Wolfgang Hoor

Mein Sohn Felix und die Geige

2006 wurde mein Sohn Felix geboren. Bis 2009 war ich sein Vater. Ich war ein hingebungsvoller Vater. Von den Stunden, in denen ich ihm die Farben beibrachte, singen lehrte, mit ihm auf dem Boden rolzte und tobte, war keine verloren, aber sie waren so schnell vorbei, wie sie gekommen waren. Nach fünfjähriger Ehe hatte Karin genug von mir, und nach der Scheidung verschwand sie in unbekannte Ferne. Es war ein aufreibende Detektivaufgabe, sie aufzuspüren, und es kostete einen fast zweijährigen Kampf vor Gericht, bis ich mein Recht gegen meine Exfrau erstritten hatte, an jedem zweiten Wochenende mit meinem Sohn Felix zusammen zu sein.

Felix war jetzt 13. Er war ein hübscher Junge, ein guter, wenn auch nicht überragender Leichtathlet. Er lebte in einer Mittelstadt, 200 Kilometer von mir entfernt, hatte viele Freunde, dachte, wenn er an etwas dachte, an Musikgruppen, die ich nicht einmal dem Namen nach kannte, und war in der Schule – Durchschnitt. Richtiger Durchschnitt. In Sport und Bio eine zwei, sonst alles Dreien oder Vieren. Meine Ex warnte mich, ich solle mich da bloß nicht einmischen. Felix sei kein Genie und ich solle um Himmels Willen nicht versuchen, eins aus ihm zu machen. Es sei ja toll, dass ich mir eine so herausragende Stellung beim „Spiegel“ ergattert hätte, sie hätte anfangs immer versucht, meine Artikel zu lesen. Aber das sei ihr inzwischen zu schwierig. Auch sie sei Durchschnitt, einfach nur Durchschnitt, und das reiche, um glücklich zu sein.

Die ersten Begegnungen mit Felix waren schrecklich. Der Junge verstand zunächst nicht, was er mit dem fremden Mann machen sollte, mit dem er jetzt zweimal im Monat ein Wochenende verbringen musste. Natürlich dachte ich, ich könnte irgendwie schon an die Leichtigkeit und Unbeschwertheit unserer ersten Jahre anknüpfen. Aber er erinnerte sich an nichts. Karin hatte dafür gesorgt, dass er nie ein Foto von mir zu sehen bekommen hatte. Also hoffte ich, dass er sich für meinen Beruf, für meine Stellung in der Hierarchie des Magazins interessieren würde. Natürlich wollte ich auch ein bisschen glänzen. Ich nahm ihn in die Redaktionsräume des „Spiegel“ mit, er kam mit zu Eröffnungen, zu Einladungen in einem begrenzten Kreis, ich zeigte ihm das Museum, in dessen Vorstand ich saß. Diese Unternehmungen fand er interessant, sagte er jedenfalls, aber an mir schien er kein Interesse zu haben. Er hatte eine ganz natürliche, herzliche Zuneigung zu seiner Mutter, und wenn ich mit meinen Erfolgen anzugeben versuchte, winkte er nur ab. „Ich bin Durchschnitt“, sagte er einmal, „Mama ist auch Durchschnitt, da brauchen wir keinen Supertyp.“ – „Jeder ist mal Durchschnitt gewesen“, sagte ich. „Auch Du?“, fragte er listig. Da erzählte ich ihm die Geschichte von Rudi, mir und Andy. Er glaubte mir diese Geschichte nicht. „Das hast du dir ausgedacht!“

Schließich glaubte ich nicht mehr, dass aus unserer Beziehung noch etwas werden könnte. Und so kam das Wochenende, für das ich nichts geplant hatte. Ich hatte keine Lust mehr, ihm zu hofieren. Vielleicht war es sinnvoll, dachte ich, die vierzehntägigen Begegnungen sausen zu lassen. So saßen wir am Morgen in Schlafanzügen beim Frühstück, sagten uns zu, jeder könne machen, was er wolle. Vielleicht wolle er Musik hören. Ich hätte zwar keine CDs von Gruppen, die er mochte, aber er dürfe ruhig mal meine klassischen CDs ausprobieren. Weil dieser Vorschlag für uns beide irre komisch klang, lachten wir zusammen. Ich glaube, es war das erste Mal, dass wir zusammen lachten.

