Thomas Theo Emanuel Hannen

Einsamkeit einer westlichen Frau

(Prosagedicht)
 

Es war Dezember. Es nieselte. Sie hinkte ein wenig.
Wie jeden Tag ging sie den Weg von der Universität nach Haus zu Fuß.
Wie jeden Tag ging sie durch den kleinen Park mit der Bronzebüste des grünen Dichters.
In den Pfützen zwischen dem aufgebrochenen Asphalt der Wege spiegelte sich der graue Himmel wieder.

Auf einer Bank saß ein Mann in einem durchsichtigen Plastikregenumhang.
Auf der Bank neben ihm lag ein zugeschnürter, schwarzer Plastiksack.

Sie ging zu ihm. Sie sprach ihn an. Er antwortete nicht.
Sie berührte ihn an der Schulter. Er brummte etwas Unverständliches.
Sie fragte ihn, ob er zu ihr mitkommen wolle. Er erhob sich wortlos.
Sie fragte ihn nach seinem Namen. Er brummte etwas Unverständliches.

Zu Hause angekommen sah er sie nicht an. Er roch nach Urin. Sie zeigte ihm die Dusche.
Sie führte ihn in das Zimmer mit der Couch und dem Schrank mit den Kleidern, die ihr Mann zurückgelassen hatte.
Sie machte etwas zu Essen und stellte zwei Teller und Tassen auf den Küchentisch.
Sie wartete, bis er aus der Dusche kam.

Er ass sehr schnell. Noch immer hatte er kein verständliches Wort gesprochen.
„Schwere Zeiten!? Nicht wahr!“. Unverständliches Brummen.
„Schlechtes Wetter!“ Unverständliches Brummen.
Warum er im Park schlafe? Unverständliches Brummen.
Ab und zu zupfte er an seinem grauen Bart.
Es war Dezember. Sie dachte an den Weihnachtsmann.

Eine Woche später war er immer noch da. Sie begann sich an ihn zu gewöhnen.
Sie fragte sich, was er machte, während sie in der Universität bei ihren Studenten war.
Er liess alles dort liegen, wo er es benutzt hatte. Ausserhalb seines Zimmers räumte sie auf.
Das Zimmer mit der Couch und dem Schrank mit den Kleidern, die ihr Mann zurückgelassen hatte, betrat sie nicht.

Eines Tages fand sie auf ihrem Schreibtisch ein Blatt Papier, auf dem in ungelenker Schrift mit grünem Filzstift geschrieben stand:


ENDE DER LYRIK - DANKE!“


Noch ein paar Wochen später, wurde sie sich ihrer Einsamkeit bewusst. Von ihrem Mann hatte sie sich verabschiedet, bevor die Kinder ihre eigenen Wege gegangen waren. Ihr Verhältnis zu den Kollegen an der Universität war wie ihr Verhältnis zu den Büchern mit den vielen Buchstaben, die sich auf dem Schreibtisch ihres Büros stapelten. Mit manchen war sie befreundet und manche ihrer Studenten fand sie interessant. Jedes Semester kamen Neue hinzu, während sich die älteren Semester verabschiedeten. Ihre Namen klangen immer gleich.

Auf ihrem Weg durch den kleinen Park tauchte an diesem Tag die grüne Büste des Dichters schemenhaft aus dem Nebel auf. Sie hoffte den Mann wiederzufinden, der so wortlos die Zeit bei ihr verbracht hatte. Doch auch heute sass niemand auf der Bank. Nur ein abgemagerter Hund mit gelben Augen schnüffelte um sie herum und hob ein Bein. Als sie näher kam, senkte er den Kopf und trottete davon.

Auf der anderen Seite des Parks gab es kleines Cafe in em sie sich manchmal einen Espresso bestellte. An diesem Tag aber zögerte sie einzutreten. Die steinerne Masse, die sich über dem Lokal auftürmte, schien ihr wie ein Grabmal und sie fürchtete sich, ihre eigene Einsamkeit unter die der anderen zu mischen. Die Karyatiden beidseits des Eingangs schienen an diesem Tag besonders leidvoll zu blicken. Sie meinte zu bemerken, wie sie unter der Last des Gebäudes bebten.

Dann war da noch ein kleiner Kunstladen dessen Internetadresse in grossen, schwarzen Lettern über dem Eingang prangte. Davor standen einige wenige mit Kunstschnee besprühte Weihnachtsbäumchen aus Plastik. Eigentlich legte sie keinen grossen Wert auf Weihnachtsdekoration, da sie wie jedes Jahr zu einem ihrer Kinder flog. Diesmal aber kaufte sie eins.

Zu Hause angekommen stellte sie das Bäumchen auf den Küchentisch. Dann holte sie ein paar Glaskugeln aus der Weihnachtskiste und legte sie darunter. Als sie mit ihrem Kunstwerk zufrieden war, setzte sie sich mit einer Tasse Kaffee davor und verlor sich in Gedanken. Dann kamen die Tränen.

„Schwere Zeiten? Nicht wahr!? Kein schönes Wetter! Was suchst du überhaupt bei mir?“

Sie dachte an Toronto und die Trennung; an ihre Kinder, die so weit von ihr weg lebten; an Luisa und ihren Freund in Grönland; an Pedro, Ma und die Enkel in Klerksdorp. Schon morgen früh würde sie im Flugzeug zu Francisco unterwegs sein.

Als sie die Kerzen gelöscht hatte, setzte sie sich noch einmal an ihren Schreibtisch. Sie freute sich über die Videobotschaft mit dem vertrauten Gesicht Franciscos und seine Stimme. Ihrer verweinten Augen wegen antwortete sie nur mit einer kurzen Mail. „Freu mich auf Dich - Bis übermorgen - sabishii!“ Dann klappte sie den Bildschirm zu.

Sie wollte gerade die Schreibtischlampe ausschalten, als ihr Blick auf das Blatt mit den grünen Buchstaben des alten Mannes fiel. Eine Weile starrte sie darauf, als suchte sie etwas darin zu entdecken. Dann drehte sie das Blatt um und schrieb mit Füllfeder und schwarzer Tinte:

Der menschliche Schmerz sucht die weiten Horizonte; darunter aber ein finsteres Meer aus Galle. - C.V.

Sie versuchte diese Zeilen leise auszusprechen. Aber es gelang ihr nicht. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Es gelang ihr nicht. Es gelang ihr nicht ... - S.E.

 









 

C.V.) Cesario Verde: Gefühle eines westlichen Mannes IV - Porto 1880

S.E.) Shusaku Endo: Meer und Gift - Tokyo 1958

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