Engelbert Blabsreiter

Überleben

Eigentlich hätte es ein schöner Freitagnachmittag werden können, wenn nicht dieser blöde Kirschkern im Obstkuchen gewesen wäre, resümierte Alois am Abend auf der Couch sitzend. Er war mit Freunden in einem Café, als das Unglück seinen Lauf nahm. Ein Backenzahn brach beim Rendezvous mit dem Kirschkern entzwei. Der sich einstellende Schmerz ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um ein ernsteres Problem handeln würde.

„Warum erwische immer ich den blöden Kern dachte er“. Den restlichen Nachmittag über, plagten ihn dann Schmerzen, weshalb er das Treffen im Café, nach dem Unglück nicht mehr so richtig genießen konnte. Sein Zahnarzt hatte leider kurzfristig keinen Termin mehr frei und so dauerte es mehrere Tage, bis er Hilfe bekam.

Alois war ein überaus kräftiger Mann und niemand wagte es jemals, sich mit ihm anzulegen. Ein Zahnarztbesuch jedoch, war immer ein kleines Pearl Harbour für ihn. Diese Abneigung konnte auch nicht durch eine überaus hübsche Zahnarzthelferin gelindert werden, auf die er schon seit längerer Zeit ein Auge geworfen hatte. Ihre schulterlangen, wallend blonden Haare und das sehr hübsche Gesicht ließen ihm die Sinne schwinden. Wenn er sie mit dem Fahrrad und ihrem kurzen, weit ausgeschnittenen Top zur Praxis fahren sah, stand ihm staunend der Mund offen, was sich aktuell auf dem Behandlungsstuhl beim Zahnarzt, als sehr nützlich erweisen könnte.

Als er die Eingangstüre öffnete, prallte er gleich auf die praxistypische Geruchswand aus Desinfektionsmitteln und vielen anderen nicht identifizierbaren Geruchsstoffen. Diese raubten ihm zuerst einmal den Atem und Sekundenbruchteile danach durchzogen wellenartig eintreffende, kleine Panikattacken seinen Körper von Kopf bis Fuß. Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er sich einen tiefen Atemzug nehmend auf den Weg zum Tresen am Ende des Eingangsbereichs machte.

Da war sie wieder, seine Zahnarzt-Phobie,  alle damit einhergehenden Symptome, und … Victoria. Der blonde Traum seiner schlaflosen Nächte begrüßte ihn mit einem freundlichen „guten Morgen Herr Mayer, wie geht es ihnen“.

„Oh mei …, gar ned guad“, antwortete er. „Ein Backenzahn ist mir am Freitag auseinandergebrochen, diese Schmerzen, unvorstellbar! Alles wegen so einem blöden Kirschkern im Kuchen“.

Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, begleitete sie Alois in das Behandlungszimmer und bat ihn, sich auf den Behandlungsstuhl zu setzen.

Das war gar nicht so einfach, denn irgendwie passte Alois nicht so richtig auf den für ihn viel zu klein geratenen Stuhl. Nach ein paar Einstellungen an der komplizierten Technik, war es dann erträglicher. Seine Schuhspitzen ragten weit über die Fußstütze hinaus, was bei Schuhgröße 47 kein Wunder war und irgendwie war auch die Kopfstütze nicht weit genug auszufahren. Es dauerte nicht lange, bis sein Zahnarzt den Behandlungsraum betrat und ihn ebenfalls sehr freundlich mit einem aufmunternden Lächeln begrüßte.

„Grüß Gott, Herr Mayer, was haben sie denn für ein Problem?“

„Na na … ich hab nix … im Gegenteil … mir fehlt etwas von meinem Backenzahn. Doch, doch ... Schmerzen hab ich … und nicht wenig“. Kaum hatte er dem Zahnarzt sein Leid geklagt, ging es auch schon auf dem Stuhl liegend nach unten. D.h. die Füße hoch und den Kopf ganz tief. Das Opferlamm wird in Position gebracht, dachte er, etwas verwundert über diese Selbstironie.

„Dann schauen wir mal. Bitte den Mund weiiiiit öffnen.“

Gesagt getan, Alois riss seinen Mund so weit wie möglich auf.

