Gisela Segieth

Valentin

Die Lehre des Valentin 

„Oh ist das schön ...“, tönte es von Ferne an mein Ohr, ohne dass ich mir einen Reim darauf machen konnte. Deshalb schaute ich aus dem Fenster. Dabei sah ich mich um, soweit es nur ging. Aber ich entdeckte nichts Besonderes und hätte mich nicht weiter darum gekümmert, wenn nicht gleich wieder ertönte: „Schau doch mal hin, ist das so schön ...“
Ich öffnete die Balkontür und stürmte hinaus. Denn jetzt wollte ich wissen woher der Ruf ertönte und auch, was so schön sein sollte. Aber weiter als bis auf meine Terrasse kam ich nicht. Auf dieser sah ich, dass viele kleine getupfte Marienkäfer einen Freudentanz um die goldgelben Osterglocken herum aufführten. Und die Osterglocken sangen im Chor ein Frühlingslied. Doch um es zu hören musste man ganz leise sein.
„Ist das nicht zauberhaft, wie sich die Marienkäfer über deinen Blumenschmuck freuen?“, wisperte mir plötzlich etwas ins Ohr. Ich erschrak, denn ich wusste, dass der Rest der Familie sich im Feriencamp befand. Wer also sollte mir hier etwas ins Ohr flüstern?
Vorsichtig spitzte ich mit einem Auge zu meinem Ohr, und was ich da sah ließ mein Herz höher schlagen. Ein winzig kleines, menschliches Wesen mit ganz großen Flügeln stand neben meinem rechten Ohr in der Luft. Dabei sah es mich mit strahlend blauen Augen freudig erregt an.
„Hallo, wer bist du denn?“, flüsterte ich ganz leise, schließlich ich wollte den kleinen Gesellen nicht verscheuchen.
„Ich bin Valentin und bleibe hier. Als Elfenkind und bring ich dir das Glück ins Haus. Das haben mir meine Eltern erzählt.“
„Valentin? Das ist aber ein schöner Name.“
„Und wer bist du?“, wollte Valentin daraufhin von mir wissen.
„Ich bin Maja und wohne hier.“
„Maja? Bist du etwa mit der Biene Maja verwandt?“
Ich musste lachen, denn die Vorstellung mit einer Biene verwandt zu sein war doch zu komisch.
„Nein, ich trage zwar den gleichen Namen aber mit der Biene Maja bin ich ganz sicher nicht verwandt.“
„Das ist aber schade, ich suche sie nämlich gerade. Ich muss sie unbedingt noch sehen bevor ich für immer bei dir bleiben kann.“
„Und warum suchst du sie gerade hier?“
„Weil … - weil mir die Marienkäfer erzählt haben, dass sie hier sein soll“, erklärte mir der kleine Elf nun. „Hast du sie vielleicht gesehen?“
„Nein, bedaure. Da kann ich dir leider nicht helfen, ich komme gerade aus dem Haus und dort ist mir keine Biene begegnet.“
„Das ist aber schade, dann muss ich weiter suchen.“
„Aber warum suchst du sie denn überhaupt?“
„Ich suche sie, weil ich ihr etwas vom Briefträger überreichen soll. Kannst du mir nicht bei der Suche helfen?“
„Kann ich machen!“, erklärte ich mich einverstanden.
„Das ist fein! Ich erzähle dir auch von wo ich komme, wenn du magst.“
„Oh ja, es hat mich nämlich immer schon interessiert wo Ihr Elfen wohnt.“
„Dann hör mir zu!“ 
Damit begann der Elf mir zu erzählen wo die Elfen wohnen und wie sie leben. Ich staunte darüber nicht schlecht, denn was ich von ihm erfuhr erinnerte mich ans Paradies. 'Ach wie schön wäre es, wenn auch wir Menschen hier auf der Erde ein kleines Paradies der Liebe und Menschlichkeit unser eigen nennen könnten', ging mir dabei durch den Kopf.
