Lutz Gerritzen

Vaterlos

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Dein Vater war ein Drecksack.“ Carolas Mutter war nie müde geworden, dies zu betonen. Selbst kurz vor ihrem Tod im Uerdinger Krankenhaus hatte sie auf Carolas Frage nach dem Namen jenes Mannes, der 22-jährig Krefeld verlassen hatte, ohne zu wissen, ein Kind gezeugt zu haben, den Kopf geschüttelt: „Ist mir entfallen. Ist auch nicht wichtig. Wahrscheinlich ist der Drecksack sowieso mittlerweile an Aids krepiert. Oder von einem Nebenbuhler erschlagen worden.“ Und dann hatte Lydia von Rogner ihre Augen für immer geschlossen. Bauchspeicheldrüsenkrebs, eine ebenso schnelle wie erbärmliche Angelegenheit. Drei Jahre waren seither vergangen, und es gab zwei Gründe dafür, dass Carola an ihre Mutter und ihren Vater denken musste. Zum einen stand ihr 25. Geburtstag kurz bevor, und bereits als Kind hatte sie gewusst, dass Papa genau an diesem Tag vor der Tür stehen würde; zum anderen war sie sich sicher, dass ihr Vater jetzt, in diesem Moment, auf der Hundewiese stand, die den Dahlerdyk mit dem Gahlingspfad verband. Es war halbsechs, und der Mann im Anorak schaute direkt zu ihrem Zimmerfenster hoch. „Kscht, halt die Klappe“, fuhr Carola ihren Malteser-Hund Lubitsch an, der mal wieder knurrenderweise das Gassigehen einforderte. Ein echter Frühaufsteher, viertel nach fünf, halb sechs, das war seine Zeit. Carola war dies gleich, sie schlief schlecht, seitdem sie denken konnte. Sie löschte das Licht in ihrem Zimmer, ging die Treppe hinunter, nahm die Leine vom braunen Haken, der einem Hirschgeweih nachempfunden war, und ließ Lubitsch raus. Der Mann im Anorak war verschwunden. Ich verstehe dich, Papa. Es soll ja schließlich eine Überraschung sein.

 

Die spärlich beleuchtete Hundewiese, vor allem aber der Trampelpfad hinter dem Wendehammer war frühmorgens eine Quelle von Gänsehaut und Erschrecken. Carola war jedes Mal froh, wenn sie Herrn Ernst mit seiner riesigen Dogge Itam traf. Zwar sträubten sich ihr die Nackenhaare, wenn der schwarze Riese lautlos aus dem Nichts auftauchte, aber sie fühlte sich doch erleichtert. Doch meist lag der Trampelpfad um halb sechs morgens verlassen da. Die letzten Anzeichen menschlichen Lebens ließ man mit dem Russenblock hinter sich, wo rund um die Uhr Fernseher liefen und auf dem ein oder anderen Balkon geraucht wurde. Und dann kam der Trampelpfad, in die Zange genommen von einer unkrautübersäten Wiese mit einer Handvoll knorriger Bäume, allerlei raschelndem Gestrüpp und den armseligen Rückwänden einiger Lauben, die zu einer fast verlassenen Klein-gartenkolonie gehörten. Wenn Carola zwei Stunden später mit dem Trekking-Fahrrad den gleichen Weg nahm, konnte sie die Angst der frühen Morgenstunden nicht mehr nachvollziehen.

 