Zum Mittagessen gab es Pizza vom Italiener nebenan. „Das machen wir zu Hause samstags auch immer so“, sagte er gut gelaunt. Und dann begann er zu erzählen: Von seinem Freund, der sitzen geblieben war und bei ihm und seiner Mutter immer noch herzlich willkommen war, von seinem Leichtathletiktrainer, der sie immer noch mit einem ordentlichen und richtig schmerzenden Klatsch auf den Hintern motivieren wollte und dem sie seinen Spaß ließen, obwohl es verboten war, von seiner Nachbarin in der Schule, die bei Mathearbeiten immer einen Weg gefunden habe, ihm seine Vier zu sichern, und von einem Lehrer, der sich in der Klasse nicht durchsetzen könne, der aber fantastische Verse schreibe. Wir lachten mehrmals zusammen, und es war die schönste Mahlzeit, die ich je mit ihm verbracht hatte.

Und dann entdeckte er die Geige in meinem Arbeitszimmer, wo ich, unbekümmert von seinen Vorlieben, Orgelmusik von Johann Sebastian Bach aufgelegt hatte. Er hörte nicht zu, aber vor der Geige, die an der Wand hing, blieb er lange stehen. „Kannst du mal das Gedudel ausschalten?“, fragte er, wohl wissend, dass mich seine Wortwahl verletzen könnte. Ich merkte, dass ich mir für einen Moment wünschte, mit diesem Jungen nichts zu tun zu haben. „Bitte“, sagte er. „Es ist wegen der Geige. Warum hängt sie an der Wand und befindet sich nicht im Geigenkasten?“ Mir fielen sofort ein paar Lügen ein, die ich anderen Besuchern schon untergejubelt hatte. Ihm gegenüber fiel mir keine ein. „Ich habe zwischen acht und zwölf Jahren Geige spielen müssen. Es war ein Graus: ein ständiger Kampf mit meiner Mutter, weil ich nicht üben wollte, und eine ständige Ohnmacht, weil ich nicht vorankam. Mit zwölf durfte ich Schluss machen.“ – Er lachte laut. „Dann warst du also ein Versager!!“ – Es fiel mir schwer diese Spitze zu überhören. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist, wenn die Geige nur kratz kratz kratz macht. Ich habe die Geige gehasst.“

Es blieb lange ruhig. Ein paar Minuten hörten wir nur unseren schweren Atem. „Du hast es gut gehabt“, sagte er schließlich. „Du durftest aufhören. Ich nicht. Ich kratze mir noch immer einen ab, wenn ich Geige übe. Meine Kumpels lachen sich kaputt, und wenn sie mich verarschen wollen, nenne sie mich das Kratzerlein.“ – „Und warum hörst du nicht auf mit dem Geigespielen?“ – „Da kennst du Mama schlecht. Die zieht das ganz konsequent durch. Du müsstest mal hören, wie wütend sie wird, wenn ich nicht übe.“ – „Aber warum verlangt sie das von Dir?“ – „Sie hat die alte, kostbare Geige von ihrem Großvater geerbt. Die soll mehr als 10000 € kosten. Und sie will nicht, dass die Geige nutzlos herumliegt.“ – „Sie könnte sie verkaufen!“ – „Aber doch kein Erbstück von ihrem Großvater. In diesem Punkt hat sie einfach ne Meise. Wenn ich dürfte, ich würde sofort aufhören.“ – „Aber wenn du nicht vorankommst, dann muss es ja eine Qual sein dir zuzuhören. Auch für Deine Mutter.“ – Er lachte. – „Weißt du, was sie erfunden hat?“ – „Was?“ – „Einen Geigendämpfer. Eine Wäscheklammer, die man am Steg befestigt. Den muss ich immer benutzen, wenn sie im Haus ist und ich übe. Dann hört man nicht mehr viel. Wenn sie nicht im Haus ist und ich üben muss, mache ich immer den Dämpfer ab und reiße die Fenster auf. Es soll jeder hören, dass ich bloß kratzen kann“, rief er triumphierend.

Wir brachen beide in Gelächter aus. „Felix!“, rief ich. „Jetzt kommt es raus. Es kann niemand anderes dein Vater sein als ich. Einer der auch Durchschnitt war und genauso gekratzt hat wie du.“

Seit diesem Wochenende verstehen wir uns. Jetzt verbringen wir unsere Wochenenden immer bei mir zu Hause. Als er ganz klein war, haben wir gar nicht aufhören können rumzutollen. Jetzt können wir gar nicht mehr aufhören zu lachen

Wir haben uns unendlich viel zu erzählen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.10.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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