„Ohjeeeee, …das sieht aber gar nicht gut aus, Herr Mayer. Die Brücke, die wir vor ein paar Jahren eingebaut haben, ist auseinander gebrochen und wir müssen die beiden Zähne mit einer neuen Brücke versehen. Da ist nichts mehr zu machen. Die Ruine muss vollständig entfernt und neu aufgebaut werden, dann machen wir ein Provisorium drauf, bis die neue Brücke fertig ist.“

Sofort kamen Alois die grausamen Momente des letzten Brückenbaus in Erinnerung und ein Schauer durchlief seinen wuchtigen Körper. „Nicht schon wieder dachte er und schloss die Augen, als ob er es damit verdrängen könnte.

„Dieses Mal könnte es etwas teurer werden, da die Preise für die Materialien seit damals gestiegen sind“, bemerkte der Zahnarzt. „Wenn sie möchten, können wir jetzt gleich damit anfangen, da der nächste Patient kurzfristig abgesagt hat.“
Mit einem deprimierten „Ja guad nachad liaber gleich“, willigte Alois schweren Herzens ein.

Unverzüglich darauf, kam auch schon das erste grausame Werkzeug zur Folterung hilfloser Opfer zur Anwendung: Die Betäubungsspritze.

„Weiiiiiiiiiiit aufmachen … nur zur kleinen Erinnerung, dass sie beim Zahnarzt sind, Herr Mayer“, meinte der Zahnarzt und beugte sich von oben über sein Gesicht. Ahhh, der Schmerz ... Einmal links, einmal rechts, einmal hinten, einmal vorne und schon lief ein Schwall Tränenflüssigkeit aus dem Auge über die Backe, so als ob der Überdruck im Kiefer die Betäubungsflüssigkeit an dieser Stelle wieder austreten lassen würde.

Kaum war das Werk vollbracht, ließen die Beiden den armen Alois auch schon allein.

So saß er jetzt ganz einsam und verlassen, in Erwartung nachfolgenden Grauens, auf dem zu kleinen Behandlungsstuhl. Nach einer kleinen Ewigkeit kehrte der Folterknecht zurück und fragte, ob die Betäubung schon wirke. Alois stammelte ein schwer verständliches „i gspür nix mehr“ und gab dem Zahnarzt damit auch gleich die Freigabe um zur nächsten Tat zu schreiten.

„Weiiiiiiiit aufmachen,“ vernahm Alois nun von seiner angebeteten Victoria, die sich fast unbemerkt an ihn gekuschelt hatte, um dem Zahnarzt zu assistieren. So lag er nun da, der Alois,… den Blick an die Decke gerichtet, auf der zur Beruhigung für Kinder ein bunter Bauernhof mit vielen Tieren gemalt worden war. Kühe, Schafe, Hühner und Schweine scharrten sich um die kleine Hofstelle, auf der in kindlich naiven Bildern dargestellten Landschaft.

„Weiiiiiiit aufmachen ...“ Zwei durch Schutzbrillen verzerrte riesige Augenpaare mit Mundschutz, schoben sich plötzlich über die Tierwelt und den Bauernhof an der Decke. Alois wurde unverzüglich von dem grausam hochfrequenten Heulton des Bohrers in die Realität zurückgeholt. Seltsame Saug- und Blubbergeräusche drangen zusätzlich an sein Ohr.

„Weiiiiiiit aufmachen ….“ Das turbinenartige Winseln des kleinen Fräsers, mit dem der Zahnarzt die in Mitleidenschaft gezogene Brücke zur Entfernung präparierte, quälte seine Ohren. Da schloss er doch lieber die Augen, um nicht mit diesem von ihm zutiefst abgelehnten Geräusch in die wunderschönen Augen seiner Traumfrau blicken zu müssen. Denn dann, hätte er vielleicht nicht mehr so schön von ihr träumen können.

Einen kleinen Moment der Ruhe nutzte der Zahnarzt zum Wechsel des Fräsers, währenddessen Alois sich ein paar Sekunden entspannen konnte. Danach wurde das hochfrequente Winseln von einem zermürbenden niederfrequenten Rattern abgelöst. Alois hatte das Gefühl, als würde sein ganzer Kopf dröhnen.

„Weiiiiiit aufmachen“ ... Unwillkürlich musste er an einen riesigen Schaufelradbagger im Braunkohletagebau denken, wie dieser mit seinem mächtigen Schaufelrad die Oberfläche stückchenweise und unaufhaltsam gnadenlos abträgt. Selbst das Verschließen der Augen konnte ihm dabei keine Linderung seines Leidens verschaffen. Als er einmal ganz kurz durch einen kleinen Lidschlitz zur Decke auf das Gemälde mit dem Bauernhof blickte, traute er seinen Augen nicht.

