Norman Buschmann

Blutliebe

Blutliebe
I

55, 56, 57, 58, 59, 17 Uhr. Sarah hatte die letzten Minuten damit zugebracht, auf die Zeiger der kleinen Uhr im Armaturenbrett des Ford zu starren. Obwohl es keinen Sekundenzeiger gab, konnte sie anhand des tickenden Quarzwerkes die Sekundentaktung hören. Wenn nicht grade wieder ein Donnerschlag über dem Dach des Wagens explodierte oder sich die Wolken derart heftig entluden, das sie sich wie im Innern eines Aquariums vorkam. Seit annähernd drei Stunden saß sie nun schon hier in der unbequemen Enge des alten Ford Escord. Diesen Auftrag hatte sie sich wirklich anders vorgestellt. Und eigentlich wollte sie in knapp 24 Stunden auch schon wieder im Flieger über dem Kanal in Richtung Bremen sitzen. Mit einer Tasche voller Negativfilme, aus denen sie, den Wünschen ihres Kunden entsprechend, die Website kreieren konnte. Doch daraus würde nun wohl nichts mehr werden. Wie oft sie es schon versucht hatte, vermochte sie nicht zu sage. Resigniert wurde das Handy unverrichteter Dinge zurück auf die Rückbank geworfen. Dann würde sie den Kunden eben heute abend aus der kleinen Pension anrufen und ihm sagen daß sie noch mindestens einen weiteren Tag hier in England verbringen müßteUnd Dennis würde sie auch benachrichtigen müssen. Sarah griff erneut nach dem Handy, öffnete das Menü zur Erstellung einer Kurznachricht. Sie zuckte zusammen und wäre fast im Raum zwischen Fahrersitz und Pedalen verschwunden, als sich der Krach eines neuerlichen Donnerschlages direkt neben ihrem Ohr zu entladen schien. Das Handy fiel zu Boden und verschwand in der grauen Unwirklichkeit zwischen Sitz und Kaderntunnel.
„Scheiße, auch das noch.“
Ein Gefühl der Taubheit breitete sich strahlenförmig um ihren inneren Gehörgang aus, während die Ohrmuschel langsam anfing zu kribbeln.
„Phantastisch, nun bin ich nicht nur bis auf die Knochen durchnäßt, sondern auch halb taub. Großartig!“
Sie nestelte noch eine Zeit lang am Gurtschloß herum, in der Hoffnung, das Handy wieder heraus zu bekommen. Doch außer der Tatsache eines eingerissenen French-Dressed Fingernagels am rechten Ringfinger, einer kleinen Schnittwunde zwischen Zeige- und Mittelfinger kam nicht wirklich etwas positives dabei heraus.
„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“
Sie war wütend. Und das war angesichts ihrer momentanen Lage auch durchaus nachzuvollziehen. Sarah war 26, hatte lange rotbraune gelockte Haare, die sie meistens zu einem praktischen Zopf am Hinterkopf zusammen gebunden trug. Auch jetzt. Sie war recht schlank, gut proportioniert und brauchte sich vor der Öffentlichkeit keineswegs zu verstecken. Unter der dicken Daunenjacke, die sie trug, war ihr schlanker Körper momentan jedoch ebenso reizvoll verpackt, wie eine Ming-Vase in einem Karton voller Popcorn. Doch war diese Bekleidung angesichts des verheerenden Wetters mehr als angemessen. Sarah rieb beide Handinnenflächen über den klammen Stoff der nassen Cargo-Hose. Warum nur mußte sich das Wetter hier in England immer so sprunghaft verändern? Sarah schüttelte den Kopf und betrachtete den eingerissenen Fingernagel. Anschließend schaute sie sich im Innern des Wagens um. Ihr Blick fiel auf die mattschimmernde eingebeulte Thermoskanne, die links neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Mit klammen und geröteten Fingern griff sie danach, versuchte den schwarzen Plastikverschluß zu lösen. Es gelang erst beim dritten Versuch. Und auch da erst, als sie ein fleckiges Tuch aus der Jackentasche gezogen hatte. Das Ergebnis war ernüchternd. Der Inhalt der Kanne reicht nicht einmal aus, um den mitgebrachten Becher bis zur Hälfte aufzufüllen. Und von Wärme war der bräunlichen Flüssigkeit auch nichts mehr anzusehen. Sie preßte wütend die Lippen aufeinander, so das diese blutleer erschienen und nach wenigen Sekunden zu brennen begannen. Ihr war kalt, sie war durchnäßt bis auf die Knochen, hatte in der vorigen Nacht kaum geschlafen und derzeit nicht einmal ein funktionstüchtiges Handy zur Hand. Außerdem hatte sie die Schnauze voll vom launischen England und besonders von dessen Wetterumschwüngen. Konnte noch etwas schief gehen? Sie glaubte es nicht.
„Was soll’s? Ich muß wohl noch mindestens einen weiteren Tag hier verbringen. Dann kann ich jetzt auch Schluß machen und mich ins Bett legen.“
Sie wünschte sich nichts mehr, als eine warme Dusche. Noch besser, ein heißes Schaumbad. Anschließend würde sie sich in das gemütliche Bett legen und den versäumten Schlaf der vergangenen Nacht wieder auszugleichen. Sarah rieb die Handflächen aneinander und drehte am Zündschlüssel. Jetzt fehlte nur noch, das der Wagen nicht ansprang und sie die Nacht hier draußen in der Einöde verbringen mußte. Doch es gelang. Sogar gleich beim ersten Versuch. Jetzt trennte sie nur noch eine gut dreiviertelstündige Heimfahrt von der wohligen Wärme ihres gemütlichen Zimmers im älteren Randbereich von London. Worauf wartete sie noch? Der Wagen rollte ächzend los und beschleunigte mürrisch.

