Ralph Bruse

Der Leuchtturm

Der Leuchtturm


> So, das hier ist ihr Zimmer, < sagte die alte Dame.
> Die Dusche ist gleich nebenan. Sehen Sie sich ruhich gründ-
lich um...Wissen Sie, das alles hier hat mein Mann noch eigen-
händich aufgebaut. <
Sie seufzte tief. > Aber jetzt ist er schon seit fünf Jahren unter
der Erde. <
Hoffentlich muß ich mir jetzt nicht noch die ganze tragische Ge-
schichte anhören, denke ich. Zehn Stunden Nachtfahrt auf der 
Autobahn: das macht jeden noch so redseligen Menschen einst-
weilen für jedes vernünftige Gespräch resistent.
Einfach mal abschalten, weg vom Alltagsgeplenkel, nichts hören,
nichts sehen - nur die beruhigende Weite des Meeres in sich wir-
ken lassen - sonst nichts - das wollte ich eigentlich.
Und nun steh ich total übermüdet der alten Frau Hansen (so heißt 
die Quasselstrippe) gegenüber, und mache brav ein Nickerchen 
nach dem andern, weil sie den Vortrag über ihren verstorbenen 
Mann und sonstige Verblichene aus der Nachbarschaft unnötig 
lange hinzieht.
Dann bricht sie unvermittelt ab.
> Sie sehen müde aus. Na ja, wir können uns ja noch 'ne gute Zeit
lang beschnuppern. Da bleibt denn auch noch genuch Tiet zum 
Schnacken, ne? <
Mein obligatorisches Kopfgenicke wiederholt sich zum x-ten Mal.
Frau Hansen drückt mir die Schlüssel für Zimmer - und Haustür in 
die Hand. Dann schlappt sie doch leicht eingeschnappt, wegen mei-
ner spröden Art, die knarrenden Treppen runter.
> Aber heut Nachmittach trinken wir doch ´n Tässchen Friesentee 
zusammen, ne?, < fällt ihr noch siedendheiss ein.
> Frühestens morgen, Frau Hansen!, < rufe ich ihr zu. > Muss mich 
erstmal ´ne Runde aufs Ohr legen und schlafen. Und denn muß ich 
ja auch noch´n bisschen was für mich einkaufen geh'n. <
> Na gut, denn also morgen nachmittach, bei mir hier unten. Sagen 
wir um drei?! <
> Jaja, < antworte ich nunmehr leicht genervt und ziehe die Zim-
mertür von innen zu. > Mein lieber Scholli, die kann brabbeln wie
´ne Schnellfeuerwaffe, < stöhne ich. Hat vielleicht nicht so oft Gäste
im Haus. Und wenn die Leute nicht schon gleich wieder Reissaus 
nehmen, müssen sie halt wilden Klönschnack hinnehmen, denn die
gute Frau Hansen hat schließlich ´ne Menge aus ihrem Leben zu er-
zählen.
Was solls, sag ich mir: alte Leute sind eben manchmal ein wenig 
schrullig und redehungrig. Und die alte Dame, eins tiefer, scheinbar 
ganz besonders.
Ich werfe die Schlüssel auf das Bett und falle hinterher. Endlich. 
Herrliche Stille. Das Bettzeug riecht frisch und meine Socken bestia-
lisch, als ich die Schuhe von den Füßen kippe. Wusste garnicht, daß 
man vom Autofahren solche Stinkfüße kriegen kann. 
Egal - ein Hoch auf die Stinkerfüße. Und noch eins auf die Ferien!

Der hübsch eingerichtete Raum beginnt allmählich, sich um mich zu 
drehen. Die letzte klare Wahrnehmung ist, daß draußen Regen pras-
selnd ins Dorf platscht. Dann sinke ich in einen kurzen, heilsamen 
Schlaf.

