Wolfgang Hoor

Weihnachten mitten im Sommer

Irgend etwas war heute besonders toll, dachte Georg. Es war ein bisschen so ein Gefühl wie an Weihnachten, wenn man ein Geschenk bekommt, auf das man schon ewig gewartet hat, mit dem man aber nicht mehr rechnen konnte. Und auch jetzt noch, bei der Rückfahrt von ihrem Ausflug ans Meer, war dieses Gefühl, diese Stimmung, noch da. Aber er wusste nicht, was ihn heute so glücklich machte, was das Geschenk gewesen sein sollte, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er schaute aus dem Fenster, sah die Scheinwerfer und die Lichter der Häuser an sich vorbeigleiten und dachte an die Lichter in der Weihnachtszeit.

 

Jetzt war eigentlich nicht der richtige Augenblick, an Weihnachten zu denken. Er saß mit Lothar, seinem jüngeren Bruder, auf der Rückbank des Wagens, der sie von einem Ausflug ans Meer nach Hause fuhr, und Samuel, der Kleine, der erst 7 Jahre alt war, saß zwischen ihnen und schlief. Die Frau, die den Wagen steuerte, war die Mutter von Samuel, der Mann, der neben ihr saß, hatte etwas mit der Freundin dieser Frau zu tun.

 

„Hej”, sagte Lothar und boxte seinen Bruder leicht. „Weißt du, was ich herausgefunden habe?” – „Ja?” – „Dass du es schaffst, genau 14 Minuten aus dem Fenster zu schauen und dabei die Lippen zu bewegen, als würdest du beten. Mann, zwei Minuten Gebet gehen ja, aber vierzehn? Du übertreibst wieder mal schrecklich.” - „Vierzehn Minuten hätte ich ohne Unterbrechung aus dem Fenster geschaut und die Lippen bewegt?”, fragte Georg ungläubig zurück. „Hm. Und wenn man mit dir reden will, muss man dich schon boxen.” – „Die Lichter da draußen sind heute für mich irgendwie anders als sonst und ich weiß, dass sie mich an etwas erinnern wollen, was ich irgendwie vergessen habe”, sagte Georg und schaute wieder aus dem Fenster.

 

„Und ich langweile mich schrecklich“, rief Lothar. „Können wir nicht irgendwas spielen? Gucken, wer als erster ein Auto mit einer Autonummer sieht, die vorne nur einen Buchstaben hat.” – „So was ähnliches haben wir doch schon heute morgen gespielt.” - „Ein M”, rief Lothar, „München, eins zu null für mich.” – „Entschuldige! Ich mag jetzt nicht. Ich will rausfinden, was ich vergessen habe und nicht vergessen sollte.”

 

„So ein Unsinn. Du bist übergeschnappt.“ Der Schlag mit der Faust, den Georg sich diesmal einfing, war schmerzhaft. Er schaute zu Lothar rüber. Seine Stimmung war wie weggeblasen. Es sah jetzt nach einem erbitterten Streit aus. „Du willst Streit!”, rief Georg wütend und boxte zurück. „Du willst verdammt noch mal Streit!” – „Au, du tust mir weh. Da hast du’s” Er schlug zurück. Und bald gab es eine ganze Serien von Schlägen mit der Faust, die beide immer mehr in Wallung brachten. „Du bist ein Egoist, weißt du das? Ein predigender Egoist.” – „Und du ein verwöhnter Kindskopf.” Jetzt schaltete sich die Frau am Steuer ein. „Gebt ihr endlich Ruhe dahinten!”, schrie sie. „Oder wollt ihr, dass ich euch gegen einen Baum fahre? Eure Eltern werden sich freuen, wenn sie erfahren, wie ihr euch benommen habt.”