II

Der Regen hatte den unbefestigten Weg fast völlig aufgeweicht und in eine Wüste aus klebrigem Morast verwandelt. Sarah hatte einige Male Mühe, den Wagen in der Spur zu halten, wenn dieser versuchte dem Verlauf der matschigen Spuren zu folgen. Doch es gelang ihr keinerlei irreparable Schäden zu verursachen. Weder am Auto, noch der sie umgebenden Landschaft. Wenigstens auf einem teil der Strecke! Allmählich beruhigte sie sich wieder. Die Freude auf den vorzeitigen Feierabend und das entspannende Bad ermutigten sie dazu, ein wenig schneller zu fahren, als es die Umstände eigentlich zuließen. Der Wagen geriet ins Schlingern, ließ sich aber wieder einfangen und auf Kurs bringen. Eine riesige Wasserlache breitete sich vor ihr auf dem unebene Untergrund aus. Sarah schloß die Finger fester um das Lenkrad, so daß die Knöchel blutleer und weiß schimmerten, mit einem leichten Stich ins Gelbe. Der Ford sackte schräg nach vorne ab und brackiges Wasser stob zu beiden Seiten des Fonds auseinander. Es klatschte einmal, als eine Mischung aus modrigem Dreck und Wasser sich über die Frontscheibe ergoß und die beiden Drahtgestelle der Scheibenwischer für einen Moment inne halten ließ. Dann sackte die Hinterachse in das Loch und eine neue, wesentlich sanftere Flutwelle hüllte das Auto ein. Sarah hielt die ganze Zeit das Lenkrad umklammert, starrte auf die braunen Schlieren außerhalb der Windschutzscheibe und hoffte, sie würde hier nicht liegen bleiben. Ihr schossen die unmöglichsten Gedanken durch den Kopf. Hatte sie das Licht heute morgen aus gemacht? War die Tür verschlossen? Sie hüpfte auf dem schlicht gepolsterten Sitz hin und her, und prallte einmal mit dem Kopf schmerzhaft gegen das Dach. Durch den Sicherheitsgurt und die dicke Jacke wurde sie jedoch vor dem Gröbsten bewahrt. Innerhalb weniger Sekunden war es ruhig. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Der Motor erstarb unter ausstoßen eines glucksenden Lautes, der Regen schien plötzlich die Lust am Fallen verloren. Braungelbe Schlieren zogen sich über die Frontscheibe und auch den Rest der anderen Glasflächen. Alles war plötzlich so merkwürdig still. Sarah hielt die Luft an, lauschte einen Moment in sich hinein. Alles schien noch an seinem angestammten Platz und unversehrt. Das war auch gut so. Sie drehte am Zündschlüssel du trat auf die Pedale. Nichts rührte sich. Sie versuchte es erneut. Nichts. Nun schien wirklich das schlimmste eingetreten zu sein, das sie vorhin noch gedanklich verspottet hatte. Sie steckte fest. Oder, wie man hier in England zu sagen pflegte, I feel like a sitting duck! Ihre Stirn begann zu schmerzen und etwas warmes, klebriges rann ihr ins Auge. Sie betätigte den kleinen Schalter für die Innenbeleuchtung, doch auch der war tot. Dieser Auftrag schien sie wirklich an den Rand eines Nervenzusammenbruches zu treiben. Also griff sie in den Fußraum zu ihrer linken und zerrte den schwarzen Nylonrucksack daraus hervor. In diesem hatte sie immer eine Art Notfall-Kit eingepackt. Nach kurzem Tasten hielt sie die kleine Taschenlampe in Händen, einen Moment später das in Plastik eingeschweißte Päckchen mit Pflaster. So gut es die momentanen Umstände zu ließen, versorgte sie die Platzwunde an ihrer Stirn die Gott Lob nicht sehr tief war. Anschließend öffnete sie die Tür auf ihrer Seite und stand kurz darauf in einer annähernd zwanzig Zentimeter tiefen Pfütze. Das kalte Regenwasser lief ungehindert in ihre Schuhe und ließ die ihm inne wohnende Kälte gleichfalls in ihre Glieder überkriechen. Erneut staute sich Wut auf. Die Sonne war längst untergegangen, doch verhinderten die Bleiwolken am Himmel jeden noch so Lichtstrahl daran, Helligkeit auf diesen abgelegenen Flecken Erde zu schicken. Sarah hob resignierend die Arme, stieß mehrere ganz und gar undamenhafte Flüche aus und trat gegen den Reifen des Ford. Und als beobachte jemand das ganze Schauspiel, erklang ein dumpfes Grummeln vom Himmel. Sie blickte hinauf, sah wie sich die Wolken ineinander zu verschieben begannen. Hellgrau mischte sich mit der ungesunden Farbe kranker Feldmäuse. Bleigraue Wolkenfetzen trieben sie auseinander und nahmen deren Plätze ein. Ein feuchter, eiskalter Tropfen zerplatzte auf ihrer Wange. Sich zur Ruhe zwingend, stemmte sie die Fäuste in die Hüfte und überlegte fieberhaft, was sie nun machen sollte? Sie schien hier kilometerweit fernab jeglicher Zivilisation zu sein. Auf dem weg hier her war ihr diese Tatsache kaum bis gar nicht bewußt geworden, hatte sie doch mehr mit den Straßen- und Landkarten zu kämpfen gehabt, um überhaupt diese Stelle zu finden. Weitere Tropfen fielen und benetzten ihr Gesicht erneut. Schnell rannte sie um den Wagen herum, riß die Tür auf und griff nach dem Rucksack. Anschließend legte sie noch die dünne Freizeitjacke ausgebreitet über die Fotoausrüstung auf der Rückbank. Das Stativ ließ sie im Fußraum vor der Rückbank verschwinden. Nachdem sie alle Türen verschlossen hatte, stapfte sie durch das Wasser und den Strand aus klebrigem Morast. Es wurde dunkler und mit jeder Sekunde die verstrich, rückte der Gedanke an eine kalte und nasse Nacht in der freien Natur, ohne Zelt, in greifbarere Nähe.

