Claudia Savelsberg

Der Pelikan

Dorothea wuchs in einem kleinen Dorf in den bayerischen Voralpen auf. Ihre Eltern bewirtschafteten einen Bauernhof mit Hühnern, Rindern und Schweinen. Schon im Kindesalter half Dorothea mit, sie fütterte die Hühner und sammelte die gelegten Eier. Als sie älter wurde, half sie ihrem Vater beim Versorgen der Rinder und Schweine und bei der Ernte. „Unsere Dorothea kann zupacken wie ein Junge“, sagte der Vater anerkennend. Die Mutter machte sich manchmal Sorgen, weil Dorothea immer nur arbeitete. Sie äußerte nie einen Wunsch, es gab nichts, was sie für sich selbst haben wollte, weil sie immer zuerst an andere dachte. Dorothea schien keine eigenen Bedürfnisse zu haben. Ihre Großmutter, die mit dem Großvater auf dem Altenteil des Hofes lebte, war vor einigen Jahren gestorben. Der Großvater wurde krank und konnte das Bett nicht mehr verlassen. Er weigerte sich vehement dagegen, in ein Altenheim zu gehen: „Hier auf dem Hof bin ich geboren, hier will ich auch sterben.“ Also übernahm Dorothea wie selbstverständlich die Pflege des alten Herren, der bisweilen sehr schwierig sein konnte. Sie machte den Realschulabschluss, verzichtete aber auf eine Berufsausbildung. Ihr Leben schien klar vorgezeichnet. Irgendwann würde sie heiraten, Kinder bekommen und mit ihrem Mann den Hof bewirtschaften, wenn ihre Eltern zu alt waren. Sie verstand nicht, warum sich andere junge Frauen in ihrem Alter nach einem Leben in der Großstadt sehnten. Es reichte ihr, wenn sie zweimal im Monat in die Stadt fuhr, um größere Einkäufe zu erledigen und vielleicht mal in einem Straßencafé zu sitzen. Dann zog es sie wieder zurück in ihr Dorf. Es war ihr Leben, es waren die Traditionen, mit denen sie aufgewachsen war: der sonntägliche Kirchgang, die Prozessionen an katholischen Feiertagen, der Feuerwehrball, das Schützenfest. Überall engagierte sich Dorothea: sie schmückte den Altar jeden Sonntag mit frischen Blumen, sie verkaufte Lose für die Tombola des Feuerwehrballs, schenkte beim Schützenfest Getränke aus. Dorothea war immer da, man konnte sich auf sie verlassen. Sie war stets freundlich, hatte immer ein liebes Wort für ihre Mitmenschen, beklagte sich nie. Dorothea war die „gute Seele“ des Dorfes, das sagte selbst der Pfarrer voller Anerkennung.

Bei einem der jährlichen Feuerwehrbälle, die ein festlicher Höhepunkt im Dorfleben waren, lernte sie Sebastian kennen. Er arbeitete als Kfz-Mechatroniker bei einem Autohaus in der Stadt, seine Eltern führten im Dorf eine kleine Pension für Feriengäste. Für Dorothea und Sebastian war es Liebe auf den ersten Blick, nach einem Jahr heirateten sie. Die Hochzeit, zu der das ganze Dorf eingeladen war, wurde groß gefeiert. Vor der Kirche standen die Mitglieder der Feuerwehr Spalier, zur Feier im Festzelt spielten die Musiker des Schützenvereins auf. Nach der Hochzeit zogen sie in das Haus von Sebastians Eltern, wo sie sich eine gemütliche und geräumige Wohnung im Dachgeschoss ausgebaut hatten.

Dorothea stand jeden Morgen um 4 Uhr früh auf, trank schnell einen Kaffee und fuhr mit dem Rad zum Hof ihrer Eltern, um beim Versorgen der Tiere zu helfen. Dann fuhr sie nachhause, weckte ihren Mann und machte für sie beide Frühstück. Wenn Sebastian zur Arbeit gefahren war, ging Dorothea in die Pension ihrer Schwiegerelten, um dort das Frühstück für die Feriengäste vorzubereiten. Dann erledigte sie im kleinen Supermarkt des Dorfes die Einkäufe und kümmerte sich um ihren Haushalt. Später ging sie nochmals in die Pension, um die Zimmer für neue Gäste zu richten. Dann fuhr sie wieder zu ihren Eltern, half der Mutter beim Kochen und versorgte den Großvater. Die einzige Ruhepause, die sie hatte, war das gemeinsame Mittagessen mit den Eltern. Danach ging sie mir ihrem Vater auf die Weide oder in die Stallungen und half bei den anliegenden Arbeiten. Wenn sie wieder zuhause war, bereitete sie das Abendessen für ihren Mann vor, der gegen 19 Uhr von der Arbeit kam. Bei Tisch sprach Sebastian von seiner Arbeit, Dorothea berichtete von ihrem Tag. Dann tranken sie ein Glas Bier und schauten noch etwas Fernsehen. Damit war der Tag zuende, beide gingen früh zu Bett. Das war der tägliche Ablauf, der sich Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr wiederholte. Niemand hörte ein Wort der Klage von Dorothea, sie blieb freundlich und hatte immer ein liebes Wort für ihre Mitmenschen.

