Wolfgang Hoor

Schach oder der Weg in die Erwachsenenwelt

Schach oder der Weg in die Erwachsenenwelt

Die meisten Spiele, die ich als Kind gerne spielte, waren fröhlich, laut, zeitlos. Man spielte sie mit vielen, man nahm für sie Tadel in Kauf, wenn man schmutzig und verschwitzt nach Hause kam, und man riskierte eine Ohrfeige, wenn man verspätet war. Diese Spiele gehörten uns Kindern. Mein Vater rümpfte die Nase, wenn ich vom Fußballkicken mit einer Blechdose erzählte. Fußball war ordinär, war was für die Rotznasen in den Hinterhöfen. Es machte mir nichts aus, zu diesen Rotznasen dazuzugehören. Meine Mutter rief mich erschreckt zurück in die Wohnung, wenn sie mich an der Teppichstange turnten sah. Das war doch gefährlich, da konnte man sich doch alle Knochen brechen. Aber ich konnte es so einrichten, dass ich da turnte, wenn sie ihre Mittagsruhe hielt und mich nicht vom Balkon aus beobachten konnte. Die Teppichstange war unsere Turnstange, unsere Möglichkeit, mit einem anderen in Wettbewerb zu treten, ihn vielleicht sogar zu überbieten und damit Aufmerksamkeit zu erregen. Unsere Spiele gehörten uns, uns den Kindern. Sie waren unsere Welt.

Die Erwachsenen in unserer Familie, mein Vater, mein erwachsener Bruder und ein Nachbar, hatten ihre Spiele, die man als Kind verstand, ohne sie zu verstehen. Ich staunte, wie kindlich und laut und zeitvergessen sie werden konnten, wenn sie Skat spielen, wie sie in den gleichen Spielsog gezogen wurden wie wir Kinder. Ich sah gerne zu, wenn Skat gespielt wurde, obwohl ich das Spiel nicht verstand. Aber ich verstand, dass von der Spielwelt der Kinder auch bei den Erwachsenen noch etwas übriggeblieben war.

Und dann gab es Schach. Schach war etwas ganz anderes als die Spiele, die ich kannte. Da saßen sich schweigend zwei Spieler gegenüber. Der größte Teil des Spieles bestand aus dem Hinstarren auf die Figuren auf dem Schachbrett. Man konnte beobachten, wie die Augen hin- und herglitten, der Daumen und Zeigefinger manchmal gehoben wurde, um eine Figur zu ergreifen, und dann doch wieder zurücksanken. Dann sah man, wie sich die Augen der Spieler begegneten, wie sie sich ausforschten, wie sie spionierten, wie sie im Blick des anderen etwas suchten, was ich damals nicht verstand. Es war ein intensives, bedrohliches, erschreckendes Spiel. Es erinnerte mich an Szenen aus Karl May, wo sich der Held an einen Bösewicht anschleicht und kein Knacken, kein schweres Atmen, nichts, nichts, nichts bemerkbar werden durfte, wenn der Plan gelingen sollte.

Ich war zehn oder elf, als mir mein Vater Schach beibrachte. Schach war in seinen Augen ein würdiges Spiel, ein Spiel, das gekrönte Häupter und bedeutende Menschen gespielt hatten, und es adelte einen Menschen, wenn er es konnte. Ich weiß nicht mehr, wie lange er dafür brauchte, aber irgendwann verstand ich, was die merkwürdigen Blicke, was das Tasten und Zurückschrecken, das zermürbende Sich-Ausspionieren beim Schachspiel bedeutete. Allmählich begriff ich es: Schach war ein Kriegsspiel, bei dem man mit verblüffender Brutalität oder auch mit lähmenden Finten spielen konnte. Mein Vater hat mir in meiner Kindheit und Jugend jedes Spiel verboten, das etwas mit Waffen und Krieg zu tun hatte. Auf dem Kirmesplatz musste ich an der Schießbude vorbeigehen. Nicht aber Schach. Schach war ein kriegerisches Erwachsenenspiel, und als ich begriff, dass mir mein Vater da ein Erwachsenen-Kriegsspiel beibrachte, fühlte ich mich vorzeitig zum Erwachsenen erhoben und dachte nicht an sein kriegerisches Wesen.

Für den Schachspieler dauert es einige Zeit, bis er begreift, dass er mehrere Züge im voraus planen muss und dabei die Züge, die der Gegner planen wird, mit einbeziehen muss. Wenn es so weit ist, wenn Plan und Gegenplan aufeinanderstoßen, dann ist er in der schauerlichen Kriegswelt dieses Erwachsenenspiels, in der es nur noch eine Idee gibt: den Gegner zu vernichten. Und wie ein Kind in seinem harmlosen Fuballkicken versinken kann, so versinkt der Erwachsene in seiner Kriegs-Schachwelt. Ich gehörte in meiner Klasse zu den Kleineren, Schwächeren, ich musste mich oft mit einem stummen Protest zufrieden geben, wenn man mich – scheinbar freundlich, aber doch sehr schmerzhaft – boxte oder stieß. Aber schließlich hatten auch ein paar andere aus meiner Klasse das Schachspiel erlernt, und da konnte ich mich revanchieren. So wurde das Schachspiel meine Art, der Welt um mich herum die Stirn zu bieten.

