Ines Wertenbroch

Hinter Glas


Von allen Seiten dringt Musik, vermischt mit dem Duft von Popcorn, Fisch und Pommes Frites. Die Gasse zwischen den Buden ist mit Menschen gefüllt. Es ist heiß. Zwar laufe ich den Weg ohne Ziel, doch ich möchte nicht stehen bleiben, um mir die Angebote der Stände anzusehen. Erst vor einer Musikbühne mache ich Halt. Es spielt eine Samba-Gruppe. Ich setze mich auf eine Holzbank, seitlich vor der Bühne. Dort sitzt bereits ein Mann mittleren Alters, der den Rhythmus der Musik mit seiner rechten Hand auf der hellbraunen Cordhose mitklopft.
Ich lege meine Tasche neben mich und schaue zur Bühne. Die Sängerin hält zwei Rasseln in den Händen, die sie während des Singens zum Takt bewegt. Es scheint ihr nichts auszuma-chen, dass nur wenige Menschen zuhören.
Ich sehe mir die vorbeigehenden Menschen an. Viele der Frauen tragen bunte Kleider, die nur von den Laufbewegungen verursacht flattern. Die heiße Luft ist träge und ohne Wind.
Eine Gruppe mit fünf Personen stellt sich vor die Bühne. Den älteren Mann von ihnen erken-ne ich trotz der blendenden Sonne sofort. Ich setze mich aufrecht, um zu sehen, ob er auch da ist. Ich habe mich nicht geirrt: Frank steht neben ihm. Ich habe ihn fast nicht erkannt, denn er trägt eine Sonnenbrille und eine Mütze. Ich kann nicht wegsehen. Ich möchte, dass er mich ansieht. Tatsächlich hat er mich bemerkt und grüßt mit einem schwachen Lächeln. Ich erwidere es auf die gleiche Weise.
Gestern haben wir uns zum letzten Male gesprochen. Wir wollten zusammen auf das Stadtfest gehen. Ich war gerade dabei mich umzuziehen, als er mich angerufen hat. Auf die Frage, wie es ihm ginge, antwortete er, er hätte in den letzen beiden Tagen viel über uns nachgedacht. Er fühlte sich nicht mehr hingezogen zu mir, doch er würde mich sehr mögen. Wir sollten trotzdem versuchen, nicht aneinander vorbeizugehen, wenn wir uns zufällig begegnen sollten. Sei-ne Stimme hat schleppend gewirkt, als er sagte, er könnte meine Erwartungen nicht erfüllen, ich sollte mir keine Hoffnungen machen. Er wollte es mir gleich sagen, um mich nicht zu sehr verletzen zu müssen. Er schien es ernst zu meinen, denn er nahm in Kauf, mich nicht mehr zu sehen. Ich habe ihm gesagt, dass ich über ein Grüßen nicht hinausgehen könnte. Sein „mach’s gut“ am Schluss klang nach einem „Unser gemeinsames Leben ist ab jetzt vorbei“.
Nachdem ich aufgelegt hatte, blieb ich einen Moment wie gefesselt auf dem Stuhl sitzen. Ich habe meine Glieder nicht mehr gespürt. Ich verharrte eine Weile in Gedanken an seine Worte. Hörte seine Stimme immer wieder, die gesagt hat, er wäre nicht offen für mich.
Ich bin aufgestanden und im Raum umhergelaufen. Er hatte noch CDs von mir in seiner Wohnung. Ich wählte seine Nummer, doch er nahm nicht ab. Er musste gleich fortgegangen sein, nachdem er mich angerufen hatte.

Der Mann neben mir auf der Bank hat aufgehört, den Takt mitzuklopfen. Die Band macht eine Pause.
Die Gruppe um Frank steht noch da. Sie halten Getränke in den Händen. Sie würden also noch länger bleiben. Ich beobachte Frank. Er hat mir den Rücken zugekehrt und wirkt unbeweglich. Sein Kumpel schaut zu mir herüber. Ich frage mich, wie es hinter Franks dunklen Brillengläsern aussieht.
Die Samba-Gruppe beginnt ein neues Lied. Frank bewegt seine Füße immer, wenn er Musik hörte. Diesmal bleiben sie still. Was er wohl gedacht hat, als er mich hier sitzen sah? Wo ist er gestern Abend gewesen, als wir uns eigentlich hier treffen wollten?
Ich sehe mich noch laufen. Drei Stunden. Als ich wieder zu Hause gewesen bin, fiel ich auf mein Bett. Die Erschöpfung trieb mir endlich Tränen in die Augen. Mir war bewusst geworden, dass wir uns in jeder Hinsicht verloren hatten. Ich konnte ihn nicht mehr anrufen, um ihm zu erzählen, wie die Zeit ohne ihn war und wie ich sie verbracht hatte. Ich bin erst spät ruhiger geworden und schlief irgendwann ein.
Am Tag darauf habe ich mich entschlossen, allein auf das Stadtfest zu gehen. Ich bin in ein Café gegangen. Von meinem Platz aus konnte ich das Treiben in der Stadt betrachten. Überall drangen Stimmen herüber, die durch Mikrophone verstärkt wurden, vermischt mit Musikfetzen. Der Kellner kam und ich bestellte ein Wasser. Der Mann am Nachbartisch schaute zu mir herüber und lächelte, als ich zurücksah. Die Bedienung brachte mein Wasser und entschuldig-te sich dafür, dass ich so lange warten musste. Der Mann vom Nachbartisch sah mir beim Eingießen des Wassers zu. Der Tisch wackelte, als ich daran stieß. Etwas Wasser schwappte aus dem Glas. Ich habe es mit einem Taschentuch von der Tischplatte gewischt.
Ich habe mir nur wenig Zeit im Café gelassen. Mich drängte es in die Stadt. Ich bezahlte und ging ohne mich umzusehen aus dem Café, obwohl ich den Blick des Mannes vom Nachbartisch im Rücken gespürt habe.

Der Mann, der neben mir auf der Bank gesessen hat, ist gegangen. Die Samba-Gruppe packt ihre Instrumente ein. Ich stehe auf und nehme meine Tasche. Ich gehe auf die Sängerin zu, um ihr, bevor ich gehe, noch zu sagen, dass mir die Musik sehr gefallen hat. Sie lächelt und bedankt sich. Dann fragt sie mich, ob ich den Mann mit der Sonnenbrille und der Mütze kennen würde, er hätte die ganze Zeit zu mir hinübergesehen.


Ines Wertenbroch (20./21. Juli 2003)

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