„Gibt es bei Euch eigentlich nur Schönes? Oder gibt es im Elfenland auch böse Menschen, Zank, Streit und Kriege?“
„Nein, all das gibt es bei uns nicht. Wir leben im Elfenland immer ganz friedlich beisammen. Wir machen das sehr gern und wenn wir das nicht machen würden, dann würde es uns schon lange nicht mehr geben. Außerdem ist es doch gar nicht nötig, dass man im Bösen miteinander umgeht, oder?“
„Nein, es ist wirklich nicht nötig, trotzdem geschieht es hier bei uns Menschen leider allzu oft. Denn einer neidet dem anderen das was er hat und nicht jeder Mensch hat so viel Liebe im Herzen, dass er sie seinen Mitmenschen schenken kann.“
„Warum nicht? Gerade die Liebe wächst doch dadurch, dass man sie verschenkt. Ist Euch das nicht bekannt?“, ereiferte sich Valentin.
„Ich glaube viele Menschen wissen das wirklich nicht!“
„Wieso erzählst du es ihnen dann nicht, du weißt es doch. Wenn das nämlich nicht so wäre, wäre ich nicht zu dir gekommen.“
„Wie sollte ich das denn machen?“, wollte ich wissen.
„Nun, das ist doch ganz einfach. Du sprichst doch mit anderen Menschen, oder etwa nicht?“
„Doch natürlich! Aber ich spreche mit ihnen doch nicht über solche Sachen.“
„Wieso nicht? Das ist doch das wichtigste, darüber muss man doch reden. Bei uns zu Hause sprechen wir darüber immer wieder. Zeigst du den anderen Menschen wenigstens, dass du sie liebst?“
„Ich versuche es zumindest ...“, stammelte ich unsicher.
„Und wie versuchst du das?“
„Nun, ich versuche es, indem ich mich bemühe gut zu ihnen zu sein und ihnen kein Leid zuzufügen.“
„Bemühen??? Das ist nicht gut, denn bemühen kommt von Mühe“, entschied Valentin. „Wahre Liebe muss vom Herzen kommen, und nicht vom Kopf. Aber sag mir doch einmal warum dir das Mühe bereitet. Es ist doch schön zu zeigen, dass man für andere Liebe im Herzen trägt. Was also fällt dir daran schwer?“
„So habe ich das noch gar nicht gesehen. Aber du hast schon Recht, es ist wirklich nicht immer leicht anderen Menschen zu zeigen, dass man sie liebt. Viele von ihnen legen darauf gar keinen Wert, glaube ich.“
„Was du da erzählst!“, empört wandte sich der kleine Elf von mir ab und ich befürchtete schon, dass Valentin wegfliegen könnte. Er aber drehte sich sogleich wieder zu mir um, und flog ganz nahe vor meine Augen, um mir sehr ernsthaft in diese zu blicken. 
Schon wollte er von mir wissen: „Wie kommst du nur auf solch einen Unfug?“
„Ach, Valentin, wenn die Menschen darauf wirklich Wert legen würden, wie kann es dann sein, dass sie manchmal richtig grantig mit mir umgehen? Müssten sie dann nicht viel netter sein?“
„Nein!“, entschied Valentin.
„Und wieso nicht?“
„Ganz einfach, sie haben vielleicht das Gefühl du magst sie nicht wirklich. Oder aber sie haben die gleichen Befürchtungen wie du. Es kann aber auch sein, dass es ihnen genauso viel Mühe bereitet wie dir. Hast du darüber schon einmal nachgedacht?“
„Mhm ...“, nachdenklich sah ich ihn an und schüttelte den Kopf.
„Was ist los?“
„Ich denke nach, aber schau einmal da hinten, kommt da nicht gerade eine Biene?“
„Oh ja! Das ist Willi, ich flieg mal schnell zu ihm und frag ihn ob er Maja gesehen hat“, erklärte mir Valentin und schwupps war er weg.
Von weitem sah ich zu, und was ich sah, das machte mich richtig glücklich. Ganz lieb begrüßten sich die beiden, so lieb wie ich es bei den Menschen nur selten gesehen habe, außer bei Kindern. Sie drückten und herzten sich, dann steckten sie ihre Köpfe zusammen und man hörte aus der Ferne ein fröhliches Lachen.
