Christiane Rutishauser

Der Rand der Welt

Heute war letzte Tag im Jahr 2019. Nicht, dass diese Tatsache für sie persönlich von Bedeutung gewesen wäre, im Grunde verging die Zeit, ob man sie nun zählte oder nicht. Aber es war eben der letzte Tag im Kalender, wenn man das letzte Kalender-Blatt abriss, kam ein grauer Pappkarton zum Vorschein. Es war wie der Rand der Welt, die letzte Zigarette oder der dünne Streifen auf der Akku-Anzeige des Handys. Deprimierend. Etwas endete. Aber vielleicht war es, je nach Perspektive, auch ein Neuanfang. Ein Moment für gute Vorsätze und neue Hoffnung.

Sowieso hatte sie sich jede Menge für diesen Tag vorgenommen, bislang aber nichts davon getan. Der Wecker sollte sie um 7 Uhr wecken, trotzdem war sie erst um 10 Uhr aufgestanden. Eine große Müdigkeit und Erschöpfung hielt sie in der warmen, wohligen Umarmung ihrer Daunen-Federbett-Decke gefangen. Eingewickelt in diesen weichen Kokon, träumte es sich himmlisch. Erst nach dem Kaffee und einer Dusche, kam sie, wenn auch etwas zögerlich, in die Gänge.

Später wollte sie schnell online das Hotelzimmer für ihr Seminar buchen und musste feststellen, dass es ein Problem war. Sie rief an und erfuhr, dass der FC Bayern München genau an dem Wochenende spielte und aus diesem Grund die günstigen Zimmer ausgebucht waren. Sie hätte sich früher darum kümmern müssen und ärgerte sich über ihre Trägheit. Das Ende vom Lied war, dass sie ein ziemlich teures Zimmer nehmen musste, was sie sich eigentlich nicht leisten konnte.

Es gab so viel zu tun. Immer gab es etwas zu tun. Man hatte nie Zeit, einfach nur Zeit. Sie bekam schon Schnappatmung, bei dem Gedanken an all das, was sie eigentlich erledigen sollte. Sie musste ihre Emails und ihre WA-Kontakte checken, da waren noch einige Rechnungen und wichtige Infos drunter. Auch wusste sie noch nicht, wie sie den heutigen Abend verbringen wollte. Es gab ein paar Einladungen, aber da sollte sie sich vielleicht melden, sonst war der Zug abgefahren. Auch Grüße musste man verschicken, den Leuten einen guten Rutsch wünschen. Dann musste sie sich unbedingt die Fingernägel maniküren, die sahen vielleicht schlimm aus, Brot und Toilettenpapier einkaufen, bevor der Laden seine Tore schloss, aufräumen und das Bad putzen,  und vor allem - ihren Artikel beenden und ­ noch wichtiger ­ Vorschläge für die nächste Ausgabe machen. Sie brauchte Ideen, frische Ideen, neue Ideen, aber ihr Kopf war leer. Genervt starrte sie in den Badezimmer-Spiegel und entdeckte einen Pickel auf ihrer Nasenspitze. Wo kam der plötzlich her? Sie setzte die Brille auf, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen, er sah ein wenig entzündet aus. Sie drückte an ihm herum, bis die Nase ganz rot war. Na super! Sie sah aus wie ein Clown. Resigniert schmierte sie Penaten-Creme drauf und setzte sich dann vor ihr Laptop im Arbeitszimmer.

So konnte es wirklich nicht weiter gehen, aber was war eigentlich das Problem? Lebten nicht alle so? So wirr, gehetzt und im Chaos? War das nicht einfach normal? Sie hatte frei­  hey­ warum schaffte sie es nicht, sich zu entspannen und den freien Tag zu genießen? Sie hockte zusammengesunken vor dem Laptop, die Buchstaben ihres Artikels tanzten Salsa vor einem weißen Hintergrund, während sie die Luft anhielt vor innerer Anspannung. Meditieren! Dazu hatte ihr die Ärztin geraten.

Also setzte sie sich gerade hin, schloss die Augen und atmete tief ein und langsam aus. Immer und immer wieder. In ihrem inneren tobte derweil ein Sturm. Sie konnte ihn fühlen, alles war in Aufruhr und in Bewegung. Einatmen, ausatmen, sich nur auf den Atem konzentrieren. Das war so langweilig! Sie konnte sich nicht darauf einlassen, es half nicht. Ungeduldig sprang sie auf, um sich einen neuen Kaffee aufzubrühen.