 

Lothar und Georg zuckten zusammen und drückten sich in ihre Ecken zurück. Wenn ihre Eltern davon erführen, gäbe es Verhaltens-Minuspunkte und nicht zu knapp und dann würde ihnen bald wieder was gestrichen, was sie gerne gemacht hätten. „Entschuldigung”, sagte Georg. „Es wird nicht wieder vorkommen.” Die Frau erwiderte nichts. Ob sie die Entschuldigung angenommen hatte? „Waffenstillstand!”, bot Georg schließlich an. „Du lässt mich in Ruhe, und du suchst nach den Autos mit einem M oder K oder S.” – „Blödmann!”, stieß Lothar leise hervor und drückte sich beleidigt in seine Ecke. Georg musste sich sehr beherrschen, um nichts zu erwidern.

 

Und dann sah Georg wieder aus dem Fester. Die Lichter flogen wieder an ihm vorbei. Die Stimmung von vorhin, die die Lichter ausgelöst hatten, kam ganz langsam zurück. Die Lichter! Ich weiß, dass sie mich an etwas erinnern, was ich aber irgendwie vergessen habe. Eigentlich hasste er Streit, und jetzt, nach dem Ausflug ans Meer ganz besonders. Manchmal verstand er sich selbst nicht. Die an ihm vorbei huschenden Lichter draußen beruhigten ihn wieder. Er dachte über sich nach. Viele verhöhnten ihn als komischer Prediger und lachten über ihn, wenn er ein bisschen länger in der Kirche blieb als andere, und diesem Spott hatte sich Lothar angeschlossen. Das tat weh.

 

Die Lichter, die an ihm vorbeiflogen, und die Erinnerung an den friedlichen Nachmittag weckten in ihm eine Sehnsucht, die er noch nicht in Worte fassen konnte. „Hör mal Lothar”, sagte Georg, als würde er zu sich selbst sprechen, „kannst du dich erinnern, dass wir uns heute am Strand gestritten haben?” Lothar hob den Kopf. „Natürlich haben wir gestritten. Das geht doch gar nicht anders. Man braucht dich ja nur anzusehen, da fallen einem tausend Gründe ein ...” Was ist an mir so schrecklich, dachte Georg, dass Lothar mich mit den Argumenten der anderen nach mir schlägt. Er schwieg. Er schaute wieder aus dem Fenster. Die Art, wie Lothar über ihn redete, tat weh.

 

„Hörst du zu?”, fragte diesmal Lothar. „Zwischen uns gibt es halt immer Streit, ob wir es wollen oder nicht. Du bist eben ein bisschen anders als die meisten. Das ist halt so. Und eigentlich ist es auch gar nicht so schlimm.” Georg ließ die Stunden am Strand an seinem inneren Auge vorbeiziehen. „Ich kann mich an keine einzige Sekunde Streit am Strand erinnern“, sagte Georg leise. Lothar schaute Georg schulterzuckend an. „Warum ist es für dich so wichtig, ob wir heute Nachmittag Streit hatten oder nicht?” Georg wusste keine Antwort. Jetzt klang Lothar doch freundlicher als sonst.

 

Was war an diesem Nachmittag am Strand anders gewesen als sonst? Warum fand er dafür nicht die richtigen Worte? Einen schönen Strandtag, wie ihn sich die Leute vorstellen, hatten sie ja gar nicht erwischt. Ein verhangener Himmel hatte sie erwartet, das Wasser war grau, richtig ins Meer konnte man bei Ebbe nicht. Außerdem hatten sie fast alles im Auto vergessen, was man an so einem Tag braucht, Sonnencreme, ordentliche Esspakete, genug zu trinken. Und ihr Auto parkte gut 20 Gehminuten vom Strand entfernt. Ursprünglich schien es ihm und Lothar auch ganz unmöglich, mit dem Kleinen, der jetzt zwischen ihnen immer noch schlief, zu spielen. Sie hatten ihn bei der Hinfahrt nicht gekannt. Und vom Alter her gehörte er ja noch zu den richtig Kleinen. Nein, es war eigentlich überhaupt kein Nachmittag gewesen, um sich rundherum wohl zu fühlen.

