In einem kleinen Vorgarten am Rande der Stadt wuchs und gedieh einmal eine prächtige Osterglocke. Ganz langsam, über Monate hinweg, entwickelte sich das zarte Pflänzchen von einer einfachen, krummen Zwiebel im Boden zu einer herrlich blühenden Blume. Wer genau hinsah, der konnte sie wachsen sehen – Stück für Stück, Tag für Tag, immer ein paar Millimeter mehr.
Während Anfang des Jahres zunächst nur das sanfte grüne Köpfchen aus der Erde spitzte, so entwickelten sich wenige Wochen später bereits die langen, sternförmigen Blütenblätter, sechs an der Zahl, die das längliche, krause Nebenkrönchen umfassten. Bis zum Osterfest hielt die junge Osterglocke ihr Wesen verschlossen, ihr Inneres schützend vor der kalten, bedrohlichen Welt, vor dem Winter, vor Wind und vor Schnee, vor habgierigen Menschen.
Erst als alle Früchte und Samen in der dreifächerigen Kapsel vollständig ausgebildet waren; erst als die Osterglocken in der Kirche läuteten, der gefürchtete Winter endgültig vom Frühling vertrieben wurde und die Natur zu leben und zu blühen begann, öffnete das ausgereifte schöne Pflänzchen seine Krone und leuchtete in so strahlendem, hellem Gelb, wie es schöner nicht sein kann.
Die übrigen Osterglocken im Garten taten es ihr gleich. So war es ein wahres Wettblühen, dass so mancher Spaziergänger andächtig stehen blieb, die sinnliche Schönheit der Natur bestaunend.
Doch mit dem Öffnen der bezaubernden Blütenkrone ließ die Osterglocke auch die Schicksalhaftigkeit des Lebens herein. So manche Nachbarblume wurde unverhofft vom Menschen geholt. Ganz plötzlich und ohne Vorwarnung schied sie dann aus dem Leben. Manchmal ganz gewaltsam, an den Wurzeln aus dem Boden gerissen, manchmal ganz kurz und schmerzlos, mit einem sauberen Schnitt. Keiner wusste warum und nach welchen Kriterien der Mensch die Blumen auswählte – es konnte Jede treffen.
Der Osterglocke wurde bewusst, dass ihre Zeit auf dieser Welt nur begrenzt war und sie früher oder später ins Erdreich zurück wandern musste. Drum fasste sie den Entschluss, das Beste aus ihrer verbliebenen Zeit zu machen. Jeden Tag erhob sie ihr zartes Krönchen mit einem Lächeln; sie erfreute sich an der Sonne, an der Natur, am Leben und strotzte nur so vor positiver Energie. Sie schätzte ihre Nachbarblumen sehr, redete ihnen Mut zu, genoss die Gesellschaft. Sie teilte das Wasser mit den Regenwürmern und Käfern am Boden, knüpfte Freundschaften und tat Gutes. Sie verteilte ihre Samen so eifrig wie keine andere Blume, bildete unzählige Tochterzwiebeln aus und schenkte daher viele neue Leben. Sie versuchte die Tage so viel wie möglich zu genießen, Jedem mit Liebe zu begegnen und blühte dabei so schön wie keine andere Osterglocke.
Eines Tages jedoch spürte das Pflänzchen, dass es bald mit ihm zur Neige gehen würde. Das Haupt wurde schwerer, das leuchtende Gelb verblasste allmählich und die zuvor so herrlich geschwungenen Blütenblätter wurden schrumpelig und alt. Die Osterglocke kämpfte mit letzter Kraft, noch einmal den wunderschönen Sonnenaufgang erleben zu dürfen, den sie so gerne betrachtete. Ein letztes Mal streckte das geschwächte, welkende Blümchen sein nun braunes Krönchen gen Sonne, nahm einen letzten Atemzug und sank schließlich kraftlos zu Boden, ehe der letzte Tropfen Lebenssaft aus seinem vertrockneten Stängel wich.
Die übrigen Osterglocken, Kinder und Freunde, beklagten sehr ihren schmerzlichen Verlust. Sie hielten die wunderschöne, sanftmütige Blume in Ehren und erinnerten sich oft an ihr kraftvolles, lebensfrohes Wesen; an die Osterglocke, die so schön blühte wie keine andere.
Auf dem Fleck, wo das Pflänzchen einst stand, war bald nichts mehr zu sehen. Die tote, verwelkte Krone sowie der leblose, trockene Stängel zersetzten sich rasch und wurden eins mit dem Erdreich.
Die Zwiebel dagegen, der Kern des Pflänzchens, verblieb tief unten im Boden, wohlgeschützt vom herbeieilenden Winter und der bitteren Kälte.
Als sich im Frühjahr wieder die ersten grünen Köpfchen aus dem Erdreich des Vorgartens drückten, war alsbald auch dort ein kleines, zartes Haupt zu sehen, wo einst die schöne Osterglocke stand. Die tot geglaubte Zwiebel hatte sich erholt und war wieder zum Leben erwacht.
In neuem Antlitz blüht und strahlt die wiedergeborene Blume nun erneut zum frühjährlichen Osterfest. Stärker wie zuvor fließt Lebenssaft durch ihre Adern; die langen, gewellten Blütenblätter leuchten farbiger und satter als man es jemals gesehen hat und die aus der Pflanze tretende Lebensfreude wirkt nahezu ansteckend auf alle umliegenden Geschöpfe. Voller Hoffnung und Zuversicht räkelt sich die Osterglocke nun der Sonne entgegen – so, wie sie es immer getan hat; so, als wäre sie nie gegangen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.04.2020.
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