Jürgen Behr

Wanderung

 

Eine ungewöhnlich stürmische Nacht war es gewesen, ein warmer und unbändiger Herbstföhn war wirbelnd in die Hinterhöfe der Häuser gefahren, hatte alles Papier, Blätter durch die Strassen gesegelt, hatte Radfahrer spielerisch gebremst und sie zur Seite gedrückt, war weitergestürmt, an anderen Dingen seine Kraft zu proben. Heulend, pfeifend war er bald da, bald dort, sprang hin und her und zog und zerrte an allem, um zu sehen, ob es niet- und nagelfest sei. Und keine Zeit wurde ihm lang.

 

In eben dieser sturmumtosten Nacht machte sich ein junger Mann auf den Weg aus der Stadt hinaus aufs Land, zu seinem Heimatdorf, denn er war zu Besuch gewesen bei Freunden in der Stadt und hatte darüber die Zeit vergessen. Der letzte Bus war schon längst abgefahren, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als zu laufen. Er hatte sogar das Glück, dass ihn ein freundlicher Autofahrer noch eine gute Strecke weit mitnahm, aber dann hatte dieser einen anderen Weg, und er stand an der Kreuzung im nächtlichen Dorf und schmeckte noch den Auspuffgeruch auf seiner Zunge, während das Auto rasch enteilte.

 

Fünf Kilometer waren es bis zum nächsten Dorf, wo er - dies fiel ihm plötzlich ein - ein Fahrrad stehen hatte, also, fünf Kilometer. Missmutig trottete er auf dem Bürgersteig dahin. Er dachte nichts dabei. Der Wind schaukelte die Neonlampen, die über der Strasse hingen und kalkiges Licht auf dem Asphalt ausbreiteten, und griff dem Wanderer ins Haar. Die letzten Häuser glitten langsam vorbei, dann lag das nächtlich hallende Dorf hinter ihm.

 

Stoßend trieb der Wind raschelnde Blätter über die Strasse, ließ sie kreisen und sich verfolgen; er griff mit allen Fingern in die Haufen braunen, erstarrten Laubes und ließ sie auffahren; mächtig mit ihm rauschten die Kronen der alten Eichen, im alten, verlassenen Schlosspark sah er eine große Trauerweide in lautlosen Wellengesang sich wiegen und traurig sein im Wind. Vor einem im Westen hellleuchtenden Horizont zogen schwarze Wolkenfetzen stürmische, geisterhafte, zerrissene Wesen, irgendwohin fern; Luft war voll verwirrender Gerüche, voll versteckter Ahnungen, voll sanfter Macht um das Herz. Leicht hob sich die Strasse auf und ab, es erfasste ihn der ergreifende Rhythmus des Gehens, ein wie ewiges Hin und Her, swingin`, swingin`, swingin`... Es wurde ihm heiß, und die Welt war bald unbegreiflich, bald selbstverständlich ... Langsam schob sich die dunkle Silhouette des Waldes näher, bis er ganz in der auftragenden Dunkelheit sich befand. Irgendwo im Dunkel der Stämme knackte etwas über den Waldboden, raschelte. Erstarrte Blätter wehten herunter, tapsten leise durchs Geäst; leicht berührte eines sein Gesicht, fiel auf die Strasse.

 

Er blieb stehen. Voll trauriger Gedanken: was er geredet hatte, hatte das einer wirklichen Suche gedient? Redete er nicht vielmehr eitel? War das, was er heute Abend getan hatte, von Liebe getragen gewesen? Oder hatte er nicht vielmehr wieder versucht, der Herausforderung der Liebe zu entgehen? Der Herausforderung, die ihn so schreckte, wenn er irgendwo etwas hörte oder las, das unausgesprochen Liebe verlangte, nicht Eigenliebe, nicht Feigheit vor dem Feind in sich selber. Der Feind, das war das, was sich immer unangreifbar machen wollte, wohl in der Meinung, sich verteidigen zu müssen; das sich in die Oberflächlichkeit flüchtete, um sich zu gefallen; das manchmal sogar erschreckend brutal und rücksichtslos war; es war imstande, skrupellos alles niederzumachen. Und dann: war nicht auch der Gedanke, dass er diesen Feind habe, nur deshalb, um wieder ein bisschen sich zu besänftigen? War nicht der Gedanke, dass er einen Feind in sich habe, absurde Erfindung dieses Feindes, der sich immer wieder aus sich selbst schuf? War er nicht so in einer selbstgeschaffenen Hölle?

