Rainer Loewe

Die Heimat


Johannes St. hatte zum Klassentreffen eingeladen. Und nach langer Zeit war R. wieder einmal in OS, in der Stadt, in der er geboren wurde, die Kindheit und Jugend verlebte und nach der er im Geheimen immer noch Sehnsucht hatte. Warum eigentlich? Es waren wohl hauptsächlich die Erinnerungen, die ihn jedesmal überfielen, wenn er durch die Straßen ging, die ihm so bekannt und zugleich so fremd waren. Dort drüben, in diesem Haus, in dem jetzt ein Metzger seine Ware feilbot, hatte er braunen Kandiszucker, Bruchschokolade und Milch gekauft, die von der Inhaberin noch in die eigens dafür bestimmte Blechkanne gepumpt wurde, dort im Tante-Emma-Laden (der längst durch eine Frauenbuchhandlung ersetzt worden war) Süßigkeiten und Obst. Wo war bloß die Zeit geblieben? Er erinnerte sich plötzlich an Namen, Gebäude und Begebenheiten, die er schon längst vergessen zu haben glaubte.

Aber könnte er hier tatsächlich noch einmal zu leben anfangen? War da nicht diese gewaltige Lücke von über 20 Jahren, die eigentlich gar nicht zu schließen war? Es fehlte einfach etwas, und zwar das Erleben einer Fortentwicklung. So viel war in dieser Stadt passiert: die erste Liebe, der Zusammenbruch der elterlichen Firma, die Scheidung der Eltern ... Aber für ihn – den Besucher - war die Stadt stehen geblieben, seit er sie verlassen hatte, und er war eigentlich ein Fremder.

Abends ging er dann zum Klassentreffen. Viele seiner Klasse waren tatsächlich gekommen. Alle etwas behäbige Männer um die 45 herum, also in den „besten“ Jahren, gut situiert mit Familie, Kindern und Wohlstand - zumindest bei den meisten. Einige hatte es wohl erwischt. Sie waren nicht gekommen, und es ging das Gerücht, einer sei sogar im Pennerwohnheim gesehen worden und der andere sei „im Osten verschollen“. Bis 3 Uhr morgens hatten sie geredet - erst von banalen Dingen, dann - im kleineren Rahmen - von dem, was alle eigentlich wirklich interessierte: Hatten sich die Träume ihres ganz persönlichen Lebens tatsächlich erfüllt? Hatte sich dieses ganze Theater eigentlich gelohnt?

Er hatte in der R.s Wohnung geschlafen, der schon zu Gymnasiumszeiten sein Freund gewesen war. Am nächsten Morgen fuhr er wieder zurück nach HD - auf der einen Seite traurig, weil er den Ort verließ, der im Grunde seine Heimat war, auf der anderen Seite froh, wieder dorthin zu fahren, wo die Gegenwart und wahrscheinlich auch die Zukunft für ihn lag. Aber er würde bestimmt wiederkommen!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.08.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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