Lara Würfel

Kazaricus - Gutenachtgeschichte

„Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte.“ Das kleine Mädchen sprang auf und ab und ihre schulterlangen, Haare wippten im Takt.
„Du bist lästig.“ Der junge Mann lächelte das Mädchen freundlich an.
„Bitte, Risko.“
„Na gut, aber nur, wenn du danach schlafen gehst“, sagte er.
„Du bist der Beste.“ Sie umarmte ihren Bruder und sprang auf das hohe Bett aus Stroh.
Risko setzte sich zu ihr und schloss die Augen. „Vor vielen, vielen Jahreszeiten, wir wissen gar nicht mehr genau, wie viele es waren, geschah etwas, das unsere Welt entstehen ließ. Wo wohnen wir noch gleich?“, fragte er und wandte sich zu ihr um. „In Kazaricus!“
„Genau. Die große Titanin Dimensionica erhielt Besuch von einem anderen Titanen. Doch statt sich anzufreunden, griff er Dimensionica an und wollte ihr Universum an sich reißen. Damit wären aber ihre vier Kinder vernichtet worden und so nahm sie all ihre Kraft, ihren Mut und ihre Fähigkeiten zusammen und kämpfte wie eine Löwin. Weißt du noch, wie der andere Titan hieß?“
„Krimdox.“
„Und was machte Krimdox?“
„Er griff Dimensionica an und ihr Aufschrei ließ das ganze Universum erbeben.“
„Ihre Kinder eilten herbei und wollten ihrer Mutter helfen, doch der Titan war viel stärker als die jungen Götter. Dimensionica blutete und aus ihren Tropfen formte sich unsere Welt. Auch ihre Kinder wurden verletzt und bluteten. Die ungnädige Göttin des Winters verlor am meisten Blut. Und was wurde aus diesen Blutstropfen?“ Er sah sie erneut fragend an. „Wir Menschen sind so entstanden!“, rief sie aufgeregt. „Der Herbstgott war aber auch schwer verletzt.“ Sie räusperte sich stark.
Er legte ihr die Hand auf den Rücken und wartete ab, bis sie sich beruhigte. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen und nie wieder losgelassen, aber er wusste, dass sie viel zu gespannt auf die Geschichte war, als dass sie seine Umarmungen zugelassen hätte. An manchen Tagen fragte er sich, wie oft er ihr noch die Entstehungsgeschichte ihrer Welt erzählen konnte. „Ja, der sture Gott des Herbstes blutete auch, woraus sich die Zwerge und die Berge bildeten.“
„Jetzt kommt Wingor.“ Ihre Stimme klang gespannt, obwohl sie die ganze Geschichte mitsprechen konnte. Wingor war ihr persönlicher Liebling.
„Und wer war Wingor?“
„Der gleichgültige Gott des Sommers, aber der wurde schnell außer Gefecht gesetzt. Aber ich weiß gar nicht, was das eigentlich heißt.“
„Das bedeutet, dass er nicht mehr kämpfen konnte und die Edechs entstanden.“
Das Mädchen lachte. „Aber die Edechs sind doch nur ein Märchen! Die gibt es nicht wirklich.“
„Doch, natürlich!“ Er riss seine Augen auf. „Ich hab zwar noch keine gesehen, aber andere schon.“
„Ach, wirklich? Und wie sehen die aus?“
Risko grinste sie an. „Sie sind groß und schuppig.“
„Ha, ha“, sagte seine Schwester. „Irgendwann werde ich mich auf die Suche nach diesen Edechs machen. Ich glaube aber, dass es sie nicht gibt.“ Plötzlich hielt sie inne und hustete. Ihr kleiner Körper beugte sie vornüber, der Hustenkrampf schüttelte sie. Sie rang nach Luft, wobei ein keuchendes Pfeifen aus ihrem Hals kam.
Panisch sprang Risko auf und versuchte zu helfen. Er nahm sie fest in seine Arme und wiegte sie hin und her. „Ganz ruhig. Ruhig atmen. Ganz langsam.“ Jedes Mal schnürte sich ihm ebenfalls der Hals zu, wenn er seine Schwester leiden sah.
Sie keuchte weiter. Tränen rannen über ihr Gesicht, aber nach ein paar Atemzügen verflog der Husten so schnell, wie er gekommen war.
„Du wartest hier“, sagte Risko und ließ sie los. Ihr Vater sollte wissen, dass sie wieder einen Anfall erlitt.
„Nein, bitte nicht!“, keuchte sie mit belegter Stimme. „Er macht sich so wie so schon viel zu viele Sorgen. Es geht mir wieder besser. Bitte.“ Sie räusperte sich und griff nach dem Wasserkrug.
Vorsichtig trank sie ein paar Schlucke. „Bleib und erzähl die Geschichte zu Ende!“
Risko seufzte. Zwar hatte sie recht, ihr Vater sorgte sich schon um zu viele Dinge, als dass er ihn jetzt noch mit dem neuen Anfall belasten sollte, aber auf der anderen Seite war es wichtig, dass er davon erfuhr. Er würde es ihm später sagen, wenn die Kleine eingeschlafen war. „Na gut. Wo waren wir?“
„Es fehlt noch die Göttin des Frühlings“, erinnerte sie ihn. „Sie hat Krimdox in die Flucht geschlagen.“
„Genau, sie hat dafür gesorgt, dass Krimdox sich verzogen hat. Aber das Blut von Krimdox verteilte sich ebenfalls über ganz Kazaricus, wohingegen die Tropfen von der Frühlingsgöttin sich oben bei den Eislanden verteilten und daraus die Elfen entstanden. Dimensionica überlebte den Kampf leider nicht. Sie starb in den Armen ihrer vier Kinder, die alle um sie trauerten. Ihre Seele ging in unsere Welt über und brachte alle Tiere und Pflanzen hervor, was wir ernten, was wir essen und trinken. Die Götter aber schworen sich, auf alles genau aufzupassen, was sie beim Kampf erschaffen hatten. Und deswegen danken wir den Göttern jeden Tag dafür, dass sie über uns wachen.“
Seine Schwester blickte auf ihre Hände. Er sah ihr an, dass sie etwas sagen wollte, also wartete er ab.
„Du, Risko …“, begann sie und verkreuzte ihre Finger ineinander. „Wieso wachen die Götter nicht auch über mich?“
„Aber sie wachen doch über dich.“
Nun traute sie sich, ihm in die Augen zu sehen. Sie waren wässrig. „Wieso bin ich dann so krank?“ Ihre Stimme war dünn.
„Das weiß ich leider nicht.“
Sie warf sich ihm in die Arme und kuschelte sich fest an sein Leinenhemd. Er drehte den Kopf von ihr weg und schloss die Augen, damit sie sich nicht mit Tränen füllen konnten. „Schlaf jetzt, damit du morgen wieder bei Kräften bist.“ Seine Stimme zitterte.
„Danke für die Gutenachtgeschichte.“ Sie löste sich und kroch unter die Decke, mit der Risko sie nun zudeckte.
„Schlaf gut, kleine Maus.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, strich ihr über das blonde Haar und stand auf. Im Weggehen strich er sich über die tränennassen Augen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.12.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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