Etwa drei Stunden später erwache ich wieder. Ich fühle mich bestens 
und genauso erholt, wie nach einem Achtstunden-Schlaf. Ein Blinzeln
zum Fenster. Der Regen hat aufgehört. Weiße Wolken schieben sich 
vor das Himmelsgrau, das sich zusehends in kräftiges Blau verwan-
delt. Die Sonne blinkt hervor. Tja, wenn Engel reisen, hat der Wetter-
gott anscheinend gute Laune, denke ich lächelnd und schwinge mich, 
munter geworden, aus dem Bett.
Meine Reisezeug landet im etwas muffenden Wandschrank. Ich ent-
kleide mich, schnappe nach Seife und Schampoo, und steige fröhlich 
pfeifend unter die Dusche.

Am Nachmittag dieses Tages sitze ich dann im Logenplatz eines piek-
feinen Cafe's und verputze in aller Seelenruhe ein riesiges Doppelstück 
Sahnequarktorte. Schräg gegenüber, nur etwa dreißig Meter Luftlinie 
entfernt, liegt der kleine Hafen von Greetsiel. Mit der Ruhe des frühen 
Morgens ist es erstmal vorbei. Es wimmelt zu dieser Zeit nur so von 
Menschenmassen, die zusehen wollen, wie die einlaufenden Fischkut-
ter ihren Fang entladen. Sofort strömen einige Kinder zu den Kipphän-
gern am Kai. Seesterne, Krebse, Unmengen von Muscheln und sonsti-
gem Getier krabbeln aus den Abfallhaufen ins Licht, um sich die bes-
ten Plätze zu sichern. Die Mühe lohnt leider nicht. Die wuselnden Krabb-
ler sind längst dem Tode geweiht. Sie werden in Kürze zu Fischmehl ver-
arbeitet, um später Hühnern und anderen Haustieren vorgeworfen zu wer-
den. Mitunter schnappt sich auch eins der Kinder unbekümmert die pos-
sierlichen Tierchen - einen Seestern vielleicht - um ihn nachher auf einer 
knallheissen Heizung trocknen zu lassen. Schon bei der ungefähren Vor-
stellung stellen sich mir die Nackenhaare auf. Ob so oder so: die Chance 
wieder ins Meer zurückgeworfen zu werden, steht für Krabbler, die nun 
mal nicht essbarer Fisch sind, extrem schlecht. Das bisschen Fisch wide-
rum, da drüben in den Holzkisten, lohnt eher nicht den Aufwand stunden-
langer Nachtfahrt auf See, stelle ich fest - jedenfalls nicht, wenn man die
viel größeren Abfallberge aus lebenden Kleinkrabblern sieht.
> Mammi, die sind aber niedlich!, < höre ich ein Mädchen ausrufen. In 
ihrer kleinen Hand liegt ein Krebs, den das Schicksal schon von seinen 
Leiden erlöst hat. Er rührt sich nicht mehr. Das Mädchen tut beleidigt und 
wirft das leblose Tier zurück, auf den Blechhänger. Oben, mitten im noch 
wuselnden Tierhaufen, hockt ein etwa sechs, siebenjähriger Knirps. Unbe-
kümmert greift er mit beiden Händen in den Abfallberg und beschmeißt 
die Umherstehenden damit. Eine kugeldicke Frau kommt sichtlich wü-
tend angerannt. Sie zerrt den Jungen vom Hänger und klatscht ihm eine.
Noch ehe der Trotzkopf  Rotz und Wasser heulen kann, zieht die dicke 
Frau, anscheinend die Mutti, ihn unsanft mit sich fort.
Die Fischer auf ihren Kuttern sehen auch nicht gerade erfreut aus. Sicher, 
der Fang war mickrig. Aber was sie anscheinend noch lästiger finden, 
sind die vielen Leute, die ihre Kutter umlagern. Urlauber, Tagesausflüg-
ler, irgendwie spinnerte Landratten, die unentwegt mit ihren Fotoappara-
ten vor den Fischern herumfuchteln.
Wenn ich Fischer wär...also mir würde das Gegaffe und die dauernde 
Knippserei der Leute auch ziemlich auf den Docht gehn. Kann es mir 
bildlich vorstellen: Da sitzen die Männer wortkarg beisammen, draußen 
auf hoher See. Vielleicht spielen sie Mau Mau, oder Rommee´, wenn
sich in den Netzen nichts tut, oder süffeln Klaren. Alle paar Stunden die
Netze einholen - auch schweigend. Jeder Handgriff sitzt, da braucht es
nicht vieler Worte. Und um sie rauschen ewig Wind und Meer. Die tröst-
liche Weite da draußen lullt sie ein. Ruhe kommt. Tiefe Ruhe - Stunden,
manchmal auch tagelang.
Und dann fahren sie im Heimathafen ein, und Sense ist mit Ruhe. Die 
aufgeregt starrende Menschenmenge stürzt an die Reling, noch ehe die
schweigsam gewordenen Fischer ihre Taue verzurrt haben. Knippsappa-
rate werden gezückt wie Revolver, und die mürrisch werdenden Fischer 
müssen sich fast einen Gang freikämpfen, um wenigstens ungestört ih-
ren Fang zu entladen...Das ging mir durch den Kopf, während ich die
Szenerie unten, im tiefer gelegenen Hafen, beobachtete.
Schließlich straffte ich mich, wedelte einen Zehner in der Luft, bezahl-
te, und sagte etwas angeberisch: > Stimmt so, schönes Fräulein. <
Das hübsche Fräulein musterte mich verdattert und meinte, daß ich 
zwölf Euro zehn zu bezahlen hätte. Der Ordnung halber rechnete sie 
mir haarklein vor: zwei Käsesahne und ein Kännchen Kakao - macht 
zusammen exakt zwölf  Euro zehn.
Ehe ich recht begriff, daß die Preise hier ganz schön gesalzen sind, dach-
te ich eher kleinlaut darüber nach, daß das ziemlicher Wucher sei und da-
rüber, mir die Ferien deswegen trotzdem nicht versaun zu lassen. > Na 
gut...nein, nicht gut, < maulte ich dennoch und reichte ihr den ausstehen-
den Betrag säuerlich grinsend.
Das unendlich geduldige Fräulein bedankte sich freundlich, wünschte ei-
nen guten Tag, und weg war sie.

