Hans K. Reiter

Vademekum

„Kenn ich“, sagt die Burgstaller Vreni.

„Ich auch, ich auch!“, drängt sich aus der letzten Reihe eine piepsende Knabenstimme mit Überschnapper zum Stimmbruch dazwischen und die aufgeregt schnalzenden Finger an der gleichzeitig in die Höhe gestreckten Hand identifizieren ohne Wenn und Aber den Fuchs Simmal als Subjekt der Störung.

„Natürlich, wer auch sonst, wieder mal der Simmal“, ist des Lehrers Bemerkung auf das aus seiner Sicht völlig inakzeptable Benehmen des Störenfriedes.

Selbstverständlich hat niemand aus der Klasse eine Erklärung erwartet, warum der Herr Studienrat den Zwischenruf der Vreni als eine angemessene Intervention betrachtete, nicht aber so die Wortmeldung des Simmal.

Dazwischengeplärrt hatten sie doch beide und somit die geistreichen Ausführungen des Herrn Studienrates, vielleicht nicht direkt unterbrochen, aber doch nachhaltig gestört, dachte der Wanninger Sepp, ein Spezi des Simmal, sagte aber nichts.

„Nun, Bursche, trete nach vorne“, dröhnte im selben Augenblick auch schon der Bass der gestrengen Obrigkeit.

Die Klasse wusste, das verhieß nichts Gutes.

Und so war es auch. Über das Pult des Studienrates gebeugt, musste der Simmal drei Hiebe mit dem Spanischen Rohr auf den gespannten Hosenboden über sich ergehen lassen.

Der ganze Hintern brannte wie Feuer und der Simmal, der am liebsten sein Leid hinausgebrüllt hätte, wusste gar nicht, wie er sich wieder hinsetzen sollte, also rutschte er wechselseitig auf die äußersten Kannten des Stuhles, was aber natürlich nicht besonders geräuschlos erfolgte und ihm sofort den strafenden Blick seines Peinigers eintrug.

Wohl oder übel biss er deshalb die Zähne zusammen und verharrte bis zum Ende der Stunde auf einer der Stuhlkannten, bis ihm schließlich das Gesäß einschlief und er Mühe hatte, überhaupt wieder aufzustehen.

Bevor es aber so weit war, verkündete der Herr Studienrat ins Läuten der Glocke hinein noch: „Dann machen wir das so, dass die verehrten Fräulein und Burschen fein säuberlich bis morgen niederschreiben, was der Begriff Vademekum bedeutet.“

 

Heute, 30 Jahre später, erinnert sich Simon Fuchs immer noch an diese Episode von damals. Ungerecht war’s gewesen. Das war es auch, was ihn immer noch wurmte. Nicht so wie seinerzeit, aber doch nachhaltig. Wie sich halt ein Erwachsener ärgert, anders eben, als ein Kind.

Der Griff zum Rohrstock, obwohl zu jener Zeit bereits verboten, war geübte Praxis. Dazu ist allerdings anzumerken, dass auf dem Lande manche Ereignisse eine völlig andere Gangart einschlagen, als in der Stadt. So gibt es Dinge, die sich weit schneller beschleunigen, aber auch solche, die lange, lange brauchen, bis sie sich verändern und die Prügelstrafe war so ein Relikt.

Nur der Vollständigkeit halber: Die im Ländlichen praktizierte Spezlwirtschaft dagegen kann in der Stadt weder an Intensität noch Reichweite das Wasser reichen.

 

Simon Fuchs hatte seinen Weg gemacht. Aus dem Simmal jener Tage war ein Herr Doktor der Jurisprudenz geworden. Und niemand würde sich erdreisten, des Herrn Doktors Vornamen, Simon, mittels bayerischer Mundart zu einem Simmal zu verunstalten. Obwohl, ein paar wenige, alte Freunde durften sich dieses Privilegs rühmen.

Flotten Schrittes nahm Simon Fuchs die Stufen ins Gerichtsgebäude. Es blieb nicht aus, dass er dabei so manchen ehrerbietigen Gruß zu erwidern hatte und, auch das gehört zur Wahrheit, dies sehr gerne auch tat. Schlicht: Der Simon genoss sein Ansehen.

Richter am Oberlandesgericht und noch dazu in München, wurde man nicht so leicht. Natürlich, Simon würde es keinesfalls leugnen, haben die richtigen Freunde, also Spezln, auch in seinem Fall nicht geschadet.

Zum Aufruf kam die Sache Haberlander gegen Burgstaller.

Ob er die Verhandlung wegen Befangenheit ablehnen müsste, fragte sich Simon schon, verwarf aber solcherart Gedanken schon wegen der Zeitspanne. 30 Jahre sind 30 Jahre, basta!

Da saßen sie nun, die Weggefährten von einst.

Sie: Weiblich, attraktiv, niemals verheiratet gewesen, also ledig seit Geburt. Sappralott!, dachte Simon, nicht ganz ohne Hintergedanken.

Er: Heute Studiendirektor, kurz vor der Pension, leitender Beamter im Kultusministerium für Übergreifende Methodik im Unterrichtswesen. „Da schau her!“, war Simons unbewusste Anmerkung.

Mit gewichtiger Mine die Damen und Herren Anwälte.

Er, selbstverständlich den Herrn. Sie, auch selbstverständlich, die Dame.

Ein zaghaftes Schmunzeln begleitete Simons Gedanken. Er, der alte Chauvi. Sie, die Emanze. Ganz so, wie er die beiden in Erinnerung hatte, nur, älter geworden waren sie halt.

 

Die Formalien nahmen ihren Lauf und stahlen Simon wertvolle Minuten seines Pensums.

„...und so schließe ich mit dem Hinweis“, verkündete der Herr Anwalt gestelzt, „dass die Beklagte weder Reue noch Zeichen zeigt, die Schuld einzugestehen.“

Kaum saß der schwarze Talar, riss es die Dame schon vom Stuhl und nur der geschickten Reaktion Simons ist es zu danken, dass er die Frau Anwältin nicht wegen eines Formfehlers hätte belehren müssen. Die Sachlage erkennend, hatte er in Windeseile mit einem Frau Anwältin bitte die Situation gerettet, andernfalls hätte Frau Anwältin sehr wahrscheinlich ihren Monolog begonnen gehabt, bevor das Gericht die Erlaubnis hierzu erteilt hätte. Und solch ungebührliches Verhalten wäre unweigerlich zu rügen gewesen.

„...weisen wir die Ausführungen des Klägers zurück. Wie das Gericht sehr leicht aus der Beweislage feststellen wird, kann meine Mandantin zu dem vom Kläger genannten Zeitpunkt keinerlei beleidigende Zeichen oder Äußerungen gemacht haben, da die Beklagte nachweislich nicht an dem vom Kläger benannten Ort gewesen sein konnte.“

„...hm...“, flocht Simon ein und bemerkte, wie diese winzige Einlassung die verehrte Frau Anwältin ganz offenbar aus dem Konzept brachte.

„...wie, ...was meint das Gericht mit, ...äh..., seiner Anmerkung?“

„Wenn Sie die Güte hätten, dem Gericht Kenntnis darüber zu geben, warum die Beklagte nicht an dem vom Kläger benannten Ort gewesen sein konnte! Ich kann nämlich, entgegen Ihren Ausführung, hierzu in den Beweisdokumenten nichts finden.“

Unverhohlenes Grinsen bei Kläger und Anwalt.

Despektierlich empfand Simon solcher Art Gemütsäußerungen und ermahnte die Herren derartiges doch zu unterlassen.

Betretenes Schweigen.

„Also, Frau Anwältin, bitte!“

„Wenn ich nach vorne kommen dürfte?“

„Wie Sie meinen“, sagte Simon, dem es jetzt langsam zu blöd wurde, denn wiederum verrannen Minuten seiner kostbaren Zeit, aber abschlagen konnte er den Wunsch der Frau Anwältin auch nicht.

Für die Zuhörer im Saal unverständlich flüsterte die Anwältin, etwas nach vorne gebeugt, ein paar Sätze in Richtung Simons, worauf dieser die Stirn runzelte, kurz nachdachte und schließlich mit fester Stimme verkündete, dass die Verhandlung für 10 Minuten unterbrochen sei und er die beiden Anwälte ins Richterzimmer bitte.

„Nun, Frau Anwältin, wiederholen Sie bitte, was Sie mir soeben im Gerichtssaal mitgeteilt haben!“

„Gerne. Zu der vom Kläger genannten Zeit und Örtlichkeit der angeblichen Beleidigung war meine Mandantin in der Stadt, präzise im Ministerium für Unterricht und Kultus, also der Wirkungsstätte des Klägers...“

„Kommen Sie bitte zum Punkt!“, Frau Anwältin.

„Gut, wie Sie wollen, Herr Rat. Im ersten Stock des Ministeriums, am Ende des Flurs gibt es zur Rechten einen Raum, der als Aktenkammer oder Arbeitsraum benutzt wird. Meine Mandantin nun, die gerade im Begriff war, das gegenüberliegende Zimmer zu betreten, um dort einen Termin wahrzunehmen, hörte plötzlich merkwürdige Geräusche aus eben diesem Arbeitsraum...“

„Merkwürdig? Was konkret meinen Sie damit bitte?“, unterbrach Simon.

