Es war im Frühling 1948 während eines Spazierganges meiner Eltern mit einer anderen Familie am Schafberg im Nordwesten Wiens. Die Erwachsenen wollten plaudern und die schwierigen Zeiten ein wenig vergessen. Wir Kinder – Hannerl vom anderen Ehepaar und ich – sollten uns inzwischen selbst beschäftigen. Ich hatte mit meinen 4 Jahren ein für die damalige Zeit wunderbares Geschenk bekommen. Kleine Bälle mit Kern aus Stoff und einer gestrickten Umhüllung in 6 verschiedenen Farben. Selbst angefertigt natürlich, wahrscheinlich von den Freunden meiner Eltern.
Ich konnte die Fülle der bunten Pracht gar nicht in meinen kleinen Händen halten, verstaute sie schließlich einfach in meinen Hosentaschen und wanderte mit den anderen munter hinauf auf den beliebten Berg, den sich die Bezirke Währing und Hernals gebietsmässig teilten. Ob wir Kinder oben im renommierten Aussichts-Gasthof „Zur Himmelmutter“ eine Limo bekommen haben oder die Eltern Getränke mitgebracht hatten, kann ich nicht mehr sagen. Man war jedenfalls sparsam unterwegs in dieser Zeit und der Spaziergang von Gersthof auf den Berg war gewissermaßen die Freizeit-Investition für Samstag Nachmittag.
Auf dem Rückweg ließen mir die bunten Bälle – ein kräftiges Rot, ein himmlisches Blau, ein smaragdenes Grün, ein sonniges Gelb, ein gedecktes Grau und ein österliches Violett - keine Ruhe. Wie bunte Ostereier kullerten sie in der Wiese. Hannerl und ich begutachteten sie, wählten unsere Lieblingsfarben aus – ich wählte grün, blau und violett – und rollten sie am Boden hin uns her. Dann ging unser Weg weiter bergab und ich kam auf die Idee, das Gefälle auszunutzen und die Bälle im Straßengraben bzw. an der Kante zwischen Gehsteig und Fahrbahn talwärts rollen zu lassen.
Munter und ausgelassen hüpften die Bällchen auf dem unebenen Terrain den Berg hinab bis plötzlich das Unfaßbare passierte. Mein eben erst erworbener Spielschatz rollte auf ein Kanalgitter zu und ich erstarrte vor Schreck. Weg war der rote Ball und dann der grüne und auch der graue. Bevor ich handeln konnte, verabschiedeten sich auch der gelbe und der violette Ball in die dunkle Tiefe des Kanals. Ich heulte auf vor Schmerz und Enttäuschung und jetzt kamen auch die Erwachsenen hinzu, um das Drama zu betrachten. Aber da war nichts zu ändern. Die Bällchen passten genau in die Rasteröffnungen des Kanalgitters und schwammen jetzt geruhsam tief unten im Wasser. Keine Chance sie ohne Werkzeug da rauszuholen. Einen bunten, quirligen wunderbaren Schatz hatte ich heute bekommen, voll Besitzerglück in meinen Händchen gehalten und kaum zwei Stunden später war alles weg, verschluckt von einem bösen, unvermutet aufgetauchten Kanalgitter. Aus, vorbei, große Leere.
Da zeigte mein Vater auf meine rechte Hand, die zitternd etwas umschloss. Ja, ich hatte in letzter Not den blauen Ball gerettet. Ein Andenken an Dein schönes Geschenk ist Dir geblieben, meinte er und versuchte mich zu trösten. Aber meine Tränen kullerten immer noch und ich fragte mich, warum ich nicht auch noch den gelben und violetten Ball gefangen hatte. Mein stockstarres Schreckgefühl hat es offensichtlich verhindert.
Allmählich klangen meine Emotionen ab, es blieb allerdings ein bitterer Tag für meine Seele. Erst viel später begriff ich, dass ich aus diesem Ereignis auch viel gelernt hatte: Blicke voraus, um drohende Gefahren rechtzeitg zu erkennen, setze nicht all Dein Vermögen auf eine Karte und handle schnell, wenn Du als Retter erfolgreich sein willst.
Den blauen Ball ? Den findet man noch heute in einer ehemaligen Spielzeuglade meiner Söhne.
>tw<
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.05.2020.
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