Christa Astl

Stadtführung

B E G E G N U N G E N

 

Auf Reisen erlebt man vieles, auch so manche Begegnungen. Einige sind es wert, aufgeschrieben zu werden.

Ein warmer Apriltag. Ich fahre schon Stunden vor meinem Termin nach Innsbruck. Will ein wenig durch die Stadt bummeln, das erste Grün im Hofgarten erleben und auf einer Bank in der Sonne sitzend die Vogellieder genießen.

Der Zug ist gut besetzt, ich finde Platz bei einem älteren Herrn, der aufmerksam die Zeitung studiert. Kein Stöpsel im Ohr, kein Handy in der Hand. Aber eine Halskrause, wohl nach einem Unfall? Fährt er in die Klinik zu einer Nachuntersuchung? Vorsichtig studiere ich ihn, er möchte bestimmt nicht so taxiert werden. Sein Alter schätze ich auf 70-75 Jahre, wenn er aufsteht, ist er vielleicht so groß wie ich, konservativ gekleidet mit dunkler Cordhose, Hemd, Pullover, sein Trachtensakko hängt ordentlich am Haken, ein brauner Hut ist oben in der Ablage.

Da er mich nicht beachtet, hole ich mein Buch heraus und lese. Unterbrochen werden wir durch einen großen, kräftigen, sogar schon fülligen jungen Mann, der im Durchgehen jede Sitzreihe mit den Händen streift. Da ich erst nicht aufblicke, fällt mir nur die Hose auf, die vorne an den Beinen wohl mehr Löcher als Stoff aufweist. Ein kurzer stimmiger Blick zu meinem Gegenüber, der dies ebenso und kopfschüttelnd zur Kenntnis nimmt. Eine Bemerkung erwidert die andere, über Mode, Zeiten, Alter entwickelt sich bald ein lebhaftes Gespräch.

Er erzählt, dass er heute Geburtstag hat und die Bahn-Freifahrt zu diesem Anlass für einen Ausflug nach Innsbruck nützt. Vor etwa fünfzig Jahren war er zu einem Manöver des Bundesheers dort. Er erinnert sich, wie sie singend und marschierend durch Stadt zogen. Jetzt möchte er gerne das „Goldene Dachl“ sehen.

Sein Herkunftsort muss in Salzburg liegen, ich habe nicht danach gefragt. Er lebt allein, irgendwann erwähnt er auch einen Sohn.

Die Halskrause hat  einem Unfall zu verdanken, als ihn ein Lieferwagen samt seinem Fahrrad über die Straße in den Graben „geschossen“ hat. Nach langem Krankenhausaufenthalt mit mehreren Operationen landete er in einer REHA und im Rollstuhl. Ausdauerndes fleißiges Training ermöglichte ihm nach Monaten erste Schritte. Eine nochmalige Operation an der Halswirbelsäule lehnte er ab. „Ich bin froh, dass es mir wieder so gut geht  und ich allein meinem Haushalt versorgen kann“.

Mit dem Rollator kann er sich einigermaßen sicher bewegen, sodass er sich manche Fahrt zutraut. Bei Ausflügen mit Pensionisten mitzufahren sieht er sich nicht aus, da er doch etwas langsamer und unbeholfener ist.

Schon zehn Minuten vor der Ankunft unseres Zuges macht er sich bereit, sein Gefährt zu holen. Bedenken kommen, ob jemand vom Bahnpersonal da wäre, ihm beim Aussteigen zu helfen. Ich erkläre mich bereit und kompetent, diesen Dienst zu übernehmen, und dankbar nimmt er an. Er steht bereits wartend am Ausstieg. Mit der Entschuldigung „ich muss diesem Herrn helfen“ dränge ich mich an einigen Reisenden und Koffern vorbei, steige als erste aus, hebe den Rollator die Stufen herab, er folgt, sich am Rollator festhaltend und erreicht sicher den Bahnsteig. Ich begleite ihn zum Aufzug und fahre gegen meine sonstige Gewohnheit mit hinauf in die Halle. Und dann? Die Abschiedsfrage „Kommen Sie nun allein zurecht? Wissen Sie den Weg?“ Nein, den Weg kennt er nicht. Da ich Zeit habe und in die gleiche Richtung muss, nehme ich ihn mit in die Theresienstraße und durch die Altstadt bis zum Goldenen Dachl. Bei Unebenheiten achte ich, dass er nicht strauchelt.

Aber die Zeit vergeht, beim langsamen Gehen scheinbar besonders schnell. Unter dem Goldenen Dachl finden wir einen sonnigen Platz  in einem Gastgarten, wo er beschließt, sein Mittagmahl einzunehmen. Gerne hätte er mich dazu eingeladen, doch meine Zeit reicht nur noch für einen schnellen Kaffee, den er mir (natürlich) zahlt für meine Stadtführung. Aber ein Foto muss noch gemacht werden, er bittet einen Herrn vom Nebentisch darum.

Nach einer kurzen Verabschiedung mit kräftigem Händedruck seinerseits haste ich im Eilschritt zu meinem Termin-Treffpunkt, wo ich als die letzte schon ungeduldig erwartet werde.

 

 

ChA April 2019

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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