Ich verließ den Kuchentempel und ging in Richtung offene See davon. 
Der Wind frischte etwas auf. Eine morsch gewordene Holztreppe führte 
hoch, zum angrenzenden Deich. Oben angekommen, ließ ich meinen 
Blick wie befreit in die Runde schweifen. Das Dorf lag jetzt etwa einen 
Kilometer in westlicher Richtung entfernt. Hinter und auf dem Deich 
grasten Schafe und Kühe. Weit dehnte sich die ausgestorben wirkende,
karge Landschaft. Hin und wieder tauchte landwärts ein einsam gelege-
nes Bauerngehöft aus der Ebene auf. Nah einem riesigen Kornfeld, nur 
noch schemenhaft erkennbar, stapfte ein Mensch den schnurgeraden Weg 
entlang. Dann sah ich lange nichts, außer den Zug weisser Wolken am 
alles überspannenden Himmel. Niemand kreuzte meinen Weg. Ich fühlte 
mich plötzlich klein wie ein Regenwurm im Riesenland aus Schlick und
Horizont. Überwältigend, der Aus - und Anblick von Weite, die sich ein-
zig vor Himmel, Wind und Wellen duckte. Und währenddem breitete sich
auch in mir große, stille Demut aus. Majestätisch, kam es mir in den Sinn.
Spröde, karg und dennoch majestätisch. Kein Berg versperrt die Sicht. Al-
les hier draußen atmet Ruhe, die fast ungeheuerlich anmutet. Alles ist weit 
weg: die Enge der Stadt, oftmals belangloses Gerede, Zank, Neid, Gestank 
der Kohle-Schlote, Lärm von Motoren, Maschinen - alles ist weit, weit 
weg. Ich atme wohltuende Luft tief ein und spaziere einfach weiter, immer
weiter den Deich lang.
Der Wind faucht dort oben, auf der Deichkrone, noch energischer. Doch das 
Gefühl, mutterseelenallein durch die gekämmt aussehende Einöde zu wan-
deln, lässt offenbar jedes andere Empfinden, wie Kälte, Frieren, oder Schwit-
zen nicht mehr zu. Ich stemme mich gegen den pfeifenden Wind und spüre 
einen unwiderstehlichen Drang in mir aufsteigen: Den Drang, immer nur 
weiter zu gehen, immer weiter weg von der nächsten Siedlung, nur fort
von einzwängenden Betonwüsten, die Träumen kaum Raum lassen.
Einen einzigen Menschen ließ ich in jene Abgeschiedenheit, hier, einbre-
chen. Eher unvermittelt und plötzlich erinnerte ich mich seiner Worte, 
die wie scheue Vögel aus der Vergangenheit aufflogen... > Irgendwann 
im Leben ist fast jeder Stadtmensch so gut wie reif für die Irrenanstalt.
Einmal ist jeder soweit..! <
Ich war damals noch nicht mal ganze Zwanzig, als mein bester Freund 
solch wirres Zeug daher redete. Aber ich habe ihn auch nicht belächelt, 
deswegen. Nur zugehört hab ich ihm - und mir schließlich eingeredet, 
daß er eventuell etwas überdreht ist, in letzter Zeit. Das wird schon wie-
der, glaubte ich. Also klopfte ich ihm auf die Schulter und ermunterte 
ihn, gefälligst positiver zu denken. Er war ja mein Freund - und Freunde 
sollten zusammenhalten, auch wenn es mal knüppeldick kommt...
Leider konnte ich ihm nicht helfen. Auch Freunde haben nicht immer 
die passende Problemlösung parat.
Ja, wir sind wirklich beste Freunde, gestand ich mir oft ein. Wir waren 
es... Er ist im letzten Jahr aus dem Fenster gesprungen. Sein Leib krachte 
mitten auf den Flanierplatz, im Zentrum unserer Stadt. Er kam mit seiner 
Angst vor dem Verrücktwerden einfach nicht mehr zurecht. Er war fertig 
mit sich und der Welt, um es direkt zu sagen.
Einer der Saubermänner, die später seine Einzelteile vom Pflaster kratz-
ten, blickte hinauf zum achtzehnten Stock des Hochhauses, und brummel-
te resigniert: > Jede Wette: der Kerl war schon tot, bevor er runtersprang. <

