Claudia Savelsberg

Die moderne Geschichte von Aschenputttel

Belinda stand nackt vor dem großen Badezimmerspiegel und betrachtete sich kritisch. Ihre Brüste waren erschlafft, ihre Oberschenkel zu dick und ihr Gesicht faltig. Die 47jährige mochte ihr Spiegelbild nicht, fand sich nicht mehr attraktiv. Sie wollte doch so gerne ihrem Mann Richard gefallen. Und jetzt war sie auch noch in den Wechseljahren, wurde von Hitzewallungen geplagt und litt unter ihren wechselnden Stimmungen, bekam leichte Depressionen. Ihr Frauenarzt verschrieb Hormonpräparate und riet dazu, wegen ihrer depressiven Verstimmungen einen Termin bei einem Psychologen zu vereinbaren.

Belinda recherchierte im Internet, sie suchte allerdings nicht nach Psychologen, sondern nach Schönheitskliniken. Sie plante ernsthaft, sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen. Sie wollte ihr Gesicht liften lassen, die Brüste sollten vergrößert werden, und aus den Oberschenkeln sollte Fett abgesaugt werden. Dann würde sie ihrem Mann Richard wieder gefallen. Belinda hatte sich ernsthaft in den Gedanken verrannt, dass er sich eine jüngere Geliebte nehmen würde, wenn er sie nicht mehr schön fand. Ihre Tochter Jenny redete ihr ins Gewissen: „Mutti, jetzt fängst du an zu spinnen. Lass' den Blödsinn mit einer Schönheits-OP. Vati liebt dich. Ihr seid jetzt fast zwanzig Jahre glücklich verheiratet, und er trägt dich immer noch auf Händen.“

Richard Altenburg liebte seine Frau, er vergötterte sie und erfüllte ihr jeden Wunsch. Der 60jährige war ein erfolgreicher Unternehmer und millionenschwer. Seine Frau sollte alles bekommen, was sie glücklich machte. Belinda war die Frau seines Lebens, und er war stolz auf sie. Sie war eine liebevolle Ehefrau, eine fürsorgliche Mutter und eine perfekte Gastgeberin. Um diese Frau wurde er von vielen beneidet. Richard konnte nicht ahnen, dass Belinda tief in ihrem Herzen immer noch einen Minderwertigkeitskomplex verbarg.

Belinda saß im Salon ihrer Villa und trank eine Tasse Kaffee. Auf dem Tisch lag die Hochglanzbroschüre einer Schönheitsklinik. Belinda war nicht das, was man eine schöne Frau nennt, aber sie war ein sehr aparter Typ und bezauberte durch ihre Ausstrahlung. Sie dachte an ihre Lebensgeschichte zurück, die sich las wie das Märchen von „Aschenputtel“. Sie war das Aschenputtel, und Richard war ihr Prinz. Manchmal glaubte sie, dass sie aus diesem Märchen erwachen würde und wieder in die triste Vorstadtsiedlung zurückkehren müsste, in der sie aufwachsen war.

Belinda stammte aus einfachen Verhältnissen, ihr Vater und ihr Bruder arbeiteten in einer Fabrik am Band, die Mutter ging putzen, um das Haushaltsgeld aufzubessern. Sie lebten sehr bescheiden. Die Mutter wünschte sich manchmal, dass es ihre Tochter einmal besser haben würde. Belinda erinnerte sich an ihre Worte: „Wer weiß, mein Schatz? Vielleicht kommt irgendwann ein Prinz und holt dich auf sein Schloß.“ Beim Friseur las Belinda in Zeitschriften bisweilen Geschichten über die „Schönen und Reichen.“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die sich alles kaufen und leisten konnten. Es ging über ihren Horizont.

