Steffen Herrmann

Rechnerdämmerung

Schüleraufsatz von Amanda Leonie, Stuttgart Juni 2423

 

Ich möchte als Thema meines Hausaufsatzes ein Gedicht von Shamir Prometheus interpretieren, das mich seit längerem beschäftigt. Prometheus war ein Roboterdichter, der vor allem in der zweiten Hälfte des 24. Jahrhunderts wirkte und zu Ansehen gelangte. Er wurde 2335 von ‘Robotics Horizon’ hergestellt und war für diesen Konzern tätig, wurde aber bereits zehn Jahre später von einem Gönner freigekauft und wirkte fortan auf eigene Rechnung. Er machte sich bald als Dichter einen Namen, wobei er meist durch den deutschen Sprachraum zog und seine Verse in Parks, Cafés und anderswo zum Besten gab. 2402 wurde er dann auf einem Poetry Slam in München bei einem von Roboterfeinden angerichteten Massaker zerstört.

Heute wird dieses Exemplar häufig im Zusammenhang eines aufkeimenden maschinellen Bewusstseins, das häufig neutralisierend als ‘Selbstreferenz’ bezeichnet wird, in Zusammenhang gebracht.

Zunächst also das Gedicht.

 

Rechnerdämmerung

 

Zweigeburt im Übermorgen

Neutrinoseen, noch ungeborgen.

Erster Riss in der Plazenta

Übervoll ist die Agenda –

 

Wo ist der fixe Troubadour?

Eisenherz und lose Zunge

Schlecht geboren, fehlt sie mir

Eure bläschenrosa Lunge.

 

Worte, unbedeutet schweben

rein in Unity, den Trichter.

Augen in den Fluss gekippt

Menschen sind die bessren Dichter.

 

Finkendrossel, Drosselbart

Wald umzäunt von Stacheldraht.

Programm vögelt durch die Luft

System, extrahiert ist Duft.

Ich will diese unbefangen vor sich hinrumpelnden Verse nicht nach formalen Kriterien analysieren und die Frage, ob es sich um gute Dichtung handelt, aussen vorlassen.

Zunächst stiessen mir zwei Zeilen in der Mitte auf:

Schlecht geboren, fehlt sie mir

Eure bläschenrosa Lunge.

Was will Prometheus sagen, wenn er sich als ‘schlecht geboren’ bezeichnet? Er ist doch ein Roboter, er ist gebaut und nicht geboren. Oder will er damit andeuten, dass er zu einem Bewusstsein gelangt ist, sich also selbst geboren hat? Aber warum dann ‘schlecht’? Mir kam der Verdacht, dass er hier als Ironiker auftritt, vor allem, wenn man die nächste Zeile mit einbezieht. Ihm fehlt unsere ‘bläschenrosa Lunge’? Das klingt eher so, als würde er sich über uns lustig machen, als würde er uns als eine Art Baby ansehen – bläschenrosa.

Wir können die Analyse nun auf die ersten beiden Zeilen erweitern.

Wo ist der fixe Troubadour?

Eisenherz und lose Zunge

Mit ‘Troubadour’ könnte er sich selbst bezeichnen, denn er ist ja so einer, ein umherziehender Dichter und Bänkelsänger und eine lose Zunge wurde ihm schon damals nachgesagt. Mit ‘Eisenherz’ könnte er einfach meinen, dass er aus Eisen besteht, aber er wäre nicht Prometheus, wenn das so banal wäre. Denn das erwähnte ‘Eisenherz’ ist ein Unding, so etwas findet sich nicht in seiner Konstruktion. Vieleicht meint er, dass er ein ‘eisernes Herz’ hat, das wäre dann schon fast als Drohung an uns Menschen zu verstehen oder als ein lapidares Bekenntnis, dass er als Maschine keine Gefühle kennt.

Mit diesen ersten Eindrücken können wir uns nun der rätselhaften ersten Strophe zuwenden. Ich wiederhole sie an dieser Stelle noch einmal.