Es war bereits Nachmittag. Bea hatte ihr eine lange Sprachnachricht geschickt. Sie lauschte der hohen Stimme ihrer besten Freundin. Sie sprach schnell, erzählte sprunghaft und verhaspelte sich mehrmals. Auch sie hatte so viel zu tun, nicht einmal Zeit, um die Worte auszuformulieren.

 

Wollte sie die Einladung zum Raclette annehmen oder lieber zuhause vor dem Fernseher abhängen oder lesen? Im Grunde hatte sie keine rechte Lust auf Gesellschaft. Man konnte sich auch einsam fühlen, wenn man unter Menschen war. Das wusste sie nur zu gut.

Vielleicht sollte sie dem Rat ihrer Freundin folgen und sich zum Online-Dating aufraffen. Vielleicht war der letzte Tag im Jahr ein guter Tag, um mit dem Single-Dasein Schluss zu machen? Was die Partnersuche anbelangte, näherte sich für sie auch der letzte Tag. Ihr lief die Zeit davon, wenn sie nicht allein alt werden wollte. Ihre Kollegin Sandra hatte, nach langem Suchen, einen sehr netten Freund gefunden, sympathisch, kinderlieb, sportlich, allerdings führte sie jetzt eine Fernbeziehung. Man blieb auf Distanz, hatte so viel Spaß zusammen wie möglich und machte keine Zukunftspläne. War das die Beziehung der Zukunft?

Die Sache mit dem Online-Dating scheiterte für sie meistens schon beim Anlegen eines Profils! Was war ihr Profil, fragte sie sich? Das Profil war natürlich wichtig, es war das Aushänge-Schild, an dem sich potentielle Bewerber orientieren würden. Nur war es so schwierig, sich selbst zu beschreiben, selbst für sie, die mit Worten jonglierte wie andere mit Zahlen. Ihr kompliziertes Inneres glich einem Kaleidoskop, das ständig seine Form und Farbe veränderte und immer neue verwirrende Muster bildete. Sie liebte dieses Farbenspiel und suchte jemanden, der ihre Muster verstand, aber wie sollte sie diese Muster für andere verständlich machen? Ihre Lust auf schlechte Dates hielt sich auch in Grenzen. Sie war nicht der lockere Typ. Ein missglücktes Date verfolgte sie wochenlang. Es war wie eine fiese Lebensmittelvergiftung.

Sie war schon wieder abgeschweift und hatte sich nicht auf den Artikel konzentriert. Ihre Nägel sahen zum Weinen aus und das Bad wartete geduldig darauf, geputzt zu werden. Heute war der letzte Tag im Jahr. Die Zeit lief ab. Sie musste einfach mal irgendwo mit irgendwas anfangen. Zur Tat schreiten, aber auch zur Ruhe kommen. Was konnte man tun? Wie schaffte man es, zur Ruhe zu kommen, ohne müde zu werden, ohne sich zu langweilen oder sich einsam zu fühlen? Wie schaffte man es, alltägliche und langweilige Pflichten zu erledigen und gleichzeitig glücklich zu werden, wenn man kein Zen-Meister war? Noch hing das letzte Blatt am Kalender. Sie hatte es nicht abgerissen. Der Tag war ja noch nicht vorbei. Ein paar Stunden dauerte er noch. Und erst die lange und dunkle Nacht. Die Silvesternacht! Sie würde auch in diesem Jahr wieder mit einem lauten und bunten Feuerwerk enden. Rauchschwaden würden aufsteigen und ein paar Leute würden sich beim Knallen die Finger verbrennen. Der letzte Tag im Jahr verabschiedete sich stets mit Getöse, Lärm und Chaos. Er war eine richtige Diva, plusterte sich auf, als wäre er etwas Besonderes. Die Party-People feierten, die Kinder durften wach bleiben, der Alkohol floss in Strömen und im Fernseher lief für die Einsamen, wie jedes Jahr, „Dinner for One“. Zur Ruhe kam sowieso niemand. Es war ein Ausnahmezustand. Sie nahm die Einladung zum Raclette an. Besser gemeinsam mit Freunden über den Rand der Welt hüpfen und feiern, solange ihr Akku noch hielt. Sie durfte nur nicht vergessen, am nächsten Tag einen neuen Kalender aufzuhängen. Es ging doch immer irgendwie weiter, nicht wahr? Bis zum Schluss.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.12.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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