Belinda war intelligent und fleißig. Nach dem Realschulabschluss machte sie eine Ausbildung zur Fremdsprachen-Korrespondentin und bekam eine Stelle im Unternehmen von Richard Altenburg. Im Bewerbungsgespräch hatten nicht nur ihre guten Noten überzeugt, sondern auch ihre Persönlichkeit. Im Laufe der Jahre kletterte Belinda mit Disziplin und Engagement die Karriereleiter hoch und wurde schließlich Richard Altenburgs persönliche Assistentin. Sie assistierte ihm bei Vertragsverhandlungen mit ausländischen Kunden, begleitete ihn auf seinen weltweiten Geschäftsreisen. Es war alles neu für sie. Die eleganten Hotels, in denen sie abstiegen, die Geschäftsessen in teuren Restaurants. Für Belinda war dies der Gipfel an Luxus, manchmal dachte sie an ihre Familie, ihre Herkunft konnte sie nicht vergessen.

Richard Altenburg schätzte Belinda sehr. Er wusste, dass sie aus einfachen Verhältnissen kam. Sie war intelligent und verfügte über eine schnelle Auffassungsgabe. Alle Herausforderungen hatte sie wunderbar gemeistert, was Richard Altenburg sehr beeindruckte. Belinda war eine außergewöhnliche Frau. Er musste sich eingestehen, dass er sich in Belinda verliebt hatte.

Richard Altenburg war ein Gentleman. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, eine Affäre mit einer seiner Angestellten anzufangen. Es gab sicher viele Frauen in seinem Untenehmen, die sich darauf eingelassen hätten. Sie wären gerne die Geliebte eines Millionärs geworden, das wusste Richard Altenburg. Aber das wollte er nicht, und er gehörte auch nicht zu den „Schönen und Reichen“, die sich gerne in Magazinen präsentierten. Er scheute das Rampenlicht und lebte relativ zurückgezogen in seiner Villa am Stadtrand.

Richard Altenburg lud Belinda immer öfter privat ein. Sie gingen zusammen essen, besuchten Opern oder Ausstellungen. Er fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart. Er war sehr verliebt in sie. Belinda freute sich über diese Einladungen und begleitete Richard Altenburg gerne. Aber in ihren Gesprächen wahrte sie stets eine gewisse Distanz, er war ihr Chef, und sie war seine persönliche Assistentin. Sie hatte sich auch in ihn verliebt, genoß die Abende mit ihm. Aber sie wusste, woher sie kam. Was hätte sie ihm schon bieten können? Sie war das Kind aus einer Arbeiter-Familie, er war Millionär.

Als Richard Altenburg Belinda einen Heiratsantrag machte, war sie überglücklich. Sie dachte nicht an ein Leben im Reichtum, sie würde den Mann heiraten, den sie liebte. Die Hochzeit wurde auf ihren Wunsch nur im kleinen Kreis gefeiert. Sie zog zu ihm in die Villa am Stadtrand, die von einem großen Park umgeben war. Richard beschäftigte einen Gärtner, der das Anwesen pflegte und eine Haushälterin, die sich um die Einkäufe kümmerte und kochte. „Liebling, du brauchst nur zu sagen, was du möchtest“, sagte Richard zu Belinda, „unsere Haushälterin besorgt alles nach deinen Wünschen.“

Belinda ging durch die Räume der Villa. Richard hatte nicht nur Geld, er hatte auch einen guten Geschmack. Jedes Zimmer war erlesen eingerichtet. Sie fragte sich, ob sie überhaupt hierhin passte? Sie, die aus einer Arbeiter-Familie stammte? Was hatte sie ihrem Mann zu bieten? Eine Freundin aus Schulzeiten rief an, ihre Stimme überschlug sich fast vor Begeisterung: „Glückwunsch, meine Süße. Du hast es geschafft. Raus aus der Vorstadtsiedlung in eine Villa. Und dein Mann hat ja richtig Kohle. Was willst du mehr?“

Belinda konnte sich nur langsam an den Gedanken gewöhnen, dass sie eine reiche Frau war. Die Gattin des millionenschweren Unternehmers Richard Altenburg. Sie hatte Geld und konnte sich alles leisten, was ihr Herz begehrte. Sie genoß den Luxus, kaufte teure Garderobe, Schuhe und Handtaschen. Einmal in der Woche ging sie zur Kosmetikerin. Aber das Geldausgeben wurde nicht zu ihrem Lebensinhalt. Tief in ihrem Herzen blieb sie das Kind aus einer Arbeiter-Familie, gewöhnt an Verzicht und Entbehrungen.