'Ach, wie wäre es doch so schön wenn die Menschen genauso lieb miteinander umgehen würden', ging es mir durch den Kopf. 'Um wie viel einfacher wäre der Umgang miteinander …'
Schon kam Valentin zu mir zurück und sein Gesicht leuchtete vor Glück. Dann sprudelte es aus ihm heraus: „Hast du gesehen wie man sich gegenseitig zeigt, dass man sich mag? Ich hoffe es doch, oder hast du uns etwa nicht zugesehen?“, wollte der kleine Elf von mir wissen und schaute mich prüfend an bevor er mir weiter sprach. „Jetzt kann ich bei dir bleiben. Der Willi hat den Brief für Maja mitgenommen, da sie heute miteinander verabredet sind. Jetzt hoffe ich nur, dass sich Maja darüber auch freut. Aber so gut, wie der Brief duftet, kann nur eine wunderschöne Nachricht darin enthalten sein. Also hast du uns nun zugeschaut oder nicht?“
„Ja, ich habe Euch zugesehen und mein Herz schlug dabei Purzelbaum, so lieb sah das aus“, bekannte ich. „Aber bei uns Menschen sind solche Begrüßungen eher rar, und ich glaube auch nicht, dass das andere – vor allem fremde Menschen – wirklich mögen."
Ich holte tief Luft, dann sprach ich weiter: "Die Menschen sind im allgemeinen viel zu reserviert, als dass sie so miteinander umgehen könnten. Nur bei ganz kleinen Kindern sieht man manchmal solch eine Herzlichkeit noch.“
„Dann wird es aber allerhöchste Zeit, dass du den Menschen so gegenübertrittst und ihnen zeigst wie schön das sein kann.“
„Ähm ..., ich glaube nicht, dass ich das kann!“, lehnte ich entschieden ab. „Nur mit meiner eigenen Familie gehe ich so um. Dort kann ich es weil ich weiß, dass sie sich darüber freut.“
„Dann gehst du also doch mit allen Menschen so um wie du es gerade bei Willi und mir gesehen hast. Nur wieso hast du das nicht gleich gesagt?“. Kopfschüttelnd betrachtete mich Valentin, und seine Augen verdunkelten sich dabei. „Nimmst du mich etwa nicht ernst?“
„Doch, Valentin, ich nehme dich ernst. Aber wie kommst du darauf, dass ich mit allen Menschen so umgehen könnte?“
„Das ist doch ganz einfach. Ebenso, wie wir im Elfenland alle eine ganz große Familie sind, gehört Ihr Menschen doch auch alle zu einer einzigen Familie."
"Aber wieso fragst du mich das?“
„Wir Mensch … - alle eine Familie, wie meinst du das?“
„Na, das solltest du aber wissen, oder bist du etwa nicht zur Schule gegangen? Dort musst du doch gelernt haben, dass alle Menschen miteinander verwandt sind. Schließlich stammen sie doch alle von Adam und Eva ab. Hast du das etwa vergessen???“
„Nein, das habe ich nicht vergessen, aber das ist schon so lange her, dass die meisten Menschen nicht daran denken.“
„Genau da liegt der Hund begraben“, ereiferte sich nun Valentin mit hochroten Wangen. „Denn wenn sie alle daran denken würden, dann könnte es bei Euch genauso friedlich und lieb zugehen wie bei uns. Du musst die Menschen nur einfach daran erinnern, und zwar so lange bis sie selbst wieder daran denken. Wenn du das machst, das wirst du sehen, dann können sie gar nicht anders, sondern werden von ganz allein irgendwann wieder ganz lieb zueinander sein.“
„ Ach, Valentin, wenn das so einfach wäre ...“
„Es ist ganz einfach, also fang gleich damit an. Da hinten kommt gerade jemand, der zu dir will“, forderte mich der kleine Elfe jetzt energisch dazu auf.