III
Schien ihr dieses Mal das Glück vielleicht ein wenig holder gestimmt zu sein? Nach nicht einmal zehn Minuten war sie an eine Gabelung gekommen, auf der ein hölzerner Wegweiser stand. Er zeigte zwar nur noch in eine Richtung, da der andere schon vor etlichen Jahren abgebrochen zu sein schien, doch das war immerhin besser als gar nichts. Sarah strich sich eine dicke Strähne ihres nassen Haares aus dem Gesicht und las die eingeritzten Worte BLACKWING HOUSE . Jemand hatte sich außerordentlich viel Mühe gegeben, das Schild herzustellen. Und im Gegensatz zu dem von Moos und Flechten überwucherten Pfosten, an dem es angebracht war, schien sein Zustand wesentlich stabiler zu ein. Wie dem auch sei. Sie blickte sich um, versuchte sich einen markanten Punkt ins Gedächtnis zurück zu rufen, an dem sie auf der Hinfahrt vorbei gekommen war. Doch es gab keinen. Also schulterte sie erneut den Rucksack, blickte noch einmal zurück und setzte ihren Weg in die Richtung fort, die das Holzschild ihr vorgab. Der Weg führte sie in ein kleines, schnell dichter werdendes Wäldchen mit verkrüppelt wirkenden Bäumen. Kaltes Regenwasser schwappte bei jedem Schritt den sie tat aus ihren Schuhen. Sie hatte das Gefühl, als würde sie auf Wolken laufen. Zumindest versuchte sie es sich so vorzustellen. Wenn diese beißende Kälte nicht gewesen wäre, es hätte wirklich recht angenehm sein können. Die Bäume wurden noch dichter, der Weg unebener. Ein unangenehmes Gefühl des Beobachtetwerdens machte sich zwischen ihren Schulterblättern breit. Sarah hatte das Gefühl, als würde man ihren Körper mit einer Batterie unter Strom setzten. Es kribbelte und sie konnte fühlen, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken gegen eine unbekannte Kraft auflehnten. Sie blickte sich erschrocken um. Innerhalb der letzten Minuten hatte es merklich angefangen zu dämmern und es wurde mit jeder Minute ein wenig kälter. Wenn sie nicht schnellsten aus ihren nassen Klamotten heraus käme, würde sie sich den Tod holen. Warum nur ist sie ausgerechnet in diesen Wald gelaufen? Warum hatte sie nicht einfach den anderen Weg eingeschlagen? Den ohne Wegweise. Niemand würde freiwillig in ihrer Situation so etwas machen. Aber Sie! Hier schien es absolut nichts zu geben, was auch nur im entferntesten nach Hilfe aussah. Oder etwa doch? Sarah vollführte eine weitere Pirouette und versuchte in den grauen Schatten und nebligen Dunstwolken der Umgebung etwas zu erkennen. Allmählich begann sich Panik in ihr auszubreiten und sie glaubte Schatten, Gestalten, in den Nebeln umher wandern zu sehen. Der Regen hatte noch mehr zugenommen, es wurde noch kälter. Sarah blieb stehen, horchte angestrengt in die unermüdlich herauf ziehende Dunkelheit. Es knackte in der Entfernung und die Bäume knirschten im abendlichen Wind. Ssssaaaaaaaaaraaahhhhhhh! Ein einzelner, eiskalter Knochenfinger, überzogen mit einer Fingerkuppe aus gefrorener Panik berührte sie am Ansatz ihres Halses. Mit quälender Langsamkeit glitt dieser Finger ihre Wirbelsäule hinab, jede Kontur der verdeckt unter der Haut liegenden Knochen nachzeichnend. Sie fing an zu rennen. Über knorrige Äste hastend, die dank ihrer nassen Schuhsolen keinerlei Halt boten, brach sie durch das feuchte Unterholz. Immer wieder schlugen Äste in ihr Gesicht und ritzten blutige Striemen in die aufgeweichte Haut von Stirn und Wangen. Die stechenden Schmerzen bekam sie im ersten Moment gar nicht mit, sie war völlig der immer stärker werdenden Panik verfallen. Sie wollte nur noch hier heraus, zurück in die Schützende Enge des gemieteten Ford. Den Rucksack mit der Stabtaschenlampe hatte sie an irgend einer Stelle längst verloren. Auch davon hatte sie nichts mitbekommen, Panik trieb sie voran. Die Jacke war an zahllosen Stellen mit braungrünen Schrammen übersät. An anderen Stellen hatten spitze Äste das dünne Nylongewebe durchtrennt und die wattigen Innereien heraus gehebelt. Sarah zog eine dünne, aber dennoch sichtbare Spur synthetischer Schneeflocken hinter sich her. Ihr Mund stand weit auf, als wolle sie schreien. Doch ihr fehlte die Kraft dazu. Nur raus hier, raus aus diesem Wald. Raus! Als sie eine kleine mit Schlamm und faulem Holz bedeckte Anhöhe erklommen hatte, brach sie in die Knie zusammen und schnaufte. Ihr Atem rasselte und verließ unregelmäßig die Lungen. Ein imaginärer Vorhang aus bunten Schleiern und tanzenden Lichtpunkten schob sich in ihr Sichtfeld. Sie war dem Zusammenbruch nahe, stemmte sich jedoch wieder in die Höhe und rannte weiter. Die Kuppe lief hier ein wenig flacher nach unten aus und der Abstieg würde nicht annähernd so viel Kraft kosten wie der Aufstieg. Wo sie landen würde wußte sie jedoch nicht. Doch das war auch nicht weiter wichtig.
Ein unkontrollierter Schritt auf einen feuchten Teppich aus Moos und Laub ließ sie vorwärts straucheln. Endgültig zu Fall brachte sie erst das hervorstehende Wurzelgeflecht eines umgestürzten Baumes. Sarahs Oberkörper wurde abrupt nach vorne und dem Waldboden entgegen gerissen. Anders die Beine. Diese wurden in ihrer Bewegung durch eine modrige Klammer aus Holz gehemmt, so daß sie keinerlei Chance hatte, dem Sturz in irgendeiner Form entgegen zu wirken. Hart kollidierte die linke Seite ihres Gesichtsschädels mit einem armdicken Wurzelstrang. Sterne explodierten vor ihren Augen. Eine Supernova, schoß es ihr durch den Kopf. Dann versank ihr Geist in einer stinkenden Masse aus tiefschwarzem Teer

