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DER NORWEGEN BLUFF

 

Unsere Nachbarn, die Merckwürdens



Yolanda und Heiner Merckwürden lebten erst seit 9 Monaten neben uns. Sie sind, sagen wir es einmal so, etwas gewöhnungsbedürftig. Schon am ersten Tag fielen sie uns auf. Sie kamen klingeln, hatten sogar ihr Kind dabei, einen Jungen namens Jonas.

Sie brachten uns Kondome und Lakritzschnecken. Dies sei eine Tradition aus dem Norden von Norwegen. Die Merckwürdens kamen, sagten sie, aus Skrova. Dies ist der Name einer kleinen Inselgruppe und eines Fischerortes in der Gemeinde Vågan im norwegischen Fylke Nordland auf Lofoten. Es sei falsch, von „den Lofoten“ zu sprechen. Diese 80 Inseln umfassende Region wird mit „Distrikt Lofoten“ bezeichnet, so Heiners eindringlicher Monolog, noch in der Haustür.

Die Merckwürdens sprachen keineswegs mit einem auch nur im Ansatz erkennbaren Akzent, der auf Norwegen hätte deuten können. Sie sprachen, jedenfalls für mich, ein akzentfreies Deutsch. Später erkundigte ich mich im Internet, ob die Lofoten- Einwohner untereinander Kondome und Lakritzschnecken beim Erstbesuch eines Nachbarn auszutauschen gewöhnt seien. Und siehe da, es gab keinerlei Hinweise auf diesen Brauch. Keinen. Mein Misstrauen war geweckt.

Die Merckwürdens sind die bizarrsten Nachbarn, die wir je hatten. Jeden Morgen hissten sie die norwegische Flagge, um Punkt 8 Uhr früh. Dabei spielten sie, stets unglaublich laut, die norwegische Nationalhymne ab. Durch den billigen Player war das, jeden Morgen, eine Tortur. Dieses Ritual gab es, leider, auch an Sonntagen - und an allen Feiertagen zudem. Übrigens auch am Weihnachtsmorgen!

Ich kann nicht behaupten, dass diese norwegische Nationalhymne sonderlich schön klingt. „Ja, vi elsker dette landet, som det stiger frem furet, vaerbitt over vannet, med te tusen hjem...“ Ich kann den Text schon auswendig, über die neun Monate dieses täglichen Terrors um 8 Uhr in der Früh. Denn die Merckwürdens belassen es ja auf keinen Fall beim brutal lauten Abspielen der Hymne, es muss ja unbedingt auch die Ansprache des Königs anlässlich eines Gartenfestes im königlichen Schloß zu Oslo, vor mehr als 1000 Gästen (The King´s Speech), aus dem Jahr 2016 sein. Wir halten uns dann meist die Ohren zu. Viele nutzen aber auch, schon seit Monaten, Ohropax.


König Harald V. in allen Ehren, aber wenn man kein Wort der Rede versteht, ich bitte Sie... Was soll das denn?

Mein Mann und ich, wir wollten uns eigentlich im nächsten Jahr das große Spektakel der Mitternachtssonne ansehen, in Tromsø, zwischen dem 20. Mai und dem 22. Juni 2020, aber wir haben die Reise bereits wieder storniert. Irgendwie ist uns Norwegen, verzeihen Sie, suspekt geworden. Und das ist allein das Verdienst der Merckwürdens und ihrer schier unerschöpflichen Liebe zu ihrem sicherlich wunderbaren Heimatland. Das sei natürlich unbenommen. Norwegen ist sicherlich großartig. Ganz bestimmt. Doch nicht alle der Bewohner dort. Nein?

Wann immer wir an diesem merkwürdigen Haus vorbei schlendern, es ist in den grellen Farben des Heimatlandes gestrichen (dunkelblau, weiß und rot), hören wir entsetzlich laute Musik der Lappen (Sami), dem Volk aus dem Norden Norwegens.

Extrem. Immanent extrem.

Dieser Oberton-Gesang der Sami ist wirklich sehr gewöhnungsbedürftig. Das Joiken scheint dazu angetan, zu verstören, zu verwirren und zu verunsichern. Die Joiks sind ohne jeden Zweifel ein großes Thema in der Nachbarschaft. Allen gehen sie auf den Nerv. Vor allem dem pensionierten Richter Walter Terstappen, der hier nichts als die Ruhe suchte. Nur seine Ruhe! Und sie aufgrund der Merckwürdens nicht fand. Nicht einmal im Ansatz. Nicht einen Tag während dieser 9 Monate der Tortur.

Wann immer wir Yolanda und Heiner treffen, erzählen sie uns mit sprühender Lippe von den unfassbaren Schönheiten des Nordens Norwegens. Sie schwärmen so sehr, dass wir uns alle mittlerweile fragen, warum zum Teufel diese 3 Wahnsinnigen nicht dort verblieben sind, auf Skrova. Mussten sie unbedingt nach Gelsenkirchen-Erle, in das unerfreulichste Gesicht des Ruhrgebietes, ziehen? Mussten sie unbedingt in die Gegend der Cranger Straße ziehen? Musste das sein? Wirklich?