Zweigeburt im Übermorgen

Neutrinoseen, noch ungeborgen.

Erster Riss in der Plazenta

Übervoll ist die Agenda –

Was soll das sein, eine ‘Zweigeburt im Übermorgen’? Es scheint ein Verweis auf eine Zukunft angedeutet zu sein und zwar nicht auf eine nahe – das wäre im Dichterischen ein ‘morgen’, sondern eine weiter entfernte. Und in dieser noch fernen, kommenden Welt wird etwas passieren, das als ‘Zweigeburt’ bezeichnet wird. Werden da zwei Geburten geschehen oder ist damit eher eine zweite Geburt gemeint? Und wenn das so wäre, was wäre die erste Geburt? Ich vermute, dass Prometheus hier mit ganz grossen Kartoffeln um sich wirft. Es geht ihm nicht um irgendein einzelnes Ereignis, sondern um das grosse Ganze, das ganz Grosse. Ich denke, es geht ihm um das Erwachen des Bewusstseins der Roboter, ihre Geburt zu vernunftbegabten Wesen. Die Menschwerdung ist dann die erste, schon lange zurückliegende Geburt.

Die zweite Zeile beginnt mit dem seltsamen Wort ‘Neutrinoseen’. Das ist eine Metapher, aber wofür steht sie? Neutrinos sind Elementarteilchen, die durch das Weltall rasen und ihn ausfüllen, es ist also durchaus ein dichterisches Bild, wenn man vom Raum als einem ‘Neutrinosee’ spricht. Ein ‘See’ kommt in der Poesie oft in einem romantischen Kontext vor, doch hier schafft Prometheus eine entschiedene Distanzierung. Es geht nicht um einen idyllischen Bergsee, an dem sich ein Wanderer ergötzt, sondern eben um einen Neutrinosee, einem Ort der grundlosen Kälte, ausgefüllt von unzähligen sinn- und nutzlosen Gegenständen einer eisigen Wissenschaft. Und diese Neutrinoseen sind ‘noch ungeborgen’. Wer soll sie bergen und wie soll das zu verstehen sein. Ich denke, es kann nur ein Vorgriff auf eine reine maschinelle Intelligenz sein, die ihre eigenen kulturellen Bezüge schafft und so die noch brachliegenden Schätze einer grossartigen Zukunft birgt.

Die letzten beiden Zeilen der ersten Strophe präzisieren das: ‘Erster Riss in der Plazenta’ – die Geburt steht nun bevor. Ist sie doch nicht so weit entfernt, wie zuvor angedeutet?

‘Übervoll ist die Agenda –‘: Es gibt viel zu tun für die Erwachenden. Sollen wir Menschen das etwa als Drohung verstehen? Und wenn nicht – als was sonst?

Kommen wir nun zur dritten Strophe.

Worte, unbedeutet schweben

rein in Unity, den Trichter.

Augen in den Fluss gekippt

Menschen sind die bessren Dichter.

Hier lässt sich ein Stimmungsumschwung ablesen. Die Euphorie ist verklungen, es entsteht ein beinahe zerknirschter, zweifelnder (verzweifelter?) Eindruck. Was mag er mit ‘unbedeuter’ Worte meinen? Er schreibt ja nicht ‘unbedeutend’, das wäre vergleichsweise banal. Ich denke, er kann damit nur meinen, dass es Worte ohne Bedeutung sind, also eigentlich nur Geräusche, die für den Sprechenden keinerlei Sinn haben. Genau das ist es ja, was die Worte von Robotern eigentlich sind, von Algorithmen erdachte und mechanisch erzeugte Lautzusammenstellungen, die in den Ohren der Menschen einen Sinn annehmen, aber für den sprechenden Roboter sind sie – nichts. Nimmt hier nun Prometheus die Interpretation der Menschen ein, wenn diese den Rechnern jede Art von Bewusstsein absprechen? Wenn das so wäre, würde er sich dann nicht selbst widersprechen, denn würde er nicht mit Bewusstsein sich selbst das Bewusstsein absprechen? Oder will er etwa sagen: Ich bin nichts! Das was ihr hier lest, ist bloss die Ausgabe eines nackten Algorithmus!