Plötzlich waren da keine glücklichen Tiere mehr, sondern das Gemälde „Das Jüngste Gericht“ von Hieronymus Bosch. Grausamste Praktiken der Folter und unendliche Qualen wurden darauf dargestellt ... und er ... war mittendrin. „Weiiiiiiiit aufmachen ...“ Forderte ihn Victoria mit erhöhter Lautstärke auf. Offenbar hatte sie seinen Ausflug in eine andere Welt bemerkt und wollte ihn schnell wieder zurückholen. Dabei beugte sie sich jetzt wieder über Alois. „Entspannen sie sich Herr Mayer… entspannen sie sich!“ Victoria versuchte Alois so zu beruhigen und kam dabei noch näher an ihn heran.

Leider konnte er diesen Moment nicht in gebührender Weise genießen, da er sich mittlerweile etwa 20cm vom Polster des Behandlungsstuhles abgehoben hatte und wie ein krummes und steifes Brett zwischen Fußstütze und Kopfstütze, quasi freiliegend eingekeilt war. Zumindest kühlte dieses Verhalten seinen schweißgebadeten Rücken.

„Weiiiiiiit aufmachen ... gleich haben wir es ...“ Diesmal war es der Zahnarzt, der sprach. Anschließend forderte er Victoria mit einem leisen zischenden „drück ihn runter, drück ihn runter“ dazu auf, den Alois wieder in die ursprüngliche Position auf den Behandlungsstuhl zu bringen. Victoria drückte mit ihrer Hand gegen Alois Oberschenkel, aber…nichts geschah. Dann presste sie zusätzlich ihr Knie auf sein linkes Bein und versuchte, ihn mit ihrem gesamten Körpergewicht nach unten zu bewegen.

„Weiiiiiiiiiiit aufmachen, … weiiiiiit aufmachen“ Schallte es wieder durch den Behandlungsraum. Oh Gott…oh Gott dachte Alois… was kommt jetzt? ...“

Bei jeder anderen Gelegenheit wäre er mehr als gewillt gewesen, dieses Verhalten zu dulden, aber jetzt drückte er mit aller Kraft dagegen.

„Weiiiiiiiiiit aufmachen… nur noch einen kurzen Moment“

Von wegen! Kein Ende in Sicht dachte Alois resigniert! Plötzlich machte es einen lauten Knacks und Alois schlug mit seiner Victoria auf dem Schoß sitzend auf die Liegefläche des Behandlungsstuhles auf.

„Iaz… hammas des Malheur…“ schimpfte der Zahnarzt…. Das kann doch nicht wahr sein…

Die Fußstütze abgebrochen, der Behandlungsstuhl kaputt und der Gewinn ist auch noch dahin! Das Trio Infernale musste sich erst einmal fangen, um den Schreck zu verdauen. Doch was war geschehen?
Alois lag ganz still auf dem Behandlungsstuhl und machte keinen Mucks mehr. Das war einfach zu viel für ihn gewesen und offensichtlich konnte ihn nur eine kleine Ohnmacht von weiteren Schrecken bewahren.

„Herr Mayer….Herr Mayer…. hören sie mich“, fragte der Zahnarzt mit leichtem Tätscheln an der völlig gefühllosen Backe von Alois.

Doch dieser reagierte nicht mehr. Erst nach vermehrten Bemühungen machte Victoria, immer noch auf Alois Schoß sitzend, ihrem Namen alle Ehre und besiegte die kurzzeitige Ohnmacht, mit intensiverem Tätscheln auf die andere, nicht betäubte Gesichtshälfte.

Jedoch hatte das zur Folge, dass er anfing wie am Spieß zu schreien: „Weiiiiiiiiiit aufmachen!“ Seine weit aufgerissenen, panisch blickenden Augen spiegelten dabei das ganze Grauen der Vorstellungskraft eines Hieronymus Bosch über das letzte Gericht wieder.

Festzustellen, dass Victoria auf seinem Schoß saß, seine Füße weit über den zerstörten Behandlungsstuhl hinaus ragten und der Zahnarzt ihn mit Schweißperlen auf der Stirn völlig entnervt anblickte, brachte ihn völlig aus dem Konzept.

Am Ende der Behandlung und  auch seiner Kräfte, bat der Zahnarzt seine Assistentin Alois zur Türe zu bringen.

Dort angekommen flüsterte Alois seiner Traumfrau sichtlich erleichtert zu,

“Weiiiiiit aufmachen“.

© Engelbert Blabsreiter 21.01.2020

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