Auch nach der Geburt des Sohnes, den Dorothea und Sebastian auf den Namen Christian taufen ließen, änderte sich nur wenig an der täglichen Routine. Die Schwiegereltern hatten mittlerweile eine junge Frau eingestellt, die in der Pension half, sich um das Frühstück und die Zimmer kümmerte. Das war eine große Entlastung für Dorothea, die nach wie vor ihre Eltern bei der Arbeit auf dem Hof unterstützte. In dieser Zeit kümmerte sich eine Nachbarin um das Baby. Manchmal machte Dorothea sich Vorwürfe, fragte sich, ob sie ihrem Kind genug Zeit widmete. Aber der kleine Christian entwickelte sich prächtig, ein richtiger Sonnenschein, der offensichtlich das liebe und ausgeglichene Naturell seiner Mutter geerbt hatte. Wenn Sebastian nachhause kam, war er manchmal genervt und müde; denn die Auftragslage in der der Firma war nicht gut, Entlassungen wurden befürchtet. Das Abendessen nahmen sie bisweilen schweigend ein. Die Grenze der Belastbarkeit schien erreicht. Doch Dorothea blieb freundlich, aus ihrem Mund hörte man keine Klage.

So verliefen die Tage in Dorotheas Leben, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Die einzigen Höhepunkte in ihrem Leben blieben der Feuerwehrball und das Schützenfest. Zu diesen Gelegenheiten machte sie sich schick und schminkte sich sogar dezent. In die Stadt kam sie kaum noch; denn Sebastian konnte dort alles besorgen. Wenn sie die Feriengäste in der Pension ihrer Schwiegerelten sah, dann kam ihr zu Bewußtsein, dass sie noch nie Urlaub gemacht hatte. Nach der Hochzeit hatte sie mit Sebastian ein verlängertes Wochenende in einem „Romantik Hotel“ verbracht. Sie erinnerte sich noch an das luxuriöse Zimmer, den schönen Wellness-Bereich und die gemütliche Hotelbar.