Christian Jessen hatte Krefeld mit 22 Jahren verlassen. Was ihm durchaus schwergefallen war, denn Lydia war schon eine ziemliche Granate, und er liebte seinen Kellnerjob in der Szenekneipe Pferdestall auf der Rhenania-Allee. Als Kellner hatte man bei den weiblichen Gästen oft leichtes Spiel, auch Lydia hatte er im Stall kennengelernt, als sie ihren Queue so ungeschickt ausfuhr, dass ihm zwei Tassen Kaffee vom Tablett rutschten und zerbrachen. Ein Billardspiel nach Feierabend – nur Lydia und Christian, eine Flasche Rosé und Outlandos d'Amour von Police –, und schon waren die nächsten Wochen in sexueller Hinsicht gesichert. Leider war er Lydias Eltern, die eine Villa an der Hüttenallee bewohnten und Teil einer zwar aussterbenden, aber dennoch omnipräsenten Textildynastie waren, alles andere als genehm. Im April 1981 machte ihm die alte von Rogner, die Christian sowohl für einen Träger noch unentdeckter Hepatitis-Viren als auch für einen LSD-Dealer hielt, ein Angebot, das er nach einigem Zögern annahm. Für eine ansehnliche fünfstellige Summe versprach er, aus Lydias Leben zu verschwinden und nie mehr Kontakt zu ihr aufzunehmen. München wurde seine neue Heimat. Von dem Geld ließ es sich lange und wunderbar lässig studieren, seine Examensarbeit in Romanistik schrieb er über Le Malentendu von Camus, und mit 33 eröffnete er mit zwei Kommilitionen eine Studentenkneipe, die bis zum heutigen Tage gut lief. Er hielt sich an die Abmachung mit der alten Hexe, auch wenn er Lydia das ein oder andere Mal nachtrauerte. Aber vor vier Tagen hatte die E-Mail seines alten Kumpels Noppes ihn doch ziemlich aufgewühlt. Noppes hatte geschrieben, dass Lydia vor einigen Jahren verstorben sei (Christian konnte sich mittlerweile kaum noch an sie erinnern), aber augenscheinlich eine Tochter habe, denn die Schwester der alten von Rogner (die leicht bucklige Tante Marlene, fuhr es Christian durch den Kopf) sei bei ihm in der Konditor! ei gewes en und habe eine Torte in Form einer 25 bestellt. „Für meinen Sonnenschein, wissen Sie, Carola wird 25.“ Dann hatte Tantchen das Aigner-Portemonnaie gezückt, um zu bezahlen, und da habe er, Noppes, dieses Foto gesehen. „Und jetzt halt dich fest, Alter“, hatte er gemailt, „Sonnenschein sieht genauso aus wie du mit Anfang Zwanzig.“ In diesem Moment hatte Christian sich entschlossen, nach mehr als 25 Jahren wieder Krefelder Boden zu betreten.

 

Vieles, Papa, besitze ich nicht von dir. Kein Bild, keinen Brief, ich weiß noch nicht mal deinen Namen. Aber jetzt weiß ich ja ungefähr, wie du aussiehst, auch wenn es noch dunkel war heute früh. Scheinst dich ja ganz gut gehalten zu haben für deine ... leider weiß ich auch nicht, wie alt du bist. Aber das kannst du mir übermorgen ja alles erzählen. Wenn du wüsstest, wie aufgeregt ich bin. Ein Gedicht habe ich von dir, du hast es Mama mal auf eine Serviette geschrieben, als ihr am Haricksee rudern wart und danach Käsekuchen gegessen habt: Und der Horizont trug schwer an seinen Wolken. Und sie hielt an. Und sie stieg aus. Und der dunkle Wind schmeckte mandelbitter. Und sie schnitt den Roggen ab vom Felde. Und sie kam zurück. Und der Asphalt lag ruhig im feuchten Koma. Und sie legte ihr Getreide in meinen stillen Schoß.

 

Carola klappte ihr Tagebuch zu und schaute aus dem Fenster. Feiner Nieselregen hatte sich wie zerschnittenes Lametta auf das Gras der Hundewiese gelegt. Der Mann im Anorak – ihr Vater – war nicht da, lediglich der junge Zwei-Meter-Typ mit dem Berner Sennenhund versuchte, dem schwerfällig dahintrottenden Tier das Stöckchenholen schmackhaft zu machen. Vergeblich. Still war es im Haus, ihre Großtante Marlene war mal wieder in der Karibik, aber „an deinem 25. Geburtstag, mein Kind, bin ich natürlich wieder da, wenn auch erst gegen Mittag.“ Übermorgen also. Ich bin mal gespannt, ob Papa schon morgens oder erst abends kommt.