IV
Warm. Es war warm. Warm und feucht. Aber keineswegs unangenehm. Ein Gefühl der Entspannung hatte sich ihrer bemächtigt. Es war wunderbar. Es kostete ein wenig Mühe, die Lider zu heben, doch es gelang. Sie konnte jedoch nicht viel mehr als verwaschene, konturlose Schatten in Schwarz und Grau erkennen. Sarah schloß die Augen wieder und zählte innerlich bis fünf. Anschließend wiederholte sie ihren Versuch noch mal. Der Erfolg war ein geringer, aber dennoch zu erkennender. Die Schatten waren nun nicht mehr schwarz und grau. Statt der grauen Färbung hatte sich ein schmutzig trübes Gelb hinzugefügt. Konturen waren allerdings immer noch nicht zu erkennen. Auch glaubte sie, kleine schlangenähnliche Wesen auf ihrer Linse schwimmen zu sehen. So etwas hatte sie nur erlebt, als sie vor Jahren einmal durch das Mikroskop ihres kleinen Bruders geschaut hatte. Ihr drängte sich ein dumpfer Anflug von Übelkeit auf. Schnell schloß sie die Augen erneut, um dagegen anzukämpfen. Schade. So schön das Gefühl beim erwachen auch gewesen war, so schnell hatte es sich in das Gegenteil gewendet. Nur sehr langsam verebbte die Übelkeit wieder. Etwas fuhr über ihre Stirn, dann über die Wangen, das Kinn und ihren Hals. Warm? Feucht? Sie schwitzte. Ihr ganzer Körper schien von innen heraus zu glühen. Sie fühlte, wie der Schweiß in großen klebrigen Perlen auf ihrer Stirn emporstieg. Ein Gefühl, als streichle sie jemand mit einer Feder an der Schläfe entstand, als die Schweißperlen daran hinunter liefen und vom Stoff des großen Kissens aufgesogen wurden. Und da war noch etwas. Sarah konnte merkwürdige Laute hören. Dumpf und irreal drangen sie an ihr Gehör vor. War sie taub? Erneut öffnete sie die Lieder, Sie stemmte sie regelrecht auf und versuchte einen Punkt zu fokussieren. Das Geräusch unterbrach kurz, und begann von neuem. Nun ein wenig laute. Und da war auch schon wieder die feuchte Wärme, die eben ihr Gesicht gestreichelt hatte. Sarah erkannte zwei verwaschene Schemen am Rande ihres Gesichtsfeldes. Sie schaute darauf und ganz allmählich stellten sich weitere Verbesserungen in ihrem Sehvermögen ein. Sie war nicht alleine. Schatten huschten vor ihr hin und her. Sie vernahm das Rascheln von Stoffen, das tröpfeln von Wasser in einem Gefäß, das dumpfe, kaum zu verstehende Gemurmel von Stimmen. Ein tonnenschweres Gewicht lastete auf ihrer Brust. Und Sarah verspürte nicht den geringsten Anreiz, dieses Gewicht von sich zu rollen. Schlafen, schlafen, schlafen. Sie schloß wieder die Augen und fiel augenblicklich in einen tiefen, fiebrigen Schlaf.

V

Als sie die Augen aufschlug, war ein wundervoller neuer Tag erwacht. Das glaubte sie wenigstens im ersten Moment. Sie sah sich um und versuchte zu erkennen, wo sie war. Sie befand sich in einem Raum, dessen Größe ihr riesig erschien. Das Bett in dem sie lag war dem angeglichen. Ein so riesiges Bett hatte sie noch nie gesehen. Nicht einmal in dem Hotel, das sie vor kurzem mit Dennis besucht hatte, um dort ihre Verlobung zu genießen und ... noch ein paar andere Dinge mehr. Schlaftrunken drehte sich der Kopf auf ihren Schultern hin und her. Sie fühlte sich ausgeruht, aber trotzdem noch ziemlich benommen. Was war geschehen? Durch einen Spalt des geschlossenen Vorhangs am einzigen Fenster des Raumes, sickerte silberfarbenes Mondlicht, welches den Raum in einen staubigen Nebel zu hüllen schien. Das Bild, das sich ihr dadurch bot, glich einer uralten, ergrauten Photographie. Vor dem Fenster, welches bis auf den Boden reichte, war ein uralter Schreibtisch aufgestellt. Groß und wuchtig. Ein Armleuchter mit fünf brennenden Kerzen stand darauf. Ihr Kopf schwenkte träge in die andere Richtung. Gegenüber stand eine spanische Wand und der dazu gehörige Waschtisch samt Waschkrug und Porzellanschüssel. Und auch dieser war wesentlich wuchtiger und luxuriöser als alles vergleichbare, das sie bis dahin zu Gesicht bekommen hatte. Ein weiterer Armleuchter stand dort. Die Wände waren mit weinroten Tapeten verziert, an denen kunstvolle großformatige Ölgemälde hingen. Und bei Gott, das waren garantiert keine billigen Kunstdrucke. Die Decke, so schien es, hing etliche Dutzend Meter über ihrem Kopf. Nun, sie lag auch in einem Bett und war immer noch ein wenig neben sich. Da konnte man schon mal ein paar Fakten verwechseln. Und auch mit der Abschätzung einzelner Baumaße konnte es da ein wenig hapern. Außerdem war die Beleuchtung des Raumes alles andere als angemessen für derlei Beobachtungen. Wie dem auch war. Sie schaute weiter durch das Zimmer. Ihr Blick verharrte an einem gedrechselten Holzstuhl aus schwarzem Holz. Über dessen Lehne hing etwas, das sie eindeutig kannte. Ein unangenehmes Gefühl der Scham begann sich in ihr auszubreiten. Die Gegenstände, die dort hingen gehörten zu jenen, die sie nur eingeweihten unverhüllt offenbarte. Und das waren nicht sehr viele! Und auch auf dem Tisch daneben, ebenfalls mit gedrechselten Beinen und kunstvollen Schnitzereien verziert, bot ein vertrautes Bild an Gegenständen, mal abgesehen von einem dritten Kerzenständer, die sie kannte.
Sarah wischte sich mit der Handfläche über die Augen und glaubte auch beim zweiten Blick noch nicht so recht, was ihr dort gezeigt wurde. BH und String hingen über der Lehne des Stuhles. Allem Anschein nach gereinigt und beinahe künstlerisch mit dem Stuhl zusammen in Szene gesetzt. Pullover, Shirt und Hose waren ordentlich zusammengelegt. Ihre Socken hatte man, der Olive eines Comic-Sandwich aus Tom und Jerry ähnlich, oben auf drapiert. Die Schuhe standen ordentlich nebeneinander darunter. Nun senkte sie ihren Blick und die seidig glänzende Bettdecke kroch in ihr Blickfeld. Sie erkannte die wellenförmig an und abfallenden Formen des Stoffes, der sich um Füße und Schenkel schmiegte. Sie erblickte das Tal, das sich zwischen ihren leicht gespreizten Beinen gebildet hatte. Anmutig wölbte sich der Stoff über ihre intimste Stelle und zeichnete Hüften und Bauch nach. Sarah rutschte ein Stück höher und versuchte sich mit dem Ellenbogen auf der Matratze abzustützen. Die dünne, aber dennoch angenehm warme Decke, rutschte von ihrem Oberkörper, entblößte wundervoll natürlich geformte Brüste. Sie erschrak im ersten Moment, als sie ihre Nacktheit unter der Decke erkannte. Sie hatte nichts dagegen nackt zu schlafen. Ganz und gar nicht. Und in einigen Situationen war dies auch durchaus von Vorteil. Aber in diesem Fall hatte sie nicht die geringste Ahnung wo sie sich hier befand, noch wer sie entkleidet und in dieses Bett gelegt hatte. Sie schlug die Decke ängstlich zurück. Ihr Blick glitt über ihren Busen und weiter nach unten. Sie versuchte sich an irgend etwas zu erinnern, versuchte ein Signal ihres Körpers zu erhaschen. Etwas, daß ihr mitteilte, es war etwas geschehen, das nicht hätte geschehen sollen. Nichts. Den zuckenden Beinen einer Spinne gleich, tasteten ihre Finger über einige explizite stellen ihres Körpers. Nichts, das nicht auch vorher schon in Ordnung gewesen war. Beide Ringe waren noch vorhanden. Auch die an ihren Fingern. Es schien also alles okay. Äußerlich jedenfalls. Aber wer hatte sie hier hin gelegt? Das Schamgefühl stieg allmählich an und sie fühlte Hitze in ihrem Gesicht aufwallen. Sarah schwang ein Bein über den Rand des Bettes und griff nach der Decke. Mit geübtem Griff wickelte sie sie sich um den Körper und machte einen vorsichtigen Schritt auf den Tisch mit ihrer Kleidung, als plötzlich die Tür in der Wand sich nach innen öffnete. Langsam, und ohne den geringsten Laut schwang sie weiter nach innen auf. Leider waren die Anschläge so montiert, das sie nicht erkennen konnte, wer sich dort Zutritt zu ihr verschaffte.
Der Anblick, der sich dem Besucher bot, mußte eine Mischung aus Komik und Akrobatik sein. Sie hatte sich nach vorne gebeugt und mit der rechten nach der Stuhllehne gegriffen. Einen besonders großen Bewegungsradius hatte sie nicht, denn die Bettdecke hatte sich in eine verschlungene Wurst aus Stoffen verwandelt, die als schwerer Klumpen auf dem Bett ruhten. Sarah hatte also grade so viel Spielraum, um nach ihrem BH greifen zu können. Doch führte sie die Bewegung nicht zu ende, die Tür!

