Heinz-Walter Hoetter

Nur ein Traum?

Man konnte ihn schon von weitem sehen, wie er langsam vom Himmel herab schwebte, denn er fiel mit seinem weiten Umhang auf.

 

Er hatte ein ganz junges Gesicht, weil er aus einer Welt kam, die weder Tod noch Zeit kannte.

 

Langsam ließ er sich zu den Menschen herab und gesellte sich zu ihnen, gerade so, als würde er sie schon seit einer Ewigkeit kennen.

 

Dann zeigte er ihnen, was er in seiner rechten Hand trug.

 

Es war ein vergilbtes Bild.

 

Eine junge Frau mit blonden Haaren fragte ihn schließlich: „War das Ihre Familie?“

 

Er schaute sie mit einem wehmütigen Blick an.

 

„Ja, das waren meine Eltern, die in der Mitte. Links und rechts daneben stehen meine Geschwister. Ich bin hier, direkt vor meiner Mutter.“

 

„Was ist mit ihnen passiert?“ fragte ihn ein Mann, der neben der jungen Frau stand.

 

„Sie sind alle tot. Alle weg. Noch viel schlimmer. Alles ist weg. Können sie sich das vorstellen? Alles ist weg, auch die Menschen, die ich mal so sehr geliebt habe. Die Vergangenheit hat alles mitgenommen. Nichts ist geblieben.“

 

„Dann haben Sie wohl alles verloren? Das tut uns sehr leid. Wir können aber nichts für sie tun. Was geschehen ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. So ist das eben in dieser Welt...“, sagte eine krächzende Stimme aus dem dunklen Hintergrund, die von einer schattenhaften Person kam. Sie trug die Uniform eines KZ-Wächters.

 

„Natürlich könnt ihr nichts für mich und meine Familie mehr tun. Das weiß ich doch, ihr Narren! Die Schmerzen über den Verlust meiner geliebten Eltern und Geschwister muss ich selber tragen.“

 

Dann fing der Mann mit dem jungen Gesicht plötzlich an zu lachen und sprach geheimnisvoll: „Aber nur sie hier sind übrig geblieben, die einst zum Wachpersonal KZ Buchenwald gehörten. Ist das nicht ungerecht?“

 

Das vergilbte Bild in seiner rechten Hand verschwand und wurde durch eine Sanduhr ersetzt.

 

Er hob sie ganz hoch, sodass alle umstehenden Personen sahen, was er bei sich hatte. Die aber sahen ihn nur erstaunt an, denn sie verstanden nicht, was er vorhatte.

 

Der feine Sand fing an zu rieseln. Als das letzte Sandkörnchen schließlich von oben nach unten durch gefallen war, verschwand der junge Mann wieder und mit ihm zusammen alle Männer und Frauen, zu denen er gekommen war, die für den Tod seiner geliebten Familie verantwortlich gewesen waren.

 

 

Ende

 

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.10.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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