Das war er. Schon lange vorher war er tot. Der fordernde Stress fraß ihn 
auf. Der knallharte Job in der Stahlgießerei, die ewige Jagd nach Wohl-
stand für sich, Frau und seine zwei Kinder, der Machthunger der Kollegen, 
die jeden Schwächeren wie ihn nach und nach ausschalteten. Und er, der 
vermeintliche Schwächling, nahm sich nicht die Zeit, der fordernden Tret-
mühle wenigstens für eine Weile zu entkommen. Er blieb im verdammten 
Moloch von Stadt, im knochenharten Job, blieb in der Tretmühle: bis die 
kollabierte und ihn wie Rotz ausspuckte.
Das hätte sie sich sparen können...Er fiel von selbst. Achtzehn Stockwer-
ke tief.
Wir haben oft zusammengesessen, auf ein oder auch schon mal zehn Bier,
nach Feierabend. Und er hat sich über sein sinnloses Leben beklagt; heul-
te oft wie ein Zwingerhund. Überall würden sie ihn nur schikanieren, und 
selbst seine Frau sei inzwischen soweit, ihn einen Versager zu nennen.
Er war kein Versager. Er war nur etwas weicher als die andern, zartfühlen-
der, menschlicher; ließ alles Negative zu nah an sich heran. Kam in seinen
Selbstzweifeln um...