VI
Der Mann, der sich hinter der Tür zu erkennen gab, war alles andere als unattraktiv. Ganz im Gegenteil. Er war gut eine Handspanne größer als sie und auch ein wenig breiter. Allerdings war hier Breiter nicht im nachteiligen Sinne zu verstehen. Er stand dort, gut drei Meter von ihr entfernt. Seine Blicke streiften sie nur und verharrten für die Dauer eines einzelnen Herzschlages auf der Szenerie, die sich ihm bot. Ein flüchtiges Lächeln huschte über zierlich wirkenden Lippen. Er schloß die Tür, drückte sie ohne den geringsten Laut in den rahmen und stand dann wie zur Salzsäule erstarrt einfach nur da. Er schien einen schwarzen Umhang zu tragen, der im einfallenden Mondlicht matt schimmerte. Sarah wußte nicht so recht, was sie nun tun sollte, geschweige denn, wie sie reagieren sollte. Vor lauter Wut aufbrüllen und ihn anzuherrschen, sofort das Zimmer zu verlassen, war sichtlich der falsche Weg sich einander vorzustellen. Zumal sie hier der Gast war. Trotzdem hätte sie sich gewünscht der Kerl wäre ein bißchen zuvorkommender gewesen und hätte sich vornehmlich dafür entschuldigt, sie beim ankleiden zu stören. Doch dem war nicht so.
„Bitte entschuldigen sie mein unangemeldetes Eintreten in ihr Gemach. Aber ich habe mich gefragt, wie es ihnen geht?“
Er sah sie ein wenig abschätzend an und trat ruhig und gelassen mit kleinen Schritte auf sie zu. Sarah verharrte noch immer in dieser unbequemen Stellung und blickte weiter in das Gesicht des Fremden. Er hatte auffallend dunkle Augen unter einem dünnen Strich pedantisch frisierter Augenbrauen. Die Wangenknochen seines Gesichts lagen dicht unter der Haut und ließen diese an sich ein wenig eingefallen wirken. Aber nicht so, daß sie den Mann krank aussehen ließen. Die Lippen waren auffallend dünn und von blassem Rosa. So weit das im Licht fahlen Licht zu erkennen war. Sie lächelten Sarah entgegen, während er ihr seine rechte anbot.
„Darf ich?“
Sie blickte auf die ausgestreckte Hand des Mannes, die ihr hingehalten wurde. Würde sie sie ergreifen. lief sie damit Gefahr, die um ihren Körper gewickelte Decke fallen zu lassen und dem Fremden völlig nackt und schutzlos gegenüber zu stehen. Würde sie das Angebot ausschlagen, so würde sie, abgesehen von einem verbogenen Rückgrad, innerhalb der nächsten Sekunden mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlagen. Nun, der Boden war mit dickem Teppich belegt. Doch auch dieses Tatsache würde den fall nicht wirklich mindern. Von den folgenden Schmerzen einmal ganz abgesehen. Also, was sollte es? Sie hatte sich auch schon vor weitaus weniger attraktiven Männern entblößt. Warum nicht auch vor diesem? Außerdem brauchte sie sich nicht zu verstecken. Sie griff nach der Hand und wenige Momente später rutschte die Decke raschelnd zu Boden. Dem Mann schien zu gefallen, was ihm geboten wurde. Er ließ seinen Blick erneut über ihren Körper wandern und blickte ihr dann mit einem netten und aufrichtigen Lächeln in die Augen. Seine Hand entließ die ihre, da sie auf Hilfe nun offensichtlich nicht weiter angewiesen war. Schnell schritt er zurück und um die spanische Wand herum. Als er wieder hervor kam breitete er einen weinroten Morgenmantel aus mattem Samt aus. Angenehm überrascht über die doch vorhandene Höflichkeit des Fremden, drehte sie sich herum und ließ sich den Mantel über die Schultern legen. Flink schlüpfte sie in die Ärmel und zog den breiten Gürtel zu einem leicht zu öffnenden Knoten zusammen. Der Stoff schmiegte sich angenehm um jede Kurve ihres Körpers. Sie konnte fühlen, wie sich einige Körperregionen darüber besonders freuten und sich mit aller Macht von Innen hart gegen den Stoff preßten. Dann ging sie zurück zum Bett und ließ sich darauf nieder. Die ganze Zeit taxierte sie der Blick des Fremden. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen und schritt vorsichtig hinter ihr her.
„Ich bitte sie vielmals um Entschuldigung, aber ich vergaß mich vorzustellen. Asche auf mein Haupt!“
Sarah sah zu ihm auf und begann ein leichtes Lächeln auf ihre Züge zu zwingen, blieb jedoch trotzdem ernst.
„Das wäre sehr nett, denn ich habe absolut keinen Schimmer, wo ich hier bin, noch wie ich hier her komme. Und zu guter Letzt, wer sind sie?“
Der Mann ließ sich neben ihr auf dem Bett nieder, hielt aber einen diskreten abstand zu Sarah ein. Er blickte ihr wieder in die Augen, lächelte.
„Nun, sie erinnern sich vielleicht noch an das Unwetter, das sie überrascht hatte?“
Sarah blickte auf einen Punkt zu ihren Füßen. Eine unbedeutende Stelle, die urplötzlich all ihre Konzentration zu fordern schien. In ihrem Geist arbeitete es. Angestrengt versuchte sie sich an etwas zu erinnern. Irgend eine Kleinigkeit. Doch da war nichts. Blackout?!?!
„Nein, ich kann mich absolut an nichts erinnern. Wo haben sie mich gefunden. Und wie lange habe ich hier schon zugebracht?“
Auf dem Gesicht der jungen Frau bildete sich frischer Schweiß. Der Mann erkannte den Ernst der Lage und griff vorsichtig nach ihren Händen. Sie verstand zunächst nicht, was das zu bedeuten hatte und versuchte sich ihm zu entziehen. Doch sein Griff wurde behutsam fester, so daß ihre schlanken Finger nicht den seinen entgleiten konnten.
„Ich habe sie vor gut fünf Nächten im angrenzenden Sumpf gefunden. Sie hatten sich den Kopf an einer Baumwurzel angeschlagen und waren Ohnmächtig. Als wir sie dann später hier herauf gebracht haben, war noch ein hohes Fieber hinzugekommen. Doch ich denke, meine Bediensteten haben geschafft es zu senken. Anfangs war ich nicht sicher, ob sie wirklich durchkommen würden. Sie wurden von starken Krämpfen geschüttelt und waren kaum zu bändigen gewesen.“ Während er den letzten Satz zu ende sprach, mußte er ernsthaft lachen. Er hoffte, durch diese Geste das anfänglich vorhandene Mißtrauen ein wenig zu mildern.
Sarah strich sich wieder eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte ihrerseits. Allerdings versuchte sie immer noch kühl und sachlich zu wirken.
„Haben, habe sie mich ausgezogen?“

