Wolfgang Scholmanns

Traurig aber wahr

Es riecht nach Urin und Kot. Viel ist heute nicht los, auf dem alten Spielplatz. Na ja, es ist heiß, die Mittagssonne hat das Thermometer auf fast dreißig Grad ansteigen lassen. Da werden die meisten Kinder wohl im Freibad sein. Die Drei, die hier auf der verbeulten Metallrutsche spielen, mögen acht, vielleicht auch neun Jahre alt sein. Nackte Kinderfüße im heißen Sandgemisch aus Zigarettenkippen, Hundekot und sonstigen Abfällen. Der rostige Müllbehälter quillt über. Er steckt voll mit Zigarettenschachteln und leeren Schnaps- und Rotweinflaschen. Über dem Rand hängt eine, mit Fliegen übersäte, voll geschissene Pampers. Die Holzbank nebenan hat auch schon besserer Zeiten gesehen. Der Lack ist abgewetzt und unzählige Namen, Herzen und Liebesschwüre sind in ihr Holz geritzt. Das hohe Drahtgeflecht, das den Spielplatz umgibt, weist an etlichen Stellen Beschädigungen auf. In den Maschen hängen Kondome, die Jugendliche, die spät abends und nachts hier ihr „Unwesen“ treiben, voller Trophäenstolz, daran aufgehängt haben. Schon des Öfteren war die Polizei hier, wenn sie, mit ihren frisierten Motorrollern, mal wieder die Gegend unsicher machten. Unter der Bank liegen Jointreste, unzählige andere Kippen und jