Rüdiger Wulf

Schuld war nur der Bossa Nova

Es war der Sommerhit des Jahres 1963. Den ganzen Juni über lag die deutsche Version eines schon in den USA erfolgreichen Songs auf Platz 1 der deutschen Hitparade: „Schuld war nur der Bossa Nova“, gesungen von der 19-jährigen Manuela, die eigentlich Doris Wegener hieß und nun zum neuen Stern am deutschen Schlagerhimmel aufstieg. Doch da gab es ein Problem …

Obwohl der Text des Ohrwurms eher anspruchslos war, wurde er zum Stein des Anstoßes. Zumindest in Bayern. Dort durfte der Sommerhit des Jahres nämlich nicht im Rundfunk gespielt werden. Was die Verantwortlichen des Bayerischen Rundfunks am Liedtext störte, waren diese zwei Sätze:

„Als die kleine Jane gerade 18 war, führte sie der Jim in die Dancing Bar. Doch am nächsten Tag fragte die Mama: ‚Kind, warum warst du erst heute morgen da?‘“

Mit 18 war die kleine Jane noch nicht volljährig. Das kam erst zwölf Jahre später: Bis 1974 wurde man noch mit 21 volljährig. Doch das war nicht das einzige Problem, das Jane und Jim hatten.

Als die Frau Mama fragt, warum ihre Tochter „erst heute morgen da“ war, kommt sie – gewollt oder ungewollt – auf eine mögliche Straftat zu sprechen … Denn irgendwo werden die beiden ja, nachdem die Dancing Bar geschlossen hatte, den Rest der Nacht verbracht haben. Gemeinsam verbracht …

Bis 1972 gab es im Strafgesetzbuch den „Kuppeleiparagraphen“: Wer einem unverheirateten Paar – egal welchen Alters! – Unterkunft gewährte und damit der „Unzucht“ Vorschub leistete, machte sich strafbar. Für „Kuppelei“ konnte man bis zu fünf Jahre ins Zuchthaus wandern.

„Als die kleine Jane gerade 18 war“ … War sie da überhaupt schon „reif für die Liebe“? Solchen Fragen widmete sich zu jener Zeit in Nordrhein-Westfalen eine „Landesarbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und für Geschlechtserziehung“ – offiziell empfohlen als erste Adresse für Rat suchende Lehrer, Eltern und Jugendliche! Ihr Geschäftsführer Dr. Heinrich Oestereich stellte 1961 in seinem Aufklärungsheft für „junge Männer und Mädchen zwischen 16 und 20“ mit dem Titel „13 x Irrtum und Wahrheit über Geschlecht und Liebe“ fest:

„Ein 17- oder 18jähriger kann zwar nach außen erwachsen wirken. Wie steht es aber mit der menschlichen Reife? Mit der seelischen, der sittlichen? Das alles fehlt noch mehr oder weniger. Innerlich hat so mancher kaum die Kindheit überwunden.“

„Von Anfang oder Mitte 20 wird“, so Dr. Oestereich in seinem Heftchen weiter, „niemand menschlich und damit auch geschlechtlich wirklich reif sein.“ Und der daraus resultierenden Gefahr waren seiner Meinung nach – und er stand damit beileibe nicht allein! – vor allem die jungen Frauen ausgesetzt:

„Die Frau, insbesondere das junge Mädchen, ist in ‚Geschlecht und Liebe‘ der weitaus gefährdetere Teil! … Die angreifende und stürmische Geschlechtlichkeit des Mannes stellt die Frau oft auf eine harte Charakterprobe. Für sie muß daher das Gebot gelten: Bleibe fest! Wisse, daß jede Liebelei für beide Teile ein ungleiches Spiel ist. Das Mädchen setzt stets mehr ein als ihr männlicher Partner. Darum hat es auch mehr zu verlieren. Mädchen können infolgedessen niemals wachsam genug sein.“