Ich war in der 10. Klasse und lebte in einem Internat. Es war ein Samstag, der letzte Schultag der Woche ging seinem Ende entgegen. Samstags fuhr ich nach dem Mittagessen im Heim mit dem Zug nach Hause. An diesem Samstag waren nur noch wenige Schüler im Heim. Wir saßen im Aufenthaltsraum, manche lasen, manche quatschen miteinander, ich baute mein Schachspiel auf einem Tisch auf, um ein paar Schacheröffnungen auszuprobieren. Während ich ein paar Figuren hin- und herschob, setzte sich plötzlich ein Oberstufenschüler aus der Klasse 12 an meinen Tisch. Es war ein alter „Bekannter“, ein Typ, der mich gerne auslachte. Er schaute mich kriegslüstern an. „Schach“, kicherte er, „was willst du denn schon mit Schach anfangen? Das ist was für Große und nicht für nen Kleinen wie dich.“ Und er stellte die Figuren, die ich bereits verschoben hatte, in ihre Ausgangsstellungen zurück. Die Wut kroch in mir hoch. Ich war vielleicht nicht der schnellste und der stärkste, aber Schachspielen konnte ich. „Kannst mir ja mal zeigen, wie ein Großer spielt!“, sagte ich und man hörte, wie mir der Zorn die Kehle zuschnürte. Er schaute mich belustigt an. „Gut“, sagte er, „mach ich.“

Natürlich legte er gleich los. Er versuchte es mit dem Schäferzug, einer Kombination von Zügen, die schon sehr rasch zur Niederlage des Gegners führen kann. Das kannte ich. Es war lächerlich, mich mit solch einer Anfängerfinte schlagen zu wollen. Ich setzte jetzt alles daran, ihm deutlich zu machen, wie sehr der scheinbare rasche Vorteil sich in einen Nachteil verwandeln kann. Er musste zurückrudern, Ich baute meine günstiger werdende Stellung aus. Er brauchte jetzt sehr viel Zeit für seine nächsten Züge. Ich beobachtete ihn. So hatte ich damals, als ich noch nicht Schach spielen konnte, die Spieler beobachtet. Ich sah, wie seine Finger sich einer Figur näherten und dann wieder zurückzogen, wie er in meinen Augen forschte, was ich wohl vorhatte. In dieser Phase kam der Hausmeister zum ersten Mal. „Das Spiel abbrechen. Wir essen gleich.“

Wir dachten nicht daran abzubrechen. Wir hatten uns in die Partie verbissen. Ich sah jetzt einen verwegenen Plan, eine Täuschung, auf den er hereinfallen musste. Ich bot ihm die Möglichkeit, meine Dame zu schlagen, die wichtigste Spielfigur. Wenn er sie schlagen würde, hätte er, was die Spielfiguren betrifft, einen uneinholbaren Vorteil, aber er hätte den Weg für einen Frontalangriff auf seinen König frei gemacht, er hätte nach vier Zügen verloren. Der Große sah mich hinterhältig an. „Ich sag ja, du kannst es nicht“, spottete er. „Aber wenn du willst, geb‘ ich dir die Dame zurück. Stell sie woanders hin.“ - „Ich kann auf sie verzichten!“, sagte ich, und da wurden seine Augen groß. Er sah es jetzt selbst. Das Damenopfer war sein Ende. Er hatte verloren! „Du kleiner Scheißer!“, rief er und schnellte hoch.

Und da tauchte der Hausmeister zum zweiten Mal hinter uns auf. „Ich hab‘ gesagt, ihr sollt das Spiel abbrechen. Jetzt mache ich das für euch.“ Und er hob das Schachbrett an einer Ecke hoch und stieß die Spielfiguren um. Jetzt stand auch ich. Der Hausmeister grinste. Bevor er etwas sagen konnte, hatte er von mir eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Ich war außer mir vor Wut. Der Hausmeister, verließ den Aufenthaltsraum. Ein Sechzehnjähriger hatte einen erwachsenen Mann geschlagen, eine Autorität, und das hieß wahrscheinlich: Ausschluss aus dem Internat und vielleicht auch Verweis von der Schule. Und da stand ich und starrte auf meinen Spielgegner und erwartete, dass er sich wieder über mich lustig machen würde. Aber er war jetzt auf meiner Seite. „Das hat er verdient“, sagte er. „Und du hast das Spiel gewonnen. Gratuliere!“ Und darauf verschwand er.

Ich erzählte meinem Vater die Geschichte, ich erwartete das Schlimmste. Unerwarteterweise fragte er nicht nach der Ohrfeige für den Hausmeister, sondern fragte nach der Stellung auf dem Schachbrett mit dem Damenopfer. Ich stellte sie auf unserem Schachbrett nach, und er sagte: „Sehr gut, mein Junge, da muss man erst mal drauf kommen.“ Ein höheres Lob konnte es von meinem Vater nicht geben. Und da wusste ich, dass es von Seiten meines Vaters keine Strafe geben würde, sondern dass er zu mir halten würde. Und wie er damals zu mir gehalten hat, gehört zum Schönsten, was ich mit meinem Vater je erlebt habe.

Und so ging es weiter: Mein Vater telefonierte mit dem Heimleiter und mit meinem Klassenlehrer. Was er da gesagt hat, weiß ich nicht, aber meine „Buße“ war gering. Mir wurde aufgetragen, mich zu entschuldigen, das war alles. Wahrscheinlich hat mein Vater die beiden, die über mich entscheiden konnten, als Schachspieler angesprochen. Ich entschuldigte mich, wie man es erwartete.

Ich flog nicht aus dem Internat und nicht von der Schule und mein Schachgegner kam mir jetzt viel freundlicher entgegen. Er sagte immer noch „Kleiner“ zu mir, aber ich glaube, es war nicht mein Sieg über ihn, der ihn milde stimmte, sondern die Ohrfeige, die ich dem Hausmeister verpasst hatte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.04.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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