„Ich, ich kann das nicht!“, wehrte ich ab. „Das dahinten ist der Briefträger, mit dem habe ich bis auf einen kurzen Gruß noch nie gesprochen. Der hat doch gar keine Zeit.“
„Probiere es, ich komme mit. Wenn du dabei unsicher wirst denke einfach an das, was du eben beobachtet hast. So wird es schon klappen. Ich bin ja bei dir und kann dir zur Not dabei helfen“, ließ Valentin nicht locker.
„Hallo Frau Wolke“, tönte mir der Gruß des Briefträgers von weitem entgegen. „Ich habe was für Sie. Ich glaube es ist was Schönes.“
„Hallo! Ich komme“, gab ich erfreut zur Antwort und lief ihm sogleich entgegen. Dort angekommen reichte ich ihm die Hand, die er freudig ergriff. Gleichzeitig reichte er mir mit der anderen Hand eine bunte Ansichtskarte.
„Wie geht es Ihnen?“, wollte er von mir wissen. „Genießen Sie die Sonne ebenso sehr wie ich? Ach ja, wir haben dieses Jahr aber wirklich sehr lange darauf warten müssen", schwärmte der Postbote.
"Jetzt fühlt sich das Leben gleich viel schöner an. Denn die Herzen der Menschen scheinen sich mit jedem Sonnenstrahl mehr zu öffnen. Man könnte fast glauben sie haben es endlich begriffen, dass wir alle eine große Familie sind.“
Ich war baff erstaunt über diese Worte, deshalb konnte ich im ersten Moment darauf gar nicht antworten. Stattdessen schenkte ich ihm mein bezauberndstes Lächeln, denn ich freute mich über seine Worte wirklich von Herzen. Dann aber musste ich daran denken wie viele Menschen miteinander in Streit liegen, und ein bitterer Zug machte sich um meinen Mund breit.
„Wenn die Leute nur immer daran denken würden“, kam es traurig von mir. „Dann gäbe es so viel weniger Leid auf dieser Welt. So aber ...“
„Ja, auch ich wünschte mir sehr, dass wir alle wieder so unbekümmert wie Kinder sein dürften“, fiel er mir ins Wort. „Aber es bringt nichts darüber zu lamentieren, weil es dadurch nicht besser wird. Freuen wir uns lieber darüber, dass die Sonne die Herzen der Menschen jetzt erwärmt."
"Ich hoffe, dass das noch sehr lange der Fall ist", bekannte er. "Denn wenn dem so wäre, wäre das zumindest ein Anfang. Also lassen Sie uns der Sonne dafür danken, dass sie scheint und uns zeigt wie schön die Welt sein kann. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
„Auch Ihnen eine gute Zeit“, erwiderte ich den Gruß. Dann ging der Briefträger weiter und ich begann die Ansichtskarte zu lesen. Sie war so lieb geschrieben, dass mir dabei glatt das Herz aufging.
Ich begriff schlagartig was mir Valentin beibringen wollte und nahm mir ganz fest vor diese Lehre niemals wieder zu vergessen. Von diesem Moment an wollte ich mit anderen Menschen immer freundlich und nett umgehen, ganz gleich was auch immer geschehen würde. Und das tat ich fortan auch. Aber selbst wenn ich einmal schlecht gelaunt war dachte ich an den liebevollen Umgang zwischen Valentin und Willi.
Das zaubert mir dann gleich wieder Sonnenstrahlen in mein Herz, egal was zuvor auch geschah. Diese Liebe im Herzen erfahren seither auch alle anderen Menschen von mir. Dabei ist es für mich, als sei dieser innere Sonnenschein für alle anderen Menschen ansteckend. Denn ich ernte genau das, was ich ausstrahle.
Für mich ist das, als hätte sich mir dadurch ein kleines Paradies auf der Erde aufgetan, und ich genieße es jeden Tag aufs Neue.
Valentin aber blieb bei mir und lehrte mich noch sehr vieles, was mir seitdem mein Leben erleichtert.
Vielleicht erzähle ich Euch davon irgendwann einmal mehr ...
©  Gisela Segieth

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.02.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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