Michael Waldow

Ich bin da

Es war warm, weich und eine kleine Welt, voller Geräusche und dem Klopfen eines Herzens. Mutter. Ich war geborgen, bis zu dem Tag, als mich eine unbekannte Kraft durch eine dunkle Höhle rückwärts schob. Grelles Licht. Ich fiel in ein weiches, gelbes Lager, rang nach Luft, das Klopfen war weg. Mutter? Die Welt war riesig, mit einer endlosen Weite. Doch da war der Geruch, den ich kannte. Mutter! Und dann spürte ich sie, die feine Schnauze, sie leckte mich behutsam ab, befreite mich von den Höhlenresten. Ich atmete tief Luft ein und spürte den warmen Atem meiner Mutter… Sie war ganz nah bei mir, ich spürte die feinen Haare und hörte ihre Stimme: „Mein Sohn“. Jetzt konnte ich sie sehen, ihren massigen Kopf, die wunderschöne weiße Blesse, die schwarze Mähne und ihre Nasenwölbung. Sie war einfach nur riesig. Ein Fels, der mich schützte. „Er ist grau“, wieherte leise eine Stimme. „Das waren wir alle als Fohlen, Tori“, gab Mutter leise schmatzend zurück. „Komm ihm nicht zu nahe. Du bist noch jung“, Mutter klang streng, vielleicht ein klein wenig müde. Irgendetwas schien sie doch mitgenommen zu haben.

Ich schaute nach dem großen Etwas, das Mutter Tori nannte. Das Etwas stellte sich quer vor uns und verdeckte den Blick in die endlose Weite, die ich noch gar nicht fassen konnte. „Tori ist deine Tante, sie wird dich auch beschützen. Bleib noch etwas fern von ihr, sie ist sehr tapsig. Mich nennen die Menschen Anouk“. Menschen kannte ich nicht, aber wenn Mutter es sagte, schien es irgendwie vertraut. Vielleicht waren die Menschen der eigenartige Geruch, den Mutter und Tori gar nicht hatten. Irgendetwas in mir spannte die Muskeln, es flüsterte und forderte mich auf, aufzustehen. Ich versuchte auf meine vier Stelzen zu kommen, doch mein kleiner, zittriger Körper wackelte und die Stelzen knickten immer wieder ein. Mutter nickte mir ermunternd zu und leckte mich weiter. Es dauerte eine Weile und ich konnte mich umsehen. Im Gegensatz zur Höhle war hier alles viel, viel größer. Und wieder flüsterte die Stimme: „Hunger“.

Ganz ohne meinen Willen zog es mich unter Mutters Bauch und an einer Zitze fand ich die sprudelnde Quelle. Die warme Milch floss meine Kehle hinunter. Ich war angekommen. Ich war Mutters Fohlen. Nur einen Namen hatte ich noch nicht. Mutter schien meine Gedanken zu erraten. „Menschen geben dir den Namen, achte auf ihre Körpersprache. Sie sehen anders aus als wir, geben komische Laute von sich. Ein paar musst du dir einprägen.“ Ich verstand noch nicht, was sie meinte. Da waren Ohren, die Haut, der Schwanz, der Kopf. Also was brauchte ich mehr, um Mutter oder Tori zu verstehen. Waren die Menschen wie wir? Waren sie keine Pferde?

„Sie kommen“, flüsterte Tori. Ich drückte mich an Mutter und sah diese zweibeinigen Wesen auf uns zukommen. Das Wesen strahlte Ruhe aus, schob Tori, diesen riesigen Muskelberg, behutsam beiseite und hielt meiner Mutter die Hand hin. „Gutes Mädchen“, flüsterte er und schaute mich an. Das war er also, ein Mensch. Er hatte keine Ohren und zwei seiner Stelzen hingen seltsam hoch in der Luft. Das Gesicht war eingedrückt und eine Blesse fehlte ganz. Die Haut flatterte an ihm herum und hatte seltsame Muster und Farben, ein Schweif fehlte auch. Es war ein seltsames Pferd, aber Mutter schien ihm zu vertrauen. Ich zitterte etwas, doch Mutter ließ dieses seltsame Wesen an mich heran. Er fuhr mit seinen Vorderhufen, die Mutter Hände nannte, auf meinem Rücken entlang. Es war seltsam, aber er schien nichts Böses zu wollen. 

Bald darauf kamen zwei weitere kleinere Menschen, die anders rochen als der Mensch, den sie Christian nannten. Die kleinere von den Neuen quietschte vergnügt als sie mich sah und sagte so etwas „Oh mein Gott, oh mein Gott, wie süß“ und die größere mit einer kleinen blonden Mähne verzog den Mund ganz komisch. Mutter sagte, dass die Menschen dann lachen und fröhlich sind. Das war also meine neue Welt, Mutter, Tori und die drei Menschen. Ob es noch mehr gab da draußen? Ich musste mich erst einmal hinlegen, es war ja alles so aufregend und das Stehen strengte an. „Sie nennen dich Diamant“, flüsterte Tori, als die Menschen gingen. Ich schaute Mutter fragend an. „Der Diamant ist für die Menschen ein besonderer Schatz und der Name wird deine Zukunft sein“, sagte Mutter. „Bis dahin musst du aber noch sehr viel lernen, kleiner Hengst.“ lachte Tori und gab jetzt den Blick in meine neue Welt frei und die hörte gar nicht mehr auf.  Sie hatte selbst die Menschen verschluckt, als sie gingen. Aber wenn Mutter dabei war, nahm ich mir vor, mutig zu sein. Denn es war nun auch meine Welt und ich war sein Diamant.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.04.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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