann sich bei der Arbeit nicht um dich kümmern.“

„Muss er doch auch nicht. Ich gucke einfach zu.“

„Wohin es führen kann, wenn Du unbeaufsichtigt bist, wurde uns heute Nacht hinreichend vor Augen geführt.“

„Du bist gemein. Es ist doch nicht passiert.“

„Zum Glück, aber nun sei endlich still oder du bekommst für mindestens eine Woche Stubenarrest.“

Anke Schlüter beobachtete diese Szene und lächelte. Heute Morgen hatte ihr ihre Tochter mitgeteilt, dass sie Oma wird. Sogleich hatte sie ihren mörderischen Plan verworfen, war nun auf dem Weg zu einer Scheidungsanwältin, die den Ruf hatte, die scheidungswilligen Männer bis aufs Blut auszupressen. Um diesen weiblichen Bullterrier bezahlen zu können, würde sie zwar ihren Schmuck verkaufen müssen, aber das war ihr die Sache wert.

Die anderen Fahrgäste schauten mehrheitlich stumm auf ihr Handy. Vor den Fenstern zogen die schmutzig dunkelgrauen Wände des Tunnels vorbei. Die U-Bahn hatte fast die Hälfte der Strecke bis zur nächsten Station hinter sich, als ein junger Südländer mit noch etwas flusigem Vollbart unbemerkt abrupt aufstand. Er trug eine, für die heißen Temperaturen, die auch im Zug herrschten, unangemessen bauschige Jacke. Seine Miene zeigte große Entschlossenheit. Doch dann wanderte der Schatten des Zweifels über sein Gesicht.

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.08.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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