Mittlerweile ist eine ziemlich große Gemeinschaft der Meinung, diese Merckwürdens müssten endlich wegziehen. Es reiche jetzt. Es sei ja nicht nur die peinliche Flaggen- Hisserei, da sei ja noch so viel mehr.

Ich versuche einmal, das alles aufzuzählen: Wann immer ein Mensch bei diesen so kaputten Merckwürdens zu Besuch ist, zwingt man ihm Sild auf, einen eingelegten Hering, außerdem gibt es, unausweichlich, Kjøttkaker. Und das smekkt exakt so, wie es auch geschrieben wird. Als wir einmal eingeladen waren, gab es Rømmegrøt, es war grauenhaft. Mein Mann und ich hatten noch volle 2 Tage Dünnpfiff. Es mundete nicht, und dann auch noch diese Diarrhö. Fürchterlich. Wir haben seither absolut jede Einladung abgelehnt. Und es gab derer viele... Allein für uns, die direkten Nachbarn, schon 5 Einladungen. 2 haben wir wahrgenommen. Es ist uns nicht bekommen. Es ist nicht nachzuweisen, aber mein Mann lag Tage im Bett. Mit unerklärlichen und in jeder Hinsicht merkwürdigen, undefinierbaren Schmerzen/Krämpfen. Wir schoben es auf diese mehr als bizarren Speisen der Merckwürdens. Aber nachweisen? Nein, wir konnten es nicht nachweisen, dass sie darauf aus waren, uns zu vergiften. Weitere "Merckwürdigkeiten": Alle Merckwürdens trugen bunt getupfte Strümpfe. Heiner hatte stets einen Schirm bei sich, auch bei strahlendem Sonnenschein, in dunkelblau, weiß und rot. Sein Spazierstock war ebenfalls in diesen Farben, doch leider falsch (weiß, rot, dunkelblau), bemalt worden. Zudem hatte Heiner einen großen Sticker vorne auf dem Jackett: Norway is beautiful!

Yolanda Merckwürden trug grundsätzlich, ob Werktags oder Sonntags, die typische Bunad-Tracht. Es wirkte auf uns alle etwas bizarr. Die Haare hatte sie zu einem strengen norwegischen Überkopf-Zopf gebunden. In der rechten Hand hielt sie stets die norwegische Flagge. Und das immer. Ob beim Metzger, beim Friseur oder beim Fahrkartenkauf - stets hatte sie die norwegische Flagge in der rechten Hand.

Außerdem, wann immer einer der Anwohner hier auf die Merckwürdens traf, wurde ein Vortrag gehalten, ein Referat. Über all das, was Norwegen an Besonder- und Schönheiten zu bieten hat. Dieser Vortrag konnte auch schon mal gute 10 - 15 Minuten umfassen. Mit der Zeit, seien Sie mir nicht gram deswegen, ermüdete das doch sehr. Vor allem die Trine Sagekost hatte bald genug davon. Wann immer sie auf einen Merckwürden traf, wechselte sie raschen Schrittes die Straßenseite. Oft abrupt. Doch diese Familie blieb bei ihren Gepflogenheiten.

Jonas schien die Merkwürdigkeiten übernommen zu haben. Er trug stets eine Mütze von Napapijri auf dem Kopf. Auch bei ärgster Hitze. Die Lakritze schien es ihm besonders angetan zu haben. Er trug immer eine große Anzahl von Lakritzschnecken und Lakritzstangen bei sich. Er verteilte sie auch gern. Für Jonas schien Lakritze so ziemlich das Wichtigste überhaupt im Leben zu sein. Keiner wollte dem Kind die Hand zur Begrüßung reichen. So Lakritz verschmiert waren seine plumpen Pfoten. Ihm war das egal. Jonas schien eines der Kinder zu sein, die die Sensibilität bereits mit dem Abtrennen der Nabelschnur verloren zu haben schien. Er nahm nichts persönlich. Ein eher tumber Charakter.

Für die Jensens gab es Pinnekjøtt und Lutefisk. Die waren anschließend sogar im Krankenhaus, alle beide. Der alte Terstappen meinte daraufhin, dies könne doch, im Grunde genommen, als eine Art Mordanschlag gewertet werden. Er wollte die Polizei einschalten. Aber die Gemeinschaft „Cranger Straße/Middelicher Straße“ lehnte dies ab. Man könne den Vorsatz ja nicht beweisen. Obschon.... Die Zeichen deuteten ja durchaus auf Absicht, auf eine Art von mutwilliger und böswilliger Verabreichung der übelsten Speisen zum Zwecke der Schwächung respektive der realen Minderung der Lebensqualität durch unbekannte Substanzen in den jeweiligen Speisen, u.a. Fårikål, Rakfisk und Hardangerlefse. Würg, Röchel und Kotz.