> Machs gut, Tommy, < brummelte ich gedankenverloren, als wäre er erst
gestern verstorben. > Wenn wir uns je da oben wiedersehn, dann zeig ich 
dir den Flecken Erde, hier unten. Hier wärst du sicher der Tommy von frü-
her geblieben: sorglos und ausgeglichen... <
> Sieh dir nur die Gegend hier an! Ist die nicht 'ne Wucht?! Himmel, soweit 
dein Auge reicht, und noch viel weiter! Und der Deich erst....Schön nass 
und matschig - wie gemacht zum gründlichen Einmottern! Nichts als Wie-
sen, Nordsee, Himmel und Weg! Na, ist das nichts, Tommy?! <
> Tommy...? <

Stille. Laute, ruhelose Stille. Nur der brausende Seewind fegt kühl durch
Gedanken, die sich mehr und mehr um den einstigen Freund drehen. Die
Augen fangen an zu tränen, vielleicht von der salzigen Brise, oder auch 
von schmerzenden Erinnerungen, die weiter Oberhand gewinnen. Nie 
waren jene Erinnerungen fühlbar näher und gegenwärtiger, als hier drau-
ßen, auf dem menschenleeren Deich.
Ich wische die Tränen weg.
Fast habe ich jetzt die offene See erreicht. Linkerhand ragt ein Leucht-
turm auf. Davor toben zwei Kinder übermütig im regensatten Gras. Ein
Junge und ein Mädchen. Ihre Eltern sind nicht zu sehen. Etwas besorgt 
deswegen, gehe ich weiter in Richtung Leuchtturm vor. Weit und breit 
steht rein garnichts, was einer menschlichen Behausung ähnelt - außer
dem verwitterten Leuchtturm, dort. Aber da werden die Kinder ja wohl
nicht wohnen. Sämtliche Leuchttürme, entlang der Küste sind doch 
längst verwaist, hier genau, wie anderswo. Sie harren nur noch als ge-
duldige Zeitzeugen in der ungastlichen Gegend aus, um dem vorbei kom-
menden Besucher wenigstens die Ahnung von einer einst tüchtigen See-
fahrt zu geben. Leuchtfeuer senden sie in Seenot geratenden Schiffen 
längst nicht mehr. Die fortschreitende Technik hat all das bewährte Alte 
zu Grabe getragen. Und leben will in den eisernen Ungetümen offenbar 
auch niemand mehr.

Ich gehe weiter, auf die spielenden Kinder zu. Es scheint fast so, als 
würde man hier jedes Gefühl für Entfernung verlieren. Kam es mir 
gerade noch so vor, als würden die Kinder knappe hundert Meter ent-
fernt sein, so wurde aus der Schätzung leicht das Drei - oder Vierfache,
wie sich herausstellte.
Doch das war es nicht allein. Auch jedes reale Zeitgefühl hatte sich 
schleichend verabschiedet. Daran mochte die augenblickliche, innere 
Verbundenheit mit der kargen, irgendwie tröstlich wirkenden Einöde 
im Watt Schuld tragen. Andererseits war da noch etwas anderes, mir 
Unbekanntes, das sich in verloren geglaubte Zeitfolgen mischte.
Der Weg zieht sich nun zu einer langgestreckten Biegung - und noch 
immer habe ich die spielenden Kinder nicht erreicht. Mit größer wer-
denden Schritten ging ich auf sie zu - aber ich glaubte nunmehr sogar,
auf der Stelle zu laufen.
Ehe ich den Schabernack, den mir die schier unendlich trügerische 
Weite spielte durchschauen konnte, bemerkten mich die Kinder. 
Sie winkten lachend herüber: gerade so, als würden sie einen guten 
Bekannten grüßen.
Ein paar Wortfetzen durchdrangen den aufbrausenden Wind. Ich ver-
stand sie jedoch nicht, weil sie mich nicht erreichten. Es war, als be-
wegten sich Münder, doch die Laute darin wehten ins Leere.
Unwillkürlich durchzuckte mich ein Schaudern. Die Kälte, die mir 
plötzlich im Nacken hochkroch, war nicht mehr auszuhalten..! Die 
Augen weiteten sich und meine Hände gehorchten mir nicht mehr - 
sie zitterten ununterbrochen.
Die Kinder, dort hinten... kannte ich sie nicht? Hatte ich sie nicht ir-
gendwo schon gesehn?
Die Beine wurden mir schwerer vom Gehen. Dann standen sie still, 
als hätten sie allein bestimmt, ihr Ziel erreicht zu haben. Ich kniff 
die Augen, und jetzt schärfte sich mein Blick. Die zwei Kinder hiel-
ten inne im Spiel.
Ihre im Wind wirbelnden, blonden Haare surrten - und dann trafen 
sich unsere Blicke...Wie könnte ich jemals diese Gesichter verges-
sen..! Wenn ich sie ansehe, erkenne ich ihren Vater darin...Ja, den
Vater. Aber der war doch längst tot...!
In meiner Brust tobten Stürme. Gleich wird es darin einen Knall ge-
ben und dann falle ich in tiefe Ohnmacht. Die Sinnestäuschung ist
einfach zu gewaltig - und trotzdem völlig unverfälscht - so scheint 
es. Oder fiebere ich und werde komplett verrückt...?!
Nein - alles ist wirklich da. So sehr ich mir die Augen reibe: alles
ist tatsächlich da!