Wie perfide es die Jims dieser Welt mit den kleinen Janes trieben, machte der bekannte Aufklärer der jungen Leserin seines Ratgeberheftchens klar, wenn er sich ganz persönlich an sie wandte: „Übrigens, ist es Dir bekannt, daß dieselben Männer, die vor der Ehe bedenkenlos mit der Unberührtheit der Mädchen umspringen, später den größten Wert darauf legen, für die eigene Ehe eine Frau ohne ‚Erfahrungen‘ zu haben? Möchtest Du zu denen gehören, die für eine Ehe nicht in Frage kommen?“

Nein, gewiss nicht. Und das galt bestimmt auch für die kleine Jane, die, wie uns der Text von „Schuld war nur der Bossa Nova“ berichtet, „nicht immer klein“ blieb und erst ihren Jim bekam und „dann ein Töchterlein“ … dem der Autor des Werkes gewiss den damals bösen Makel einer „unehelichen“ Geburt erspart haben dürfte. Also werden Jim und Jane wohl geheiratet haben, ehe das Töchterlein zur Welt kam. Doch was erwartete die kleine Jane als Mutter in der Ehe?

„Manchmal arbeitet die Mutter auch in einem Beruf“, erfuhren Jungen und Mädchen des ersten und zweiten Schuljahres 1970 aus ihrem modernen Aufklärungsheft … aber die Passage war noch nicht zu Ende: „Dann sind die Kinder oft allein und müssen gut auf sich aufpassen.“ Upps. Begeisterung klingt anders. Hässliche Wörter wie „Rabenmütter“ und „Schlüsselkinder“ kommen einem in den Sinn. Aber warum eigentlich nur die Mütter … Warum ist nur ihre Berufstätigkeit ein Manko für die Kinder? Was ist mit dem Vater? Ist er nicht ebenso verantwortlich für die Erziehung der Kinder?

Nein, ist er nicht. Die Frau ist zwar „berechtigt, erwerbstätig zu sein“, aber nur „soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“. Und zu diesen Pflichten zählen halt auch die Kinder … So will es das Bürgerliche Gesetzbuch – seit 1958. Vorher durfte der Ehemann sogar einen Job seiner Frau kündigen, ohne sie zu fragen … Erst mit dem „Gleichberechtigungsgesetz“ von 1958 hat die Ehefrau überhaupt ein Recht, berufstätig zu sein. Wenn auch mit Einschränkungen, siehe oben. Und bis 1977, als endlich das Leitbild der „Hausfrauenehe“ aus dem Familienrecht verschwand.

Ob Jane trotz Ehe und Kind berufstätig ist, hängt nicht zuletzt von Ehemann Jim ab. Verdient er nicht genug, darf – oder muss – sie möglicherweise (nur) „mitarbeiten“. Verdient er aber genug, kommt es auf seine Einstellung an: Ist er der – damals weit verbreiteten – Auffassung, dass der berufliche Erfolg des Mannes sich unter anderem darin zeigt, dass seine Frau „nicht arbeiten gehen muss“ …?

Diese Auffassung dürfte vermutlich auch der Fernsehdirektor des Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart geteilt haben, der 1966 eine beliebte TV-Ansagerin entließ mit der Begründung, sie sei – mit 36 Jahren – zu alt für den Job und solle sich als Frau eines „ordentlich verdienenden“ Ehemannes lieber mehr um ihre beiden Kinder kümmern. (Anmerkung für Jüngere, die das vielleicht schon nicht mehr wissen: Ansagerinnen kündigten früher die folgende Sendung an – und waren dabei „live“ im Bild.)

Live im Bild war ab Juli 1967 auch der seit Jahren überaus beliebte holländische Showmaster Lou van Burg nicht mehr … Seine erfolgreiche Spiel-Show „Der Goldene Schuß“ übernahm der schweizerische Newcomer Vico Torriani, nachdem das Privatleben Lou van Burgs den ZDF-Verantwortlichen sittlich und moralisch nicht mehr tragbar erschienen war: Der verheiratete Showmaster, der in „wilder Ehe“ mit seiner Managerin zusammenlebte, war offenbar dabei, auch diese zu verlassen zugunsten seiner Assistentin beim „Goldenen Schuß“, die von ihm ein Kind erwartete, aber auch schon verheiratet und Mutter war … Das war wohl zu viel für jene Moralapostel und Sittenwächter beim ZDF, die 1965 eine Ansagerin schon gefeuert hatten, weil ein Foto sie beim Tanzen im „Baby Doll“ auf einer privaten Karnevals-Pyjama-Party zeigte. (Für die Jüngeren: „Baby Doll“ war ein leichter Sommerpyjama für Mädchen, bestehend aus einem weiten blusenartigen Oberteil mit kurzen Puffärmeln und einem kurzen Pumphöschen.)