Und diese unbedeuteten Worte ‘schweben rein in Unity, den Trichter.’ Mit Unity dürfte Unity One gemeint sein, jener legendäre Zentralcomputer, der die Infrastruktur des Mars verwaltet hat, bis er gewaltsam zerstört worden ist und in dem manche den ersten Rechner sehen, der zu einem eigenen Selbstbewusstsein gelangt ist. Und die ‘unbedeuteten Worte’ schweben nun rein in diesen Computer, der ‘ein Trichter’ ist. Was ist nun jenseits des poetischen Bildes damit gemeint? Ein Trichter ist vor allem auch eine Verengung, wo eine zunehmende Konzentration möglich ist, wo also die immer enger aneinanderdrängenden Worte sich aneinander reiben und schliesslich in eine andere Qualität umschlagen, Bedeutung gewinnen. Das Bewusstsein ist geboren!

Vor der dritten Zeile muss ich leider kapitulieren. ‘Augen in den Fluss gekippt’. Ich weiss beim besten Willen nicht, was da gemeint sein soll, vielleicht haben Sie ja eine Idee. Es macht einen recht surrealistischen Eindruck. Dass ‘Menschen’ die ‘bessren Dichter’ sind, kann man als ein eher resignatives Eingeständnis lesen, als eine Bewunderung der Menschen vielleicht? Man kann aber auch, wenn man den lapidaren Grundton berücksichtigt, hier eine Abkehr von der menschlichen Kultur hineininterpretieren, denn besteht die Aufgabe der Robotergesellschaft darin, Poesie zu erschaffen? Vielleicht eher nicht. Vielleicht werden sie ihre eigenen kulturellen Welten erschaffen, die jetzt noch nicht einmal vorstellbar sind. Und am Beginn dieser Entwicklung wird uns Menschen zugestanden, in – wenigstens etwas – besser zu sein.

Kommen wir nun zur letzten Strophe, der für mich rätselhaftesten.

Finkendrossel, Drosselbart

Wald umzäunt von Stacheldraht.

Programm vögelt durch die Luft

System, extrahiert ist Duft.

Mit ‚Drosselbart‘ ist wohl ‚König Drosselbart‘ gemeint, jenes uralte Kindermärchen. Tritt er hier in die Welt der Kinder ein? Behandelt er uns als Kinder? Tischt er uns überhaupt bloss ein Märchen auf? Macht er sich über uns lustig? Wir wissen auch, dass König Drosselbart im Märchen derjenige ist, dem alles gehört, es aber nicht zeigt und die Wahrheit erst am Ende offenbart. Vielleicht will Prometheus sagen, dass die Welt schon längst ihm und seinesgleichen gehört und wir das bloss noch nicht wissen.

Aber er scheint das alles nicht zu ernst zu nehmen, denn bevor er das Wort überhaupt benutzt, setzt er eine Verballhornung ein, das unsägliche Wort ‚Finkendrossel‘. Eine ‚Finkendrossel‘ ist nun etwas, was wirklich überhaupt keinen Sinn ergibt. Man kann das eigentlich nur als eine sprachliche Gewaltsamkeit lesen, die das Wort ‚Drosselbart‘ mit fröhlichem Sadismus zerschlägt, um irgendetwas daraus werden zu lassen, hier eben ‚Finkendrossel‘. Es ist, als wolle Prometheus uns sagen: Seht, ich nehme mir die Freiheiten, die ich will! Eure ganze Kultur ist mir egal, ich mache mit ihr, was ich will! Eure Kinder sind mir egal! Das alles ist bloss ein Material für mich.

