Jürgen Berndt-Lüders

Das Agreement

Wenige Tage nach meinem 76sten Geburtstag zog ich eine Zwischenbilanz. Ich kam eben vom Arzt, und der hatte mir nach einem Checkup bescheinigt, dass ich gesund sei. Zufrieden sah ich an mir herunter. Ich war nun das älteste männliche Mitglied meiner Familie, soweit zurück gerechnet, wie mir die Daten der Männer bekannt waren. Gab es etwas, was ich jetzt noch tun konnte, um noch erheblich älter zu werden?

Hmm, dachte ich. Eigentlich berücksichtige ich alle guten Ratschläge, die ich jemals links und rechtsgesammelt hatte. Mit Mitte 40 hatte ich das Rauchen beendet, Alkohol verabscheute ich, seit ich vor etwa 50 Jahren in der Öffentlichkeit unangenehm aufgefallen war, ich bewegte mich genügend, und meinen Speiseplan hatte ich irgendwann dem einer Frau angepasst, in die ich verliebt gewesen war. Ich war Vegetarier geblieben, und ich entbehrte nichts. Im Gegenteil, es hätte mich Überwindung gekostet, jetzt wieder Fleisch zu essen.

Ich bedankte mich bei meinem Körper, dass er meinen Wunsch, zufrieden alt zu werden, bisher  voll unterstützt hatte. Ich bemerkte nicht, dass ich meinem Körper plötzlich eine Persönlichkeit mit eigenen Belangen zubilligte. Bisher war ich stillschweigend davon ausgegangen, dass ein Körper sich den Wünschen seines Besitzers, seinen Plänen und Handlungen unterzuordnen hatte. Der Besitzer war der Geist, das Gehirn, die Persönlichkeit des Individuums Mensch. Irgendwo tauchte noch der Begriff Seele auf, aber die Seele war in meinen Augen mehr so ein Mythos, fast so ein religiöser Begriff.

„Pass auf“, sagte ich zu meinem Körper wie zu einem kleinen Bruder, der auf meinen Rat angewiesen ist. „Ich will noch viel, viel älter werden. Mir geht es gut, ich bin zufrieden. Erstmals bin ich nicht hinter einer neuen Frau her, die mein Leben bereichern  soll. Mein Leben ist auch so reich genug. Du, lieber Body,  willst bestimmt mithalten, bist aber auf mich angewiesen, so wie ich letztlich auch auf dich.  Deshalb verspreche ich dir hiermit, dass ich nichts tun werde, was dich stressen könnte. Aber als Gegenleistung musst du mich auf jeden noch so kleinen Fehler hinweisen, der uns schaden könnte. In dieser Symbiose müssten wir noch eine Weile durchhalten können.“

Die Freude über meinen Zustand wurde zur Gewohnheit, ich dachte nicht mehr an das Agreement mit meinem Körper und lebte so genügsam wie vorher. Weil ich unseren Pakt irgendwie doch für ein Produkt meiner Phantasie hielt, erwartete ich keine Veränderungen im Verhalten und Zustand. Manchmal belächelte ich mein Gespräch mit meinem Körper, wenn es mir wieder einmal eingefasllen war, was immer seltener vorkam.. Eine Art Placebo, dachte ich. Schaden würde es mir ganz bestimmt nicht, also beließ ich es dabei.

Mein Körper übernahm die Kontrolle über unsere Existenz. Beim Einkaufen im Supermarkt ließ er mich am Gewohnten vorbei marschieren und griff Artikel, die ich längst zu verachten gelernt hatte. Frischmilch, Paprikaschoten, Tomaten, Kartoffeln, Zwiebeln. Sollte ich etwa wieder kochen? Ich ließ ihn gewähren. Aber ich war nicht bereit, anzuerkennen, dass mein Körper bestimmte. Jeder würde mich für einen Spinner halten, wenn ich ihm die Änderungen beschrieb.

Der gesamte Tagesablauf änderte sich. Im Browser, im Internet hatte ich einen Link, den ich etwa alle 4 Wochen angeklickte. Er diente dem Beweis, dass ich noch ein Mann war. Gardine zu, Hose runter, und 3, 4 Minuten später war der Beweis erbracht. Und plötzlich beachtete ich den Link nicht mehr. Nicht mein Körper, sondern mein Ego hatte diese Beweise gebraucht. Aha, wenn’s denn nun so war, dann war es eben so.

Früher, wenn ich das Haus verlassen wollte, hatte ich gecheckt, ob an alles gedacht war. Hut-Stock-Schirm-Gebiss-Gesangbuch hatten wir früher dazu gesagt. Bei mir gehörte noch-mal-pinkeln dazu, egal ob ich Druck verspürte oder nicht. Ich stellte mich über das Toilettenbecken und und wartete, bis ich an etwas völlig Anderes dachte. Irgendwann packte ich meine Verrichtungsorgane wieder ein und verließ still vor mich hin meckernd die Wohnung. Aber dafür meldete sich mein Körper, wenn ich mein Büro verließ und Richtung Wohnzimmer marschierte, wo ich dann oft stundenlang das Fernsehen konsumierte. Kaum passierte ich die Tür zum Bad, spürte ich einen Impuls an der Blase. Und den Toast warf ich schon um acht Uhr in den Toaster und nicht erst um zehn. Statt Cola trank ich selbst gebrühten Früchtetee, den ich  abends zubereitete und über Nacht kalt werden ließ.

Ich war zufrieden und bin es noch immer. Irgendwie will ich aber immer noch nicht anerkennen, dass nicht mein Geist, meine Intelligenz, meine Flexibilität, sondern mein Körper mit möglicherweise einem Extra-Hirn im Darm verantwortlich dafür war, dass es mir so gut ging.  Dieses Gehirn soll es übrigens geben.

Nur in einem Punkt war mein Geist besser als das Ego meines Körpers. Seit Jahren ließ ich meinen PSA-Wert vom Urologen überprüfen. Der lag immer geringfügig über dem Normal-Wert, und meine Hausärztin hatte immer gedrängt, ich solle doch mal eine Biopsie machen lassen. Davor hatte ich panische Angst, und ich wiederholte lieber den Test, ohne dass es Verbesserungen gab. Bis mein Geist auf die Idee kam, ein Dekubitus-Kissen zu erwerben und auf meinen Bürostuhl zu legen, bevor ich mich drauf setze.

Seitdem sinkt der PSA-Wert.

Glaubt ihr etwa, mein Körper zeigte sich dankbar? 

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