VII
Sie stockte und verfluchte sich für eine derartig blöde und rohe frage. Blöd? Dämlich! Wenn, nun, wenn sich nicht irgend wer ihrer angenommen hätte, dann würde sie heute vermutlich immer noch dort draußen in diesem feuchten Geisterwald liegen, um einer Anzahl von heimischen Käfern und Schlangen ein neues Zuhause und ausreichend Nahrung zu bieten. Sie sollte lieber einen Moment nachdenken, bevor sie den Mund aufmachte. Wenn sie ihn schon aufmachen mußte. Und dann sollte sie ihrem Gastgeber eher danken, ganz gleich, in welchem Zustand sie sich befand. Und im Moment ging es ihr alles andere als schlecht. Wenn sie es genau betrachtete, so ging es ihr sogar ausgezeichnet. Ihre Kräfte waren frisch und ihr Körper zu neuen Taten bereit. Ja, sie sollte ihm wirklich danken, Sie war es ihm schuldig.
„Bitte, entschuldigen sie mein unhöfliches Verhalten.“
Ein verkrampftes Lächeln huschte auf ihre Züge. Ihr Gegenüber schien es jedoch ganz und gar nicht als eine Beleidigung empfunden zu haben. Sie hatte damit gerechnet, ihn erbost oder doch wenigstens gekränkt aufspringen zu sehen um sich zu rechtfertigen. Doch dem war nicht so. Der Mann lächelte weiter und warf den Kopf dezent in den Nacken, bevor er sie wieder anblickte.
„Nein, sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen. Ich habe sie in die Obhut meiner Bediensteten gegeben. Alles sehr erfahrene Damen, die sich mit größter Sorgfalt und Mühe um ihr Wohl gekümmert haben.“
Er rutschte ein Stück näher an sie heran, streckte seine Hand nach einem ihrer Ohren aus und zog eine goldglänzende Münze dahinter hervor. Sarah war perplex. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Der Kerl schien interessanter zu sein, als er seinem Betrachter auf den ersten Blick vermuten ließ.
„Oh!“, gab die junge Frau von sich.
Das Lächeln im Gesicht des Mannes wurde ein wenig breite, zugleich auch sanfter. Diese Augen, bemerkte sie einen Moment. Er spielte mit der Münze in seinen Fingern, ließ sie über die Knöchel seiner Hand wandern und warf sie schlußendlich in die Luft. Sarahs Blick folgte ihr. Wie gebannt verfolgte sie den Flug der Münze, die sich mit rasend schneller Bewegung dem höchsten Punkt ihrer Flugbahn näherte. Und plötzlich schien die Zeit rückwärts zu laufen. Noch während sie weiter der rotierenden Bewegung in der Luft folgte, drangen Eindrücke und Emotionen an ihren Geist, denen sie gänzlich wenig entgegenzusetzen hatte. Wollte sie es denn? Wollte sie wirklich? Was? Wollen? Was geschah? Da lag etwas merkwürdiges in der Luft. Am Rande ihres Bewußtseins nahm sie eine Mischung aus Übelkeit und wohliger Wärme wahr. Konnte das sein? Eine derartig bizarre Mischung? Langsam, aber immer deutlicher formte sich diese Mischung zu einem Gefühl der Vorfreude. Sie erinnerte sich, wie sie sich als kleines Mädchen auf die Bescherung an Weihnachten gefreut hatte. Da hatte sie ähnlich empfunden. Derartige Gefühle hatte sie schon Ewigkeiten nicht mehr in sich gespürt. Mit werdendem Alter hatte dieses Gefühl immer weiter an Bedeutung verloren. Bis es schließlich keine wirkliche Freude mehr gab und alles zu einer steifen Routine verkommen war. Aber das hier, daß war plötzlich ganz etwas anderes. Und es war schön.
Pheromone? Ja, es mußten Pheromone sein, die der Fremde verströmte und auf die ihr Geruchssinn, gekoppelt mit dem entsprechenden Zentrum in ihrem Gehirn, ansprang wie ein Geigerzähler auf Uran. Es war so schön und sie liebe dieses Gefühl der Vorfreude. Sie blickte weiter auf die Münze, die nun wieder auf der Hand des Fremden tanzte. Hin und her, auf und nieder hüpfte sie. Erst als sich ihre Blicke trafen schien der Zauber seine Wirkung zu verlieren. Doch nur ein wenig. Die Augen des Mannes waren Dolche, die mit jedem Augenblick weiter in sie eindrangen, ihr Herz durchbohrten und es gefangen nahmen. Ja, er sollte sie haben. Er sollte ihr Herz an sich nehmen. Er sollte sie haben. Alles was geschehen konnte, sollte geschehen. Und wenn es das letzte war, was sie in ihrem Leben tun konnte, so würde sie es genießen. Jetzt und hier. Sarah spürte wie sich der Knoten des Gürtels in ihrem Schoß öffnete und dann schlaff über die Bettkante hing. Der Morgenmantel glitt auseinander und enthüllte ihren Körper, der nun unter freudiger Erregung leicht zu zittern begonnen hatte. Der Blick hielt sie weiter gefangen und ließ sie nicht los.
Merkwürdig. Obwohl sie den Mann noch nie zuvor gesehen hatte, sie vertraute ihm. Es war, als kannten sie einander schon jahrelang. Vielleicht mochten es auch Jahrzehnte sein. Oder gar Jahrhunderte? Unsinn. Aber womöglich gab es so etwas wie eine Seelenverwandschaft. Und nun hatten sie sich gefunden. Der Mantel glitt weiter von ihren Schultern und bildete einen Wulst hinter ihrem Rücken. Kühle Finger umschmeichelten ihre Flanken und glitten ihren Rücken empor. Es war ein wundervolles Gefühl und ließ ihren Körper weiter erzittern. Ihre Kopfhaut begann zu kribbeln und sie schloß die Augen, legte den Kopf ungewollt in den Nacken. Rote Lippen öffneten sich, formten Worte der Freude, als scharfe Krallen über ihren Rücken schabten, die Haut jedoch nicht verletzten. Sarah spürte, wie eine kleine Flamme in ihrem Innern zu einem seichten Feuer entfacht wurde und allmählich zu einem rasenden Flächenbrand auszuate schien. Unbewußt, nicht mehr Herr ihrer Sinne, hob sie die Arme und vergrub die Hände in den Tiefen ihrer Haare. Niemand von beiden sprach ein Wort, und doch schienen ihre Gedanken miteinander verwoben zu sein. Langsam, um den Zärtlichkeiten nicht zu entschwinden, schob sie sich weiter in die Mitte des Bettes. Weiche Kissen und Decken ebneten ihr den Weg dort hin. Die Hände hatten ihren Rücken verlassen und kamen ihr hinterher. Wieder fuhren sie kalt und mit langen Krallen über ihren Körper. Der Mann kam ihr nach. Auch sein Umhang hatte sich geöffnet und hing nur noch lose über Arme und Schultern. Lächelte er? Ja, es mußte wohl ein Lächeln sein, was er ihr schenkte. Alles um sie herum wurde plötzlich unreal und verschwand aus ihrem Sinn. Der Mond warf sein Licht weiter in den Raum und einen schmalen weißen Streifen davon auf das Bett. Sternenfeuer! Plötzlich durchlief sie ein heißer Schauder. Sie spürte das Licht des Mondes auf ihrem Gesicht, ihrem Körper. Es schenkte ihr zusätzliche Energien. Und wer weiß, die würde sie vielleicht brauchen.