Belinda wollte von dem Geld, das sie hatte, etwas abgeben. Sie ließ ein Haus für ihre Familie bauen und unterstützte sie finanziell. Ihre Eltern hatten ihr Liebe geschenkt, und sie hatte eine glückliche Kindheit und Jugend. Jetzt war sie in der Lage, ihnen etwas zurück zu geben. Außerdem spendete Belinda große Summen an soziale Einrichtungen und an Tierschutzorganisationen. Mit dem Geld, das sie hatte, wollte sie Gutes tun. Andere Menschen sollten an ihrem Glück teilhaben, und wenn sie mit ihrem Geld dazu beitragen konnte, dann würde sie es gerne tun.

Tief in ihrem Herzen blieb Belinda das Kind einer Arbeiter-Familie, und Richard liebte sie dafür. Er war stolz auf sie, weil sie trotz des Reichtums bescheiden blieb. Sie war intelligent und schön, die perfekte Frau. Richard liebte sie abgöttisch, trug sie auf Händen.

Als ihre Tochter Jenny zu Welt kam, schenkte Richard seiner Frau ein Diamanten-Collier. Belinda hatte ihr beider Wunschkind geboren, und Richard war selig. Er war ein stolzer Vater, er liebte und verwöhnte seine Tochter. Jenny bekam ein Pony und nahm Ballettuntericht. Sie ging auf eine Privatschule. Jenny war Richards kleine Prinzessin, sie sollte alles bekommen, was sie sich wünschte.

Belinda konnte verstehen, dass Richard seine Tochter verwöhnte, und sie war glücklich, dass ihr Kind nicht unter Verzicht und Entbehrungen leiden musste. Wieder erinnerte sich Belinda an ihre Herkunft. Ihre Mutter hatte putzen müssen, um das Haushaltsgeld der Familie aufzubessern. Ihr Vater und ihr Bruder hatten in einer Fabrik am Band gearbeitet. Belinda erzählte ihrer Tochter Jenny oft davon, sie sollte wissen, dass ein Leben in Reichtum keine Selbstverständlichkeit war. Sie müsste ihrem Vater dankbar dafür sein, dass er ihr ein solches Leben ermöglichte. Belinda nahm ihre Tochter in den Arm: „Ich bin das Aschenputtel, und Richard ist der Prinz, der mich auf sein Schloß geholt hat, mein Schatz!“ Jenny war ein intelligentes Kind und begriff, was ihre Mutter gesagt hatte. Bei allem Reichtum, der sie umgab, blieb sie bescheiden. Und Richard liebte Belinda dafür, dass sie ihre gemeinsame Tochter so erzogen hatte. Belinda war die Frau seines Lebens, er liebte und vergötterte sie. Das Kind aus der Arbeiter-Familie.

Belinda schreckte hoch, offensichtlich war sie kurz auf dem Sofa eingeschlafen. Sie hatte wieder den Traum von „Aschenputtel“ geträumt, der für sie Wirklichkeit geworden war. Sie schaute auf die Hochglanzbroschüre der Schönheitsklinik und lächelte selbstironisch. Was hatte sie nur zu dem Gedanken getrieben, sich operieren zu lassen? Das war der reine Blödsinn. Ihre Tochter Jenny hatte es auch gesagt.

Richard liebte sie, er würde sie immer lieben. Das Märchen vom Aschenputtel war für sie Wirklichkeit geworden, und sie wäre ihrem Mann Richard immer dankbar dafür. Belinda ging in die Küche und gab der Haushälterin für den Rest des Tages frei. Das Aschenputtel wollte selbst für ihren Prinzen kochen.

 

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