Sind die Merckwürdens böse? Sind sie darauf aus, uns zu schaden, uns fertig und, vor allem, krank zu machen? Vielleicht sind sie sogar darauf aus, uns zu töten? Aber wie und warum? Warum sollen wir sterben? Ist es eine norwegische Attacke auf unser schönes Ruhrgebiet? Wird Norwegen langsam aber sicher zur Bedrohung unserer westlichen Kultur? Unserer Ruhrgebiets-Power? Unserer fortwährend langsam aufstrebenden, so unaufhaltsam sich entwickelnden Kultur und des neuen Lebensstandards jenseits der einstigen Zechen, der Kohle und des Stahl? Wir haben hier einen neuen Weg zu uns und zur Vergangenheit gefunden. Die Zeche Consolidation mag hier als ein Beispiel dienen. Und die Merckwürdens scheinen genau das hintertreiben zu wollen. Oder???

Ich stellte Nachforschungen an. Und, äußerst befremdend, ich erhielt diese Auskunft: Die Familie Merckwürden, Yolanda und Heiner mit Söhnchen Jonas, 9 Jahre alt, war zuvor in Castrop-Rauxel wohnhaft, Bahnhofstraße 81 B. Dort war sie wegen diverser Probleme rausgeflogen, u.a. Mietschulden bei der LEG, und hatte diverse Monate in der Notunterkunft für obdachlose Familien in Recklinghausen verbracht, bis sie dann nach Gelsenkirchen-Erle vermittelt wurden, in eine Sozial-Wohnung. Ich eruierte, die Familie Merckwürden hatte niemals in Norwegen gewohnt, hatte nie eine Verbindung zu Norwegen, kannte keinen in Norwegen, wusste eigentlich nichts über dieses Land.

Diese Schuft-Familie. Alles Lüge. Alles Schwindel. Von wegen Norwegen. Ha! Diese Teufel kamen aus Castrop-Rauxel. Und wahrscheinlich hatten sie niemals zuvor je einem Norweger auch nur die Hand geschüttelt. Und noch weniger waren sie jemals im Distrikt Lofoten gewesen. Nie!

Da scheiß mich doch der Hund an... Ich war sprachlos. Was sollte ich davon halten? Ich konfrontierte den Haushaltsvorstand, Heiner Merckwürden, mit meiner Recherche (und das durchaus noch immer freundlich!), und zu meinem Erstaunen meinte er, tief deprimiert: „Ja, ich hab keinerlei Verbindung in Richtung Norwegen, mich trägt nur eine sehr tiefe, starke Affinität zu diesem Land. Aber eigentlich... Tja...“

Er ließ den Rest des Satzes offen.

Ich meinte, lakonisch: „Vielleicht sollten Sie hier wegziehen, Heiner Merckwürden!“

Und er nickte nur. Ernst. Aber völlig unbeteiligt drein blickend.

Keine 5 Wochen später sah ich den Umzugswagen von der Spedition Ehrenberg am Haus in Nr. 6 Am Fettingkotten. Wir alle standen Spalier, vorneweg der alte Richter Terstappen, als die Merckwürdens, reichlich bedröppelt, abzogen, endlich wegzogen.

          
Der greise Richter fragte: „Weiß irgendjemand, wohin diese gleisnerischen Bastarde jetzt ziehen?“


Und ausgerechnet Birger meinte dann, schmunzelnd: „Nach Schöllkrippen, in das nette winzige Schabernack, ganz genau in den Ortsteil Schneppenbach, im bayerischen Spessart, im guten alten Landkreis Aschaffenburg, im Kahlgrund im Höllenbachtal, am Reuschberg, nicht weit vom Schöllkrippener Forst entfernt. Ich denke, dort sind diese 3 Rabauken sehr gut aufgehoben... Auf dass wir nie wieder von ihnen hören!“

Wir alle mussten Birger recht geben. Woher zum Teufel wusste er das nur? Na ja, völlig egal. Wir waren die Merckwürdens los. Endlich! Der Richter gab eine riesige Fete. Und wirklich alle kamen. Eines bat er sich aus: Keine norwegischen Speisen!

Keine 3 Wochen später hielt ein riesiger LKW eines Umzugsunternehmens aus dem netten Ganderkesee, dem Unternehmen Mansholt zugehörig, mit riesiger Aufschrift „Mansholt, 27777 Ganderkesee“, vor der Nummer 6 der Anschrift Am Fettingkotten. Ein Friese also. Na ja, wir waren gewarnt. Labskaus also? Hoffentlich bleibt das im Magen. Wir werden sehen. Schon jetzt stellten wir uns auf Granat-Brötchen und ein wenig Ammerländer Mockturtle Suppe ein. Diversity olé!




 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.11.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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