Markus Zinnecker

Das Eisenstück

Vor vielen Jahren habe ich ein seltsames Geschenk erhalten. Ich bekam es von einem alten Freund der Familie. Die wahre Bedeutung jenes Geschenks war mir damals nicht klar, eigentlich bin ich mir nicht sicher, ob sie es mir heute ist, aber im Laufe der Zeit begann ich zu verstehen. Es handelt sich bei dem Geschenk um ein unförmiges Stück Eisen. Es hat ungefähr die Form eines verzerrten Y, auf den ersten Blick wirkt es eher wie ein seltsam geformter Stein oder vielleicht eines jener Lavastücke, die man in der Zoohandlung kaufen kann. Als Dekoration für ein Aquarium zum Beispiel.

Lava entsteht, das weiß wohl jeder, im Gewaltakt der entfesselten Naturgewalt in einem Vulkan. Es handelt sich um nichts weiter als geschmolzenes Gestein. Wie allen Naturgewalten, auch den auf den ersten Blick tödlichen, wohnt dem Vulkanismus die Kraft der Schöpfung inne. Die verwüstete, verbrannte Landschaft, die ein Ausbruch zurücklässt, ist doch bald wieder Heimat neuen Lebens. Vulkanasche ist fruchtbarer Boden.

Das Eisenstück bekam seine heutige Form ebenfalls in einem Akt der Gewalt. Doch es war Gewalt im Sinne völliger und absolut tödlicher Destruktion. Unnatürliche Gewalt, die nichts zu erschaffen, sondern nur zur vernichten vermag. Deren einzige Gemeinsamkeit mit der Gewalt des Vulkans darin besteht, dass sie ebenfalls zu Asche verbrennt. Jedoch zu einer Asche, auf der allerhöchstens das Dornengestrüpp von Hass und Vergeltung oder die grauen Äste des Elends wachsen können. Das Eisenstück ist ein Bombensplitter.

Einen Sekundenbruchteil, bevor es seine heutige Form angenommen hat, war es Teil einer Fliegerbombe. Jener ebenso simplen wie furchtbaren Waffe, die zu einer der Geißeln der modernen Welt wurden. In jenem Moment, in dem die Bombe explodierte, entstand das Eisenstück. Es raste mit irrsinniger Geschwindigkeit von der Explosion fort. Mauersteine, Balken, Fensterscheiben, Möbel, Panzerplatten, Fleisch, Knochen, Leben. Das Eisenstück war Teil einer jener Bomben, die im Zweiten Weltkrieg auf die Stadt Essen geworfen wurden. Ziel dieser Bombardierungen waren vor allem die Stahlwerke der Stadt. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass hier, inmitten des großen Weltenbrandes, ein Bruderkrieg der Elemente tobte. Eisen kämpfte gegen Eisen, das Element diente hier seiner eigenen Vernichtung. Dieses eine Eisenstück blieb liegen wo es hingefallen war. Was zufällig der Hinterhof eines schwerbeschädigten Mietshauses war. Zwischen den notdürftig geräumten Trümmern fand ein Junge das Eisenstück. Es hob es auf, war von seiner Form fasziniert und nahm es mit. Er sollte es viele Jahrzehnte lang aufbewahren, bis der Tag kam, an dem er es an mich weitergab. Jetzt liegt es auf dem Bücherregal und erzählt seine Geschichte.

Das Bücherregal stand zu jener Zeit, als das Eisenstück seine heutige Form erhielt, ebenfalls in einem kriegsbeschädigten Haus. Weit weg von Essen, in Frankfurt am Main. Das Haus erhielt keinen direkten Bombentreffer, nur ein Nebengebäude wurde getroffen. Die Explosion riss ein Loch in jene Wand, vor der das Bücherregal stand. Das Regal ist aus Eichenholz, schwer und massiv, ein Stück aus der Kaiserzeit. Seine Rückwand ist seit jenem Tag, an dem die Bombe das Nebengebäude traf, schwarz verbrannt. Eichenholz brennt schlecht, das rettete das Haus   vor den Flammen aus dem Nebengebäude.

Es sind ganz gewöhnliche Ereignisse, Kinder die Bombensplitter aufhoben, gab es seinerzeit wohl viele. Ebenso angekohlte Möbelstücke. Dass diese sich, auf unterschiedlichen Wegen, Jahrzehnte später vereinen und zusammen erzählen dürfen, das ist selten.

Von was sprechen sie zu uns? Von der Hoffnung, dass aus den Trümmern des Alten etwas Neues erwachsen kann. Davon, dass das Licht des Lebens noch in der tiefsten Dunkelheit leuchtet. Vielleicht auch davon, dass es sich lohnt, auf die kleinen Geschichten des Alltags zu hören und das scheinbar Wertlose zu bewahren. Außerdem zur Erinnerung daran, dass es sich lohnen kann, alte und scheinbar wohl bekannte Geschichten immer wieder zu hören. Vielleicht findet sich ja ein verborgener Schatz genau dort, wo man schon alles umgegraben zu haben glaubt.

Wer weiß schon, was man von einem alten Stück Eisen und einem angesengten Schrank alles lernen kann. Sehr viel, aber vielleicht auch nichts. Es kommt ganz darauf an, ob wir uns darauf einlassen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.05.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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