Aber Dorothea vermisste nichts, sie hatte ihre Familie und ihr dörfliches Leben. Sebastian war mit seiner Arbeit zufrieden, und Christian hatte sein Abitur gemacht. Jetzt lebte er in der Stadt und studierte Physik. Er fehlte Dorothea, aber sie wusste, dass er mit einem Leben auf dem Dorf nicht glücklich würde. So gingen die Tage in Dorotheas Leben dahin, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Sie blieb freundlich, hatte immer ein liebes Wort für ihre Mitmenschen. Dorothea seufzte leise. Im Moment war es nicht einfach. Sebastian musste immer mehr Überstunden machen, wurde gereizt und nervös. Die Pension ihrer Schwiegereltern lief nicht mehr so gut, weil die Feriengäste Unterkünfte mit mehr Luxus bevorzugten. Außerdem würden ihre Eltern aufgrund ihres Alters den Hof nicht mehr lange bewirtschaften können. Hauptsache war, dass es ihrem Sohn gut ging, der kurz vor dem Studienabschluß standen. Dorothea war jetzt fast fünfzig Jahre alt, aber wenn sie in den Spiegel schaute, sah sie eine alte Frau, deren Gesicht von Sorgenfalten gezeichnet war. Wenn sie Urlauberinnen in der Pension beobachtete, die etwa in ihrem Alter sein mussten, fragte sie sich oft, wie diese Frauen so jung aussehen konnten. Sie hatten doch auch Sorgen, und das Leben in der Stadt war sicher nicht einfach.
Dorothea fühlte sich einfach nur müde, ausgelaugt und am Ende ihrer Kräfte. Sie wusste nicht mehr weiter. Schließlich rief sie den Pfarrer an und bat ihn um ein Gespräch. Der alte Herr war schon seit einigen Jahren im Ruhestand, galt im Ort aber immer noch als Autorität. Er hatte Dorothea getauft und getraut, ihm könnte sie sich anvertrauen. Die Haushälterin bat sie ins Wohnzimmer und servierte einen Kaffee. Dorothea sollte sich bitte noch etwas gedulden, der Herr Pfarrer käme gleich. Das Wohnzimmer war hübsch und gemütlich, aus den Fenstern, vor denen kleine Scheibengardinen hingen, konnte man in den Obstgarten sehen und am Horizont bis auf die Berggipfel. Hinter dem Schreibttisch stand ein alter Ohrensessel, in den Regalen viele Bücher. Dorothea schaute sich um und entdeckte zwischen den Bildern an der Wand eines, das sie besonders faszinierte. Es zeigte einen Vogel, der sich mit seinem Schnabel die Brust aufhackte und das Blut daraus fließen liess. Dorothea war irritiert und wandte ihren Blick schnell wieder ab. Dann kam der Pfarrer und begrüßte sie herzlich mit den Worten: „Mein Kind, was kann ich für dich tun?“ Dorothea begann zu reden ohne Scheu oder Angst. Erzählte von ihrem Leben, ihren Ängsten, Sorgen und Nöten. Ihren Selbstzweifeln. Hatte sie alles richtig gemacht? Hatte sie genug für andere Menschen getan? Was könnte sie noch tun? Der Pfarrer hörte ihr geduldig zu, ohne sie zu unterbrechen. Schon allein die Tatsache, dass ein Mensch ihr zuhörte, tat Dorothea gut. Sebastian liebte sie, aber wenn er abends nachhause kam, war er einfach zu müde, um sich mir ihr zu unterhalten, und beim Abendessen beschränkten sich die Gespräche auf das Tagesgeschehen und die Planung für den morgigen Tag. Die Schwiegereltern kannten kein anderes Thema als ihre Pension, und die Eltern sorgten sich um das Fortbestehen ihres Hofes. Die Menschen in Dorotheas Umgebung nahmen nicht wahr, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse hatte. Wie sollten sie auch? Es war keine böse Absicht. Dorothea war stets da, wenn man sie brauchte. Dorothea war die gute Seele, auf Dorothea war Verlass, sie schaffte alles. Sie beklagte sich nie. Dies alles erzählte sie dem Pfarrer. Sie wusste, dass er an seine Schweigepflicht gebunden war. Also hatte sie keine Angst, sich ihm zu offenbaren. Schließlich traute sie sich, nach der Bedeutung des Bildes mit dem Vogel zu fragen. Der Pfarrer erklärte es: „In einem frühchristlichen Tierkompendium heißt es, dass ein Pelikan-Weibchen sich die Brust mit dem Schnabel aufhackt, um mit dem Blut ihre toten Jungen zum Leben zu erwecken. Dieses Bild gilt als Symbol für grenzenlose Liebe und Aufopferung.“ Dorothea dankte ihm und verabschiedete sich. Als sie durch den Obstgarten bis zur Pforte ging, schaute der alte Herr ihr nach. Er hatte sie als Baby über das Taufbecken gehalten, er hatte sie getraut, er hatte ihren Sohn getauft. Er wusste, was sie alles geleistet hatte zum Wohl anderer Menschen. „Sie ist ein Pelikan“, dachte er. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit Sorge.
Dorothea wachte auf, weil Sebastian sich im Bett unruhig hin und her wälzte und im Schlaf sprach. Leise stand sie auf und griff zu ihrem Bademantel, dann ging sie hinunter in die Küche. Ein heißer Kakao mit Sahne wäre jetzt genau das richtige, dachte sie. Entschlossen zog sie den Gürtel des Bademantels etwas fester. Ja, im Moment war es nicht einfach, aber sie würde es schaffen. Sie hatte in ihrem Leben immer alles geschafft. Durch das geöffnete Küchenfenster wehte eine lauer Nachtwind, also entschied Dorothea, den Kakao auf der Veranda zu trinken. Sie schaute in den Himmel und nippte in kleinen Schlucken. Plötzlich wurde sie ruhig. Ja, sie hatte alles getan, was sie konnte. Mehr würde sie nicht tun können, und mehr musste sie auch nicht mehr tun. Mit einem sanften Lächeln sank ihr Kopf zur Seite. Ihr Herz hörte auf zu schlagen. Der Pelikan hatte seine Jungen gerettet, und jetzt war er ausgeblutet....

 

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