Nicht nur die Tatsache, dass sie vom selben Jahrgang – 1954 – ist, wie der Autor dieser Zeilen, macht die Erinnerungen der Journalistin Anke Kuckuck an ihre Pubertät in den 1960er Jahren so interessant. Der Text erschien 1984 im Band „CheSchahShit. Die Sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow“ aus dem legendären Verlag Elefanten Press in Berlin (West) und … es geht darin (auch) um Manuela.

„Schuld war nur der Bossa Nova“ habe sie gesungen und doch „kaum“ gewusst, „was damit gemeint war“, erinnert sich die damals acht- oder neunjährige Anke Kuckuck, die „verzweifelt“ den „deutsch-ausländischen Zungenschlag“ Manuelas übte … Gemeint ist wohl vor allem das so herrlich gerollte R der gebürtigen Berlinerin … Doch so richtig angesprochen fühlte sich die kleine Anke nicht vom Bossa Nova, sondern vom nächsten Schlager Manuelas, der noch im selben Jahr ein Hit wurde: „Ich geh noch zur Schule“.

Vermutlich sind die Verantwortlichen des Bayerischen Rundfunks bei dem Titel hellhörig geworden – aber dieses Mal ganz ohne Grund: Der Mann, der die Schülerin mit der schönen Stimme zu Hause in der Küche erwartet, entpuppt sich zwar als Manager, der sie zum großen Star machen will, ihr Rollen in Hollywood und Auftritte mit Elvis Presley verspricht … aber sie bleibt standhaft bei ihrem Refrain: „Ich geh‘ noch zur Schule, ich hab‘ keine Zeit, ich muss noch viel lernen, darum tut es mir leid …“

Anke Kuckuck erinnert sich noch an einen anderen Song, den Manuela – „diese süße Teeny-Maus mit ihrer Turmfrisur“ – damals (nach)gesungen hat, den englischen „Ya Ya Twist“ nämlich. Und dabei fällt der Journalistin eine Geschichte zu dem recht wilden, aber Anfang der 60er Jahre überaus beliebten Modetanz ein: „Als ‚anreizend‘ auf die Menschenmenge hatte ein Münchner Gericht den Twist einer neunzehnjährigen Handelsschülerin und eines achtzehnjährigen Angestellten bezeichnet. Sie hatten auf der Leopoldstraße getanzt und bekamen wegen ‚Landfriedensbruch‘ sechs Monate Jugendstrafe auf Bewährung.“ Doch das war ja nur ein erster Vorgeschmack darauf, was die 60er später noch alles an Skandalen zu bieten hatten …

„Mein erster Minirock war rot-weiß kariert“, erinnert sich Anke Kuckuck an das Kleidungsstück, das 1968, nachdem es international bereits seit drei, vier Jahren für Furore gesorgt und die Sittenwächter auf den Plan gerufen hatte, auch in ihrer Familie die Geister entzweite. Fand es ihre Tante Elli einfach nur empörend, „wie leichtfertig wir Mädchen mit unseren Beinen umgingen“, wurde das Kürzen ihrer Röcke für die 15-, 16-Jährige schließlich sogar zu einem „Stück Rebellion“ nach dem Motto „Je kürzer, desto provozierender“ und Hauptsache „shocking“. Doch die Meinungen waren geteilt – sie reichten von „Der Mini befreit uns Frauen!“ über „Der Mini ist ein Werk des Teufels!“ bis „Der Mini macht uns Frauen zu Sex-Objekten!“ Der Streit ist bis heute nicht beendet, andererseits aber auch wohl nicht mehr so relevant wie damals, Ende der 60er Jahre.