Der Wind flaut ab - gerade so, als wolle er den schweren Weg für 
ein Wiedersehen endgültig freigeben.
Jemand sperrt die rostige Eisentür, am Fuß des Leuchtturms, auf. 
Es knarrt und quietscht ohrenbetäubend. Und dann steht er lächelnd 
im Eingang und streckt die Arme vor, um einen alten Freund zu um-
armen...Er sieht noch genauso aus, wie er Mitte zwanzig aussah:
jung, groß, kräftig, und voller Lebensfreude. Sein schwarzes Haar 
glitzert in der hervor brechenden Sonne und aus seinen dunklen Au-
gen blitzt derselbe Schalk, wie einst. 
> Tommy...? <
Die beiden Kinder springen an meine Seite, fassen mich bei den
Händen und führen mich ins Innere des Leuchtturms. Meine Augen
füllen sich mit Tränen. Ich kann kaum atmen, und mein Gang wirkt
steif und zögernd. Die Hände der beiden Kinder fester umklam-
mernd, trete ich über die Schwelle der eigenwilligen Behausung.
Ich umarme den Freund: lange. Sehr lange.
> Sorge dich nicht, < sagt er. Oder besser: formen die Lippen. Hören
kann ich seine Worte nicht. Nur sehen, daß sein Mund es haucht.
Und: > Verzeiht mir...<
Es ist, als würden dichte, unsichtbare Wolkenwände jeden Laut zu 
sich holen, um nur Schweigen durch zu lassen.

Am Abend, als der Seewind jäh zum Sturm anhebt, sieht man dort
draußen ein schwaches Licht, das die nieder sinkende Dämmerung
durchdringt. Ein Lichtfetzen nur, der aus dem Innern des Leucht-
turms kommt.



2. 
Wenige Tage vor Abreise sitzen die alte Frau Hansen und ich Nach-
mittags bei Schwarztee und Kuchen in ihrem Hausanbau. Wir sind
uns inzwischen schon deutlich grüner, und so erzähle ich ihr von der
geheimnisvollen Begegnung, neulich, am Deich - natürlich auch in
der Hoffnung, daß sie mich nicht auslacht.
Sie hört in aller Ruhe zu, wartet ebenso geduldig bis zum allerletzten 
Wort, nippt am Tee, lässt Kandis in die Tasse purzeln, schenkt seelen-
ruhig Tee nach, sieht erst dann auf und lächelt nachsichtig, ehe sie 
sagt: > Sie sind nicht der Erste, der da draußen Ähnliches sah, junger 
Mann. Und sie werden nicht der Letzte sein...<
Dann schweigt sie (völlig untypisch für die ansonsten sehr gesprächi-
ge, alte Dame) gedankenverloren.



(c) Ralph Bruse

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.04.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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