VIII
Langes seidig schwarzes Haar schmiegte sich um ihre Brüste. Mit immer noch geschlossenen Augen genoß sie die Liebkosung ihrer Brüste, drehte den Kopf in den Kissen hin und her. Die Feuchtigkeit seiner spitzen Zunge hinterließ kalte Spuren auf der Haut, während diese weiter hinab wanderte und sie dabei mit Entzücken erfüllte. Das brennende Verlangen in ihr tobte mittlerweile in Form einer wahren Höllenglut. Ein Inferno mit unbekanntem Ausmaß, unauslöschlich. Sarah ließ die Hände über ihren Busen gleiten, streichelte sich beiläufig um sie sofort in den wogenden Massen schwarzer Haare zu versenken. Ein heiseres Stöhnen kroch ihre Kehle empor und floß zäh wie süßer Honig über ihre Lippen. Die Zunge des Mannes bewegte sich weiter abwärts. Erforschte dabei auf ihre Weise Regionen mit äußerster Feinfühligkeit und Präzision. Das weiße Fleisch ihrer Schenkel bildete ein geöffnetes V und wartete darauf, liebkost zu werden. Und im Grunde war es das auch, wenn für einen Moment die Spannung auch durch einen feinen Schmerz getrübt wurde. Doch dieser verschwand ebenso schnell, wie er aufgetreten war.
Heiß, wie flüssiges Feuer, rann das Blut aus den winzigen Wunden. Sie gehörte ihm. Vollkommen und auf Ewig. Er sollte sie haben, sie zu seiner Gespielin machen. Wer immer er auch war. Die Lippen des Mannes legten sich um die Innenseite ihres Oberschenkels. Kühl und stetig begann er zu saugen, ihr Blut zu trinken. Sie wollte es ihm geben, so viel er wollte. Alles, wenn er nur nicht aufhören würde. Sarah öffnete die Augen, sah an sich hinab und blickte in zwei rötlich schimmernde Augenpaare, die sie fixiert hatten. Der Mann, dessen Namen sie nicht wußte, lächelte sie an und schickte wieder seine Dolche in Richtung ihres Herzens aus. Und dieses Mal glaubte sie die Umklammerung noch deutlicher und fester zu spüren. Ihr ganzer Körper erbebte unter der Last ihrer Leidenschaft. Kühlender Schweiß, das Mondlicht reflektierend, hielt sie angenehm umschlossen. War es schon vorbei? Der Kopf des Mannes bewegte sich nach links und rechts. Langsam, kaum sichtbar. Er stemmte seine kräftigen Arme neben ihre Schultern und beugte sich über sie. Ihr Herz brannte. Stand lichterloh in Flammen. Für ihn.
Mit der anderen Hand, deren Finger unnatürlich länger waren als die normaler Menschen, begann er kreisende Bewegungen in der Luft über ihrem Gesicht zu machen. Alles um sie herum schien sich zu drehen, ohne das sie etwas wie ein Schwindelgefühl bemerkte. Helle Punkte, nicht größer als ein Stecknadelkopf, formten sich im Strahl des Mondlichtes. Von unbekanntem Leben erfüllt, schwebten sie auf sie zu, tanzten um ihr Gesicht und ihren Körper. Er spielte mit dem Mondlicht und dirigierte es. Eine abgehackte Bewegung mit der Hand und die Punkte wurden gleißend hell und ließ sein Gesicht vor ihren Augen verschwinden. Reglos lag sie da, mit rasendem Herzen. Sie wußte, alles, was auch geschehen würde, sie würde es zulassen. Sie gehörte ganz ihm, als er langsam in ihr versank. Seine Augen, was war damit. Egal. Später. Oh ja, immer tiefer sanken sie beide, ließen sich vom Mondlicht stärken, spürten einander, während sie auf silbernen Wellen dahintrieben. Er richtete seinen Oberkörper auf, wobei seine Muskeln deutlich sichtbar hervor traten. Sie sah ihn an, und genoß weiter seine Zärtlichkeiten. Plötzlich glitt eine Handfläche über seine Brust, kurz unterhalb der Schulter. Ein feiner Schnitt war zu sehen und dunkelrote Tränen sickerte daraus hervor. Nur ein feines Rinnsal aus einer kleinen Wunde. Und es bedurfte plötzlich keiner Worte der Erklärung, um es ihr verständlich zu machen. Sarah hob den Kopf und legte ihre Lippen um den Einschnitt. Als der erste Tropfen ihre Kehle hinab rann kam es ihr so vor, als würde sie auf ihrer tiefsten Seele geküßt werden. Sie wollte mehr davon. Wollte so viel von diesem köstlichen Elixier trinken, das ihr angeboten wurde...