 

Christians Wiedersehen mit Noppes fiel feucht-fröhlich aus. Sie begannen mit einer Revival-Tour durch den Krefelder Ortsteil Gartenstadt, wo sie beide aufgewachsen waren (der Bär auf dem Insterburger Platz war versetzt worden, und das Lebensmittelgeschäft Illing war längst einem Fitness-Center gewichen; aber der Laden vom alten Hütter, aus dem sie Unmengen von Mohrenköpfen rausgeschleppt hatten, meist, um sie sich gegenseitig ins Gesicht zu klatschen, existierte noch). Noppes hatte Christian mehrmals in München besucht, doch ihr letztes Zusammentreffen lag immerhin acht, neun Jahre zurück. Abends versackten sie im Nordbahnhof – bei Bier und Speckpfannekuchen und amüsierten sich über das Pärchen am Nebentisch, dem der Name der isländischen Hauptstadt nicht einfallen wollte (während er für Ragnarök, „aber irgendwie rückwärts gelesen“, plädierte, favorisierte sie Stavanger).

 

Carola war im Moment solo. Ihre letzte Beziehung – mit Hannes, der im Verlag als Test-Redakteur angefangen hatte, war nach einigen Monaten in die Brüche gegangen. Der Spinner meinte, sie klammere – nur weil sie nach ihrer zweiten Nacht den Vorschlag gemacht hatte, gemeinsam einen Teil des Sommers an der italienischen Riviera zu verbringen. Leider sah sie ihn täglich, und im Prinzip konnte er ihr (Carola war Redaktionsassistentin) sogar auftragen, ein Fax zu versenden oder den Druckertoner zu wechseln.

 

Christian gefiel seine Heimatstadt nicht mehr. Nicht nur der Minigolfplatz an der Deußstraße war verschwunden, auch der Pferdestall war einem Internetcafé gewichen. Im Stadtwald war das Entenfüttern verboten, der Egelsberg galt als Naturschutzgebiet, was bedeutete, dass die legendären Fummeleien früherer Tage im Schatten der Brombeerbüsche heute nur noch unter erschwerten Bedingungen möglich gewesen wären. Das Badezentrum (hier war er mit Lydia drei-, viermal nachts über den Zaun gestiegen, um dann festzustellen, dass sich die halbe Stadt im 50-Meter-Becken – natürlich nackt – tummelte) existierte noch, war aber zum Spaßbad umfunktioniert worden. Die Kult-Stätten früherer Zeiten suchte man in der Innenstadt vergeblich: Elpi, Bebop, Funkhaus Kamp, Funkhaus Cremer, Meschugge – alles weg. „Noppes, weiß du noch, wie wir, jeder mit fünf Mark, ins Funkhaus Kamp marschiert sind und uns nicht entscheiden konnten, ob wir Brontosaurus von den Move oder Mademoiselle Ninette von den Soulful Dynamics als Single kaufen sollten?“ Noppes schüttelte den Kopf. Er hatte sich wesentliche Teile seines Langzeitgedächtnisses weggekifft, weggesnieft und weggesoffen. Noppes knallte die Handfläche auf die Theke der Klarsicht: „Wo wir gerade von den alten Zeiten sprechen, fällt mir unsere Band ein. Iron Earth.“ Christian musste diesen Namen ganz tief aus den Windungen seines Hirns ausgraben. „Richtig. Das muss im Herbst 71 gewesen sein, als diese Trottel von der Westdeutschen Zeitung auf uns reingefallen sind.“ Jetzt stand es ihm wieder deutlich vor Augen: Noppes, Christian, der dicke Heinz Hoenmanns und Roland Perrini, damals alle 13 oder 14 Jahre alt, hatten eine Band namens Iron Earth gegründet. Dass die Fab Four weder Instrumente beherrschten noch solche besaßen, hatte niemanden gestört. Sie schickten eine Hitparade an die Lokalredaktion, mit dem Hinweis! , es han dele sich um die zehn Lieblingssongs der Schüler des Gymnasiums Fabritianum. Zwischen Abräumer wie Get it on von T. Rex, You‘ve got a friend von James Taylor und Back street luv von Curved Air schummelten sie We are friends von Iron Earth hinien, einen Song, den es überhaupt nicht gab, von einer Band, die überhaupt nicht existierte. Die Top Ten wurden abgedruckt, die ganze Clique feierte diesen Clou mit einer spontan einberufenen Fete in Chris Bönnings Partykeller auf der Kreuzbergstraße.