Die Furcht vor der Welt, die sich so selten löste, sie war diese absurde, sich ständig aus sich selbst nährende Teufelei. Man durfte sie getrost vergessen.

 

 

 

...ich frage mich

in dieser Nacht

wohin mein Weg wohl führt,

wohin die Götter und mein Menschenmut

mein armes stolzes Schiff über die Meere weh`n

 

Ich will ruhig sein

in dieser Nacht,

die sich nicht verliert

und um alles wacht

und ich will mein Schiff besteigen,

Segel setzen und mich aufs Meer begeben“.

 

 

In einer Waldschneise am Weg stand seit langer Zeit schon eine schöne alte Kapelle, mit einer hellen Glocke im spitzen Türmchen und hohen gotischen Fenstern; oft schon hatte der junge Mann sie flüchtig, im Vorbeifahren erblickt; an hellen Sommertagen stand sie ruhig in der hohen Waldeskühle, während auf den Heuwiesen die Wärme brütete und golden im gleißenden Licht die Mücken schwärmten; winters schien sie schneebedeckt einen einsamen Trotz zu halten, und schwarz fiel die schwere Holztür in den flüchtigen Blick.

Einmal, letzten Sommer, hatte er auf seiner Fahrt angehalten und das Innere der Kapelle aufgesucht; hell und kühl war es in ihr gewesen und still, ganz still. Er empfing den Geruch und die Kühle und die Stille, und als er sich wieder auf sein Gefährt setzte, da war es nicht, als sei nichts geschehen ... Doch bald war die Stille in ihm wieder versunken gewesen.

 

Als er nun die Waldecke erreicht hatte und in die Schneise blickte, erstarrte er. In der Kapelle war Licht. Warmer Schein floss über das Gras und um die Stämme, von irgendwoher schwebte ein Ton. Verwundert und ängstlich trat er ein paar Schritte näher hinzu, trat vor eines der hohen, gotischen Fenster. Sollte er in die Kapelle hineingehen; er spürte, dass etwas auf ihn warte, dass er es gern getan hätte; da befiehl ihn eine Ahnung schrecklicher Furcht, ein feiges Erzittern, so hell leuchtete das Licht, so mild, so strahlend. Heftig und wild kämpfte etwas in ihm, um ihn, tobte und riss ihn zu Boden. Dann wusste er nichts mehr von sich.

 

Irgendwann erwachte er von strömendem Regen. Er fand sich an der rauen Sandsteinwand der Kapelle liegen. Ihre Fenster waren dunkel. Er erhob sich langsam und ging zur Tür. Vorsichtig drückte er die Klinke nieder und zögerte einen Schritt hinein. Er horchte ins Dunkel. Nichts.

Ist da ...?“ Nein. Nichts.

Verlegen schloss er die Tür wieder.

Wie du willst ...

 

Mechanisch laufend erreichte er das Dorf, vom niederprasselnden Regen bis auf die Haut durchnässt. Es störte ihn nicht. Mechanisch bestieg er sein Fahrrad und legte die Strecke zurück. Als er die letzte Steigung, die Passhöhe bezwungen hatte, blieb er oben stehen und sah ins Tal hinunter. Da blinkten ein paar Lichter seines Heimatdorfes herauf, die Erde aber schlief.

Fallen ist keine Schande, aber liegen bleiben“, sagte er.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.01.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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