IX
Ein Donnerschlag explodierte und Sarah riß erschrocken die Augen auf. Das Unwetter hatte ein wenig nachgelassen und der Regen schien den Gipfel seiner Heftigkeit auch bereits überschritten zu haben. Ganz langsam verzogen sich die schwarzen Regenwolken und trugen das Gewitter mit sich fort. Ihr Nacken schmerzte als sie den Ort erkannte, an dem sie erwacht war. Der Fahrgastraum des engen und alten Ford Escord. Sie mußte eingeschlummert sein. Naja, sie hatte schon immer gut bei Gewitter schlafen können, nicht wie die meisten anderen ihrer Familie. Nervös und ein wenig verdutzt blickte sie sich im Innern des Wagens um, konnte jedoch nichts ungewöhnliches feststellen. Nur das es beträchtlich kälter geworden war, als noch vor wenigen...
„Zwei Stunden“, keuchte sie. Sie hatte fast zwei Stunden hier geschlafen. Leichte Kopfschmerzen begannen hinter ihrer Stirn zu pulsieren, als sie benommen nach dem Schlüssel im Zündschloß griff und ihn herum drehte. Wie ein Wunder sprang der Wagen gleich beim ersten Versuch an. Sie betätigte die Knöpfe und Hebel für Licht und Scheibenwischer und ließ das Auto langsam anrollen. Holpernd begann es sich seinen Weg über aufgeweichte Feldwege zu bahnen. Nach wenigen Minuten wurde die Straße, wenn sie es denn so bezeichnen wollte, unebener. Langsam, fast schleichend, ließ sie den Ford über die vom Wasser zerfurchten Wege fahren, bis sie eine Vollbremsung machte. Der Kopfschmerz hatte zugenommen und ein Gefühl von Schwindel machte sich im Magen breit. Vorsichtig führte sie eine Hand an ihre Lippen. Langsam betastend fuhr sie mit den Fingern darüber. Als sie einen Blick auf ihre Fingerspitzen riskierte, waren diese glänzend rot verfärbt. Die Welt vollführte Bocksprünge um ihr Gesichtsfeld. Erst jetzt bemerkte sie einen metallischen Geschmack, Kupfer, im Mund. Doch das war noch nicht alles. Aus dem pulsieren im Kopf war ein ansteigendes Hämmern geworden, während sich ihr Blick auf eine Stelle an ihrer Hose festheftete. Der Stoff war merkwürdig warm, fühlte sich zugleich auch feucht an. Ihre Augen begannen zu flackern, als sie das Blut an der Innenseite ihres Oberschenkels ekennen...


& 2003 by Norman Buschmann



Guten abend alle zusammen

Ich habe mit dieser Geschichte versucht, die Fäden von Grusel- und Erotikstorie miteinander zu verknüpfen. Ich hoffe, es ist mir ein wenig gelungen und ihr habt Spaß beim lesen.

MfG

Norman Bsuchmann
Norman Buschmann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.08.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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