 

Plötzlich meldete sich Lothar wieder mit einem sanften Stoß gegen Georgs Schulter. „Du hast recht”, sagte er. – „Worin?” – „Dass wir uns nicht gestritten haben. Echt. Hab gar nicht mehr dran gedacht. Das war wirklich ein Hit. Wir hatten nur zwei Eimer und den einen durfte trotzdem der Kleine haben.” – „Ja”, stimmte Georg zu. „Und die Sache mit dem großes Wasserloch”, ereiferte sich Lothar. „Der Samuel wollte nicht mit nach den Fischen gucken, die da rumflitzten. Der hatte Angst. Ich wollte ihm schon gerade sagen, er ist für uns zu klein, er soll zu seiner Mami gehen, und da hast du gesagt, so wichtig ist das Wasserloch für uns nun auch wieder nicht.” – „Genau so war es. Es muss einen ganz besonderen Grund gegeben haben, dass daraus kein Streit geworden ist.” Lothar war jetzt richtig bei der Sache.

 

Georg dachte: Vielleicht ist die Erklärung, warum es für mich ein ganz besonderer Tag gewesen ist, ganz einfach. Es war halt, weil wir am Meer waren und weil man da so einen weiten Blick hat. Einmal hatte Luise in einem Aufsatz geschrieben, dass das Meer einen an die Größe Gottes erinnert, und dazu hatte die Lehrerin gesagt, das wäre ein toller Gedanke. Und die Lehrerin hatte dann hinzugefügt, dass man sich am Meer ganz klein fühlt, weil man da spürt, wie groß Gott sein muss. Und darum wäre sie so gern am Meer.

 

Georg lachte auf. So ein Gedanke soll toll sein, dachte er. Es dauerte einige Zeit, und viele viele Lichter schossen an ihm vorbei, bis er wusste, dass dieser Gedanke nichts mit diesem Nachmittag zu tun hatte. Sich klein fühlen! Von wegen! Er hatte sich heute Nachmittag groß, stolz und frei gefühlt. Niemand hatte ihnen gesagt, was sie zu tun hätten. Alles hatten sie selbst in die Hand genommen. Zu dritt waren sie Entdecker, Abenteurer, Schatzsucher und Forscher gewesen. Am Strand gehörte allen alles, der Sand, das Meer, die weite Küste, und alles hatte es im Überfluss gegeben. Die Ideen, was man entdecken und erforschen könnte, waren ihre Ideen gewesen. Es hatte keinen Streit gegeben, weil sie alle füreinander wichtig geworden waren, alle, auch der kleine Samuel. Um nichts hatten sie kämpfen müssen. Niemand war da gewesen, der sie aus diesem Paradies hätte vertreiben können. Und die einzigen Erwachsenen, die mit dabei waren, hatten sich nicht eingemischt. Ein paar Stunden waren sie Erwachsene gewesen. Groß und erwachsen wie Adam und Eva im Paradies, von denen es hieß, Gott habe sie nach seinem Bild geschaffen. Ja, das war es gewesen! Das hatte diesen Nachmittag zu einem außergewöhnlichen Nachmittag gemacht. Und Georg spürte, dass dieses Gefühl immer noch in ihm glühte. Das war es: dieses Gefühl, einmal etwas ganz Besonderes zu sein. Wie oft hatte er sich das gewünscht. Nun war es für ein paar Stunden in Erfüllung gegangen. So musste auch der weihnachtliche Friede aussehen: Nur einmal im Jahr ist man so ein besonderer Mensch wie an Weihnachten. Er löste seinen Blick von den Lichtern. „Ich bin soweit”, sagte er zu Lothar. „Jetzt können wir zusammen spielen.”

 

„Wie war’s denn heute?”, fragte die Mutter von Lothar und Georg, als Samuels Mutter die beiden Jungen zu Hause zur Haustür brachte. Die beiden Jungen schauten Samuels Mutter erschreckt an. Wenn sie von dem Streit erzählen würde! Den flehenden Blick von Lothar verstand sie. „Wie Jungen eben so sind. Eigentlich waren sie ganz in Ordnung.” Und dann verabschiedete sie sich und Georg und Lothar winkten, als würden sie dem besten Mensch der Welt hinterher winken. – „Also wie war der Tag”, wiederholte die Mutter. „Wie Weihnachten mitten im Sommer.”

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.12.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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