„Jemand stöhnte laut auf, worauf meine Mandantin sah, dass die Türe nicht geschlossen, sondern nur angelehnt war. Da meine Mandantin zunächst annahm, jemand sei in Gefahr, eilte sie die paar Schritte hinüber, um nachzusehen...“

„Sind Sie doch bitte so freundlich und beschleunigen Ihre Ausführungen etwas! Mein nächster Termin, in wenigen Minuten!“, unterbrach Simon erneut, der die weitere Ausschmückung dessen, was jetzt kommen würde, er kannte die Schilderung ja bereits, dringend unterbinden wollte.

„Wenn Sie es so wünschen, dann kurz und prägnant. Meine Mandantin sah den Kläger, Herrn Haberlander, in nicht miss zu deutender Pose über eine Frau gebeugt, die ihrerseits mit dem Rücken auf einem Tisch lag, wobei sie die Beine gespreizt...“

„Also, ich denke, das reicht, danke, den Rest können wir uns, glaube ich, recht gut vorstellen, Frau Anwältin. Ich Frage mich nur, warum Sie diesen Umstand nicht schon früher vorgebracht haben?“, bemerkte Simon. „Und weshalb Herr Haberlander eine offensichtlich völlig aus der Luft gegriffene Beleidigungsklage angestrengt hat?“

„Ersten wollten wir den Kläger nicht kompromittieren, in der Annahme, er würde die Klage zurückziehen, wenn wir die Unmöglichkeit einer Beleidigung durch Frau Burgstaller zu dem von ihm angegebenen Zeitpunkt vorbringen. Er musste doch aufgrund des tatsächlichen Sachverhaltes wissen, dass seine Beschuldigungen nicht stimmen konnten. Und zweitens haben unsere Recherchen erst jetzt, das heißt kürzlich, ergeben, dass es sich bei der beteiligten Frauensperson um Eusebia Blumstiel handelte, eine jüngere Angestellte im Ministerium, und wir damit den Vorgang eindeutig auch beweisen könnten.“

„Hm, hm, was sagen Sie denn dazu Herr Anwalt?“, sagte Simon und nickte, was einer unmissverständlichen Aufforderung gleichkam, eine Erklärung abzugeben.

„Es stimmt! Alles was die Frau Kollegin hier vorgetragen hat, ist richtig, bis auf ihre Schlussfolgerung.“

„Na, dann lassen Sie doch bitte Ihre Version hören, aber mit etwas Beeilung, bitte!“, brummte Simon, dem es langsam reichte.

„Richtig ist“, fuhr der Anwalt fort, „dass mein Mandant, also Herr Haberlander, den Aktenraum betreten hat und dort Frau Blumstiel auf dem Boden liegend und nach Luft ringend vorfand. Herr Haberlander half der Dame auf die Beine und legte sie mit dem Rücken auf den Tisch, wobei er feststellte, dass sofortige Wiederbelebungsmaßnahmen erforderlich waren, wie Herzmassage und so weiter. Frau Blumstiel war nämlich, kaum auf dem Tisch, bewusstlos zusammengesackt.“

„Ja, und warum dann überhaupt die ganze Geschichte mit der angeblichen Beleidigung?“, fragte Simon irritiert.

„Die Beleidigung hat stattgefunden. Nur, Herr Haberlander, noch aufgewühlt von der Rettungsaktion der Frau Eusebia Blumstiel, hat ganz einfach das falsche Datum genannt. Zu der Beleidigung ist es an dem von Herrn Haberlander angegebenen Ort gekommen, aber erst genau einen Tag später. Zufällig oder auch absichtlich, das wissen wir nicht, hat Frau Burgstaller an dem besagten Ort Herrn Haberlander den Mittelfinger gezeigt und gefragt, ob der verknöcherte Herr Studiendirektor die Aktenkammer im ersten Stock andauernd für seine Schweinereien benutze und er doch das nächste Mal von innen absperren solle.“

„Und Sie sind sicher, dass der besagte Ort ein Café in der Innenstadt gewesen ist, an dem sich Damen und Herren zum Zwecke des Kennenlernens einfinden?“, fragte Simon konsterniert.

„Ja, so ist es.“, bestätigte der Anwalt.

Nur 30 Sekunden nach den angekündigten 10 Minuten wurde die Verhandlung fortgesetzt.

„Der Kläger hat die Klage zurückgezogen. Ein Urteil ergeht insofern nicht. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger. Die Kosten der Parteien trägt jede Partei für sich. Die Sitzung ist geschlossen.“

 

Nachzutragen wäre noch, dass damals, im Gymnasium, der Simon einen gewissen Heiterkeitserfolg erzielt hatte, weil er, der Hausaufgabe des Herrn Studienrats folgend, ausgeführt hatte, Vademekum sei ein Einreibemittel bei Rheuma, welches häufig von seiner Großmutter verwendet würde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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