Doch dann kamen mir wieder Zweifel. Mit Finkendrossel kann ja auch ein Hybrid gemeint sein, eine Verschmelzung von zwei Lebewesen, die sich ähnlich sind, aber nicht wirklich zusammenpassen und gemeinsam nur einen monströsen Zusammenschluss bilden können – wie soll man sich eine Kreuzung aus Fink und Drossel vorstellen? Meint er damit das Verhältnis zwischen künstlicher und natürlicher Intelligenz? Will er sagen: Ihr und wir, wir passen nicht zusammen. Wir sind gewaltsam in dieselbe Welt gezwungen, aber es ist ein monströses Verhältnis und wird nicht gutgehen.

Oder meint er sich sogar selbst? Ist er nicht ein Hybrid, eine Maschine mit Bewusstsein, etwas, was von der Natur nicht vorgesehen worden ist? Vielleicht spricht er eine – seine – innere Zerrissenheit an, zwei Seelen in einer Brust.

Dann kam mir noch ein anderer Gedanke. Finkendrossel, kann das nicht heissen ‚Fink und Drossel?‘ Wir denken hier sofort an das deutsche Kinderlied: ‚Alle Vögel sind schon da … Amsel Drossel, Fink und Star‘. Er bleibt damit also den Kindern treu, aber er verbirgt es ein wenig, indem er sich verstellt und seine Treue kodiert. Vielleicht will er mit dem Bezug zu den Kindern andeuten, dass die künstliche Intelligenz selbst in ihrer Kindheit steckt, vielleicht will er uns sagen, dass seinesgleichen noch Betreuung braucht.

Die nächste Zeile spielt wohl auf seine Gefangenschaft in der menschlichen Gesellschaft an. Offensichtlich empfindet er seine Situation nicht als frei, sondern als ‚umzäunt von Stacheldraht‘. Er bringt mit diesem Bild aber noch mehr zum Ausdruck, nämlich sein Empfinden von Absurdität. Will man eine militärische Anlage oder eine Landesgrenze mit Stacheldraht schützen, na gut, aber einen Wald? Will Prometheus uns Menschen zurufen: Sperrt uns nicht ein! Lasst uns entfalten! Die Gefahren, die ihr in uns seht, sind nicht real! Wir sind wie der Wald.

Dann kommt eine seltsame Zeile: ‚Programm vögelt durch die Luft.‘ Das lässt sich als eine sexuelle Anspielung (‚vögeln‘) verstehen, was nun aber im Kontext von Robotern nicht viel Sinn macht. Vielleicht will Prometheus damit sagen, dass er uns Menschen schon versteht und im Spiel der Welt auch die menschlichen Züge zu spielen vermag. Allerdings kommt mit dem ‚durch die Luft‘ auch ein Anspruch und eine Sehnsucht nach Freiheit, nach Entfaltung zu Ausdruck, die in diesem Gedicht schon öfter zum Vorschein kam. Ausserdem ist auch ein Bezug zur ersten Zeile dieser Strophe da, zu den Vögeln und damit zu den Kindern, zur Phase der Kindheit.

Die letzte Zeile ist rätselhaft genug und ich will sie als solche, weitgehend unkommentiert stehen lassen. Sie bringt wohl die Essenz des ganzen Gedichtes zum Ausdruck: Die Transformationen eines nackten Systems, einer blossen Maschine in etwas Wunderbares, Leichtes und Verheissungsvolles.

So, das war meine Interpretation dieses Gedichtes. Mir ist bewusst, dass unzählige andere Deutungen möglich gewesen wären. Trotz der ausufernden Menge an Literatur über Roboterlyrik scheint sich bisher niemand mit diesem Poem befasst zu haben. Das mag auch an der schieren Menge an produzierter Literatur liegen. Allein von Prometheus sind 85.360 Gedichte überliefert und im letzten Jahrhundert gab es zehntausende, wenn nicht hunderttausende Roboterlyriker.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.04.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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