Doch der Minirock war nicht das einzige Kleidungsstück, das tragen zu dürfen von den Mädchen erst erkämpft werden musste. „Von ähnlicher symbolischer Wirkung“, heißt es in einer Untersuchung des Historikers Detlef Siegfried zum Thema „1968. Protest, Revolte, Gegenkultur“, war „die weibliche Inbesitznahme langer Hosen“ … an die sich auch die 1954 geborene Marianne Troll im Buch „Wenn du lächelst, bist du schöner!“ von Claudia Seifert erinnert:

„Lange Hosen waren für Mädchen in der Schule nicht erlaubt, mit der einzigen Ausnahme der braunen oder dunkelgrünen Lastex-Skihosen bei starkem Schneefall, die die Beine an den Knöcheln spitz zulaufen ließen und mit Stegen unter dem Fuß gehalten wurden. Darüber trugen wir den obligatorischen Faltenrock. Das ‚Hosenrecht‘ ertrotzten wir uns an unserem Mädchengymnasium – gegen die Drohung des Schulausschlusses! – erst in der neunten Klasse, also 1968.“

1968 sang Manuela von „Sulima“, die sehnsüchtig die „Karawane aus Abadan“ erwartete – natürlich in der Hoffnung, dass sie ihr die (nicht näher erläuterte) Liebe bringen möge –, und landete damit in der Jahreshitparade auf Platz 84, immerhin noch vor „Street fighting man“ von den Rolling Stones … die allerdings noch mit anderen Titeln deutlich weiter oben vertreten waren … ebenso wie die Beatles – die natürlich, wenn schon die Stones genannt werden, ebenfalls erwähnt werden müssen … aber in den Charts von 1968 ebenso wie die Stones weit abgeschlagen hinter Tabellenführer Heintje (12) mit „Mama“ und – auf Platz 2 – „Du sollst nicht weinen“ rangierten.

Während die Mama vom „süßen“ Heintje zu Tränen gerührt war, rührte sich bei ihrem 15-jährigen Töchterchen ganz etwas anderes, wenn sie vom Stones-Frontmann Mick Jagger träumte. „Die Rock- Kultur der Sechziger“, weiß Gabriele Huster vom Jahrgang 1953 in „CheSchahShit“ zu berichten, „war ‚Rettung‘ für viele Wirtschaftswunderkinder wie mich, Überlebensmöglichkeit für den besseren, den ‚subversiven‘ Teil in mir, für ein Stück Lebendigkeit, das ohne dieses Ventil auf der Strecke geblieben wäre. Erst die Siebziger zeigten uns Wege auf, den Protest gegen die Regeln der Alten bewußter zu formulieren. Bis dahin mußte Mick Jagger für mich kämpfen. Nicht so sehr mit ‚Street fighting man‘, vielmehr mit ‚Let’s spend the night together‘!“

Kurz nach dem Aufruf der Stones, die Nacht gemeinsam zu verbringen, besingt Manuela 1967 „Lord Leicester aus Manchester von der High High Society“ … der zwar gut aussieht und ledig ist, sich aber beim lang ersehnten Stelldichein – zu dem sie ihr neues Minikleid trägt! – entpuppt als „ein Playboy in den Jahren, dazu mit falschen Haaren“ … Ja, so kann’s gehen. Nicht alles, was glänzt … Und das gilt auch für die „wilden Sechziger“, die zumeist und vor allem zu Anfang wohl eher miefig als wild waren und uns vor allem eines lehren sollten: dass auch vermeintliche Selbstverständlichkeiten erst erkämpft werden mussten – und erkämpfte Freiheiten es wert sind, verteidigt zu werden. Gegen alle, die die Zeit zurückdrehen wollen, aus politischen, ideologischen oder religiösen Gründen. Und dass ich dabei nicht nur Mick Jagger, sondern manchmal auch, natürlich seltener, Manuelas herrliche Schnulzen höre, gebe ich gerne zu.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.05.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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