Heute kommt der Postbote spät. Weshalb weiß ich nicht. Habe mir einen Lehnstuhl neben meinem Briefeinwurf, natürlich im Inneren des Hauses, eingerichtet, damit ich das Plopp der fallenden Briefe und Sendungen nicht verpasse. Diesen herrlichen Klang der bei mir stets Herzklopfen und Ohrensäuseln auslöst will ich um nichts in der Welt verpassen. Natürlich kommt es vor, dass ich umsonst warte. Kein Einwurf! Das sind schlimme Tage. Niemand der an mich gedacht hat. Nicht einmal ein Mensch oder ein Unternehmen das Geld von mir will, mir eine Rechnung schickt, oder mich einer Werbesendung für würdig hält. Auch heute verliere ich Zeit. Viel Zeit. Denn wer weiss ob er kommt oder nicht. Niemand ausser ihm. Es kommt vor, dass der gute Mann seine Tour einfach auf den Kopf stellt und trotzdem auf die Füsse die ihn fortbewegen fällt. Zuweilen seine Arbeit einem Stellvertreter überlässt. Und Stellvertreter sind unberechenbar. Haben ihren eigenen Kopf den sie nie auf den Kopf des Originals stellen.
Nun ja, ich denke, dass ich jetzt meinen Lehnstuhlplatz aufgeben sollte, um nach getaner Anspannungsarbeit, die auch einige Kalorien kostet, mein Vier-Minuten-Ei aufzusetzen und mit Genuss von einer Scheibe Vollkornbrot begleitet zu verzehren. Sonst würde ich mich zu Tode warten können. Und der kommt so oder so. Gewartet oder ungewartet. Mit Garantie, nicht wie der Postbote. Ich erhebe mich. Mache mich die Wendeltreppe hoch zu meiner Küchenecke. Setze Wasser auf. Steche das Ei an. Nehme den Eierbecher aus dem Schrank. Einen Löffel. Lasse das Wunsch-Ei sanft ins Wasser gleiten. Stelle die Uhr auf vier Minuten. Zufrieden beginnt diese zu ticken. Ein angenehmes viel versprechendes Geräusch, aber weit entfernt vom Plopp der Sendungsfalle die für mich Leben darstellt. Echtes Leben. Während die Eieruhr nach Ableben klingt. Eiableben das ich schlechten Gewissens nur mit der linken Herzkammer liebe. Da, Schritte vor dem Haus! Bestimmt der Postbote! Muss stracks in den Lehnstuhl um den Tageshöhepunkt nicht zu verpassen. Stol … Aiiieä ...
Notarztbericht: „Unbelebt (vom Postboten der einen dumpfen Fall feststellte, deshalb die Rettungsdienste aufbot, dann durch Feuerwehr aufgebrochene Eingangstüre) fanden wir den Empfänger des Briefs leblos am Boden liegend. Herzstillstand. Öffneten den Brief in Anwesenheit der von mir aufgebotenen Polizei. Ein Liebesbrief! Mit einem verpixelten Pic. Ähnlichkeit mit dem Verblichenen. Oder ist es tatsächlich sein Porträt? Schrieb er sich selbst Liebesbriefe? Heute ist alles möglich. Gez. DR. M.B. Notarzt
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.11.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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