 

 

Liebster Papa, ich könnte dir am Wochenende Krefeld zeigen. Es soll ja mild werden und trocken bleiben. Der November ist besser als sein Ruf, ich liebe diesen Monat. Gerade habe ich dich wieder auf der Wiese stehen sehen, schade, dass es jetzt so früh dunkel wird, ich habe dein Gesicht nicht so richtig erkennen können. Aber man sieht einem Menschen an, ob er lieb ist, ob er sanft ist. Wir könnten samstagmorgen ins Städtchen gehen, vielleicht willst du mir ja was zum Geburtstag kaufen, bei Esprit oder Zero. Oder im Schwanenmarkt. Aber dass du gekommen bist, ist ja Geschenk genug.

 

Noppes hatte recherchiert. Carola von Rogner wohnte im Haus ihrer Großtante Marlene von Rogner, die ihren Mädchennamen trug, obwohl sie zwischenzeitlich mit einem Alexander Skuballa verheiratet war. Die von Rogners behielten ihren Namen, das war Tradition. Die Villa auf der Hüttenallee war verkauft, Lydias Eltern waren tot. Noppes hatte Carola mittlerweile gesehen, als sie mit ihrem Köter spazieren ging, den ganzen Breiten Dyk runter bis zum Hochzeitswäldchen. Carola sah in der Tat aus wie der junge Christian, beiden gemein waren das recht dünne braune Haar und vor allem die tiefliegenden Augen, die dazu neigten, dass sich dunkle Ränder unter sie legten. Sein Vater hatte Noppes früher immer erzählt, so sähen Menschen aus, die Würmer hätten. Hatte Christian Würmer? Noppes wusste es nicht, es war ihm auch völlig egal. Jeder nach seiner Façon.

 

Noppes, der Christian um den nicht vorhandenen Bauchansatz beneidete, fand Carola nicht wirklich attraktiv, was primär an ihrer Körperhaltung (kein richtig gutes Hohlkreuz) und ihrem Gang (zu schnell, erotische Frauen bewegten sich langsamer) lag. Hübsch war sie sicherlich, sportlich, schlank, aber sie hatte keine Ausstrahlung. Und die Lippen waren zu dünn (die hatte sie offensichtlich von den arroganten Pinseln mütterlicherseits). Sie sieht, dachte Noppes und zog an seiner Gauloises, ein bisschen aus wie ein Creek, so ausgetrocknet. Na ja, er würde nie ein Dichter werden, Christian hatte zur Poesie durchaus Talent, dafür kann ich besser Torten.

 

Es ist schon ein wenig seltsam. Kurz vor meinem 25. Geburtstag sitze ich ganz allein in der Badewanne. Vielleicht hätte ich doch mit ein paar Leuten in ihn reinfeiern sollen, dann hätte ich dich, Papa, als Geburtstagsüberraschung präsentiert. Du wärst Punkt null Uhr aus einer riesigen Torte gestiegen und hättest der staunenden Bagage gesagt: „Darf ich mich kurz vorstellen: Ich bin der Vater von Carola.“ Und dann hätten wir alle angestoßen und Happy Birthday von Stevie Wonder gespielt. Na ja, ich sollte nicht so ungeduldig sein. Morgen wird sicher der schönste Tag in meinem Leben.

 

 

Noppes, der als Konditor über geschickte Hände verfügte, packte die Pralinen für Carola ein. „Sag mal, wenn du da gleich um Mitternacht klingelst, was sagst du denn dann eigentlich?“ Die Frage war berechtigt, Christian konnte sie so recht nicht beantworten. „Das entscheide ich situativ“. Noppes kratzte sich an seinen buschigen Augenbrauen: „Vielleicht ist sie ja gar nicht da, sondern feiert irgendwo in ihren Geburtstag rein. Und ich würde nicht darauf setzen, dass sie eine Ähnlichkeit zwischen euch entdeckt, denn Gleiches erkennt sich nicht immer unbedingt. Ist, glaub ich, von diesem Adorno, der Satz.“ Beide lachten. Noppes hatte von Adorno schließlich genauso wenig Ahnung wie Christian vom Kuchenbacken. „Ich glaube, wenn sie aufmacht, sage ich einfach: Herzlichen Glückwunsch. Ich habe Ihre Mutter gut gekannt.“ Noppes nickte: „Sei nur froh, dass Großtantchen noch nicht da ist. Der Clan kennt kein Erbarmen.“

 

 

Es war natürlich kein Wunder, dass Carola nicht einschlafen konnte. Sie war gegen halb elf ins Bett gegangen und hatte seitdem alle zehn Minuten auf das Leucht-Display ihres Weckers geschaut. Alle Einschlafübungen hatten versagt. Komponisten von A bis Z (meistens schlief sie nach Händel ein, weil ihr niemand mit I oder J einfallen wollte) ebenso wie Obst und Gemüse von A bis Z (hier erwies sich die Strecke nach H regelmäßig als Übergang vom Wach- in den Dämmerzustand). Kurz vor Mitternacht stand sie dann doch auf und schaute, einem Automatismus folgend, aus dem Fenster. Da stand ihr Vater! Und jetzt ging er in Richtung Trampelpfad. Carola fasste einen Entschluss. Sie würde ihm nachgehen und ihn hineinbitten, dann könnten sie beide um Mitternacht ihren Geburtstag feiern. Wieso war sie nicht schon früher auf diese famose Idee gekommen? Lubitsch schlummerte sanft in seinem Körbchen, er würde wahrscheinlich nicht einmal merken, dass sie für ein paar Minuten das Haus verließ. Rasch steckte Carola noch ihr Handy und Großtantchens große Haushaltsschere (die Tube mit dem Pfefferspray suchte sie bereits seit Wochen vergeblich) in die Tasche ihrer Barbourjacke.

 

Christian war natürlich zu früh. Und dies, obwohl er das Zoozie’s erst um zwanzig vor verlassen hatte. Aber Westwall, Nordwall, Sternstraße und Drießendorfer Straße waren ohne Verkehr gewesen, und er hatte Grüne Welle gehabt (ein Phänomen, was von alteingessesenen Krefelder bezweifelt wurde). Zehn Minuten würde er noch warten müssen. Langsam wurde es ein wenig kalt in seinem Golf. Die Pralinen lagen auf dem Beifahrersitz, ebenso der Champagner. Auf Blumen hatte er verzichtet, er konnte sich nicht vorstellen, dass eine Frau Mitte Zwanzig auf dieses Grünzeug abfahren würde. Gerade hatte er noch einmal kurz die Augen zugemacht, da nahm er eine Bewegung wahr. Carola verließ das Haus und bog rechts auf die Hundewiese ab. War sie doch verabredet? Christian beschloss, ihr hinterherzugehen und sich zu outen. Er wollte das Eingeständnis seiner Vaterschaft hinter sich bringen wie einen lästigen Zahnarzttermin, zumindest signalisierte ihm der Druck in seiner Magengrube, dass dieser Vergleich durchaus Hand und Fuß hatte. Denn morgen ist Großtantchen wieder zurück, und die kann mir gestohlen bleiben. Halt, Alter, es ist stockdunkel. Nimm deine Maglite mit.

 

 

Erst auf dem Trampelpfad holte Carola ihn ein. Er trug den Anorak, und weil es wieder angefangen hatte zu regnen, hatte er sich die Kapuze aufgesetzt. Obwohl sie „Papa, bleib doch einfach stehen“ sagte, marschierte er weiter. Zwei, drei Schritte, dann hatte sie ihn erreicht und berührte ihn an der Schulter. Er drehte sich um und starrte sie mit angsterfüllten Augen an. „Papa, hab ich dich erschreckt? Hast mich wohl wegen der Kapuze nicht gehört.“ Einem plötzlichen Instinkt folgend, umarmte sie ihn. Papa, liebster Papa, hab ich dich gefunden.

 

Auf einem seiner stundenlangen Spaziergänge hatte er clamo, clamas, clamat, clamamus, clamatis, clamant, Sie tun mir weh vor einigen Tagen das Fenster entdeckt, hinter dem der blassgelbe Lampenschirm mit den grünen Schwalbenmotiven mercatores per atrium currunt ich will das nicht bitte lassen Sie mich doch gehen das Zimmer ausleuchtete. Dieser Anblick zog ihn magisch an, die Schwalben ähnelten denen auf dem Kostüm von Frau Rosenthal, das diese trug, als man ihn aus den Händen seinen sadistischen Lateinlehrers Rumsfeld befreite. Aber dieser Zusammenhang ubi caecilia est? In thermis caecilia et amica agitatoris sunt war Jasper Mengel nicht bewusst. Jeden Abend und jeden frühen Morgen führte ihn sein Weg seither vom Königshof, Abteilung Elisabeth, über den Ostwall, die Blumentalstraße iter, itineris neutrum und den Dahlerdyk zu den Schwälbchen. Zurück ging es über den Trampelpfad, die Bismarckstraße entlang, am Moltke-Gymnasium vorbei, dann rechts in die Uerdinger Straße, bis der Ostwall wieder vor Jaspers Augen auftauchte. Und jetzt hatte ihn Rumsfelds Tochter gepackt und wollte ihn zurück ins Internat bringen. Es muss seine Tochter sein, sie sagt Papa. Als er ihre Hand wegschlägt, rutscht sie aus. Und dann nimmt ihm der Schlag einer riesigen Taschenlampe das Bewusstsein.

 

Christian war heilfroh, seine Maglite mitgenommen zu haben. Er zögerte keinen Augenblick, sie der mit einer Anorakkapuze verhüllten Gestalt auf den Schädel sausen zu lassen. Er hatte 25 Jahre lang nichts von seiner Tochter gewusst, jetzt konnte er sie wenigstens beschützen. Niemand würde sie jemals ohne seine Er-laubnis gegen ihren Willen anrühren. Auch wenn er ahnte, dass diese Gefühlsaufwallung nah am Kitsch rührte, stand er zu ihr. Dreimal, viermal zermalmte er mit dem schweren Gerät die Wangen- und Stirnknochen des hilflos am Boden liegenden Mannes, der lateinische Konjugationen vor sich hin brabbelte. Einige Sekunden später durchströmte Christian ein vertrautes Gefühl, allerdings an falscher Stelle; eine warme Flüssigkeit suchte sich, dem Nacken entspringend, ihren Weg über die Schulterblätter. Carolas Schere steckte tief in seinem Fleisch. Christian war jetzt acht, es ist Freitag, ein September-Mittag im Jahre 1966. Christian sitzt mit seinen Eltern und seinen beiden älteren Schwestern am Küchentisch. Ati liest die Bravo, Christian erheischt einen Blick auf die Bravo-Musicbox. Oft kopiert – nie erreicht. Endlich ist sein Lieblingslied With a girl like you von den Troggs unter die ersten Fünf gekommen. Jetzt kommt Herr Gawlik, der Mann, der jeden Freitag zehn Eier ins Haus bringt. Papa sagt, er freue sich auf den Amateur-Boxländerkampf Deutschland–USA, der um 22.15 Uhr im 1. Programm gezeigt wird. Herr Gawlik wird „Frula – Musik und Tänze aus Jugoslawien“ im ZDF gucken.

 

Christian hat noch einmal kurz die Kraft, sich umzudrehen und blickt in Carolas verweinte Augen. „Aber ich bin doch ...“ ist alles, was er hervorbringt. Er hört nicht mehr, wie seine Tochter Jaspers zerschundenes Gesicht mit Küssen bedeckt; er hört auch nicht mehr, wie sie über Handy den Notruf wählt. Bitte kommen Sie schnell. Ein Mann hat versucht, meinen Vater umzubringen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.02.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Über den Tag hinaus zu schauen, heißt für mich, neben dem Alltag, dem normalen Alltäglichen hinaus, Zeit zu finden, um das notwendige Leben mit Gefühlen, Träumen, Hoffnungen, Sehnsüchten, Lieben, das mit Lachen und Lächeln zu beobachten und zu beschreiben. Der Mensch braucht nicht nur Brot allein, er kann ohne seine Träume, Gefühle nicht existieren. Er muss aus Freude und aus Leid weinen können, aber auch aus vollem Herzen lachen können. Jeder sollte neben dem Zwang zur Sicherung der Existenz auch das Recht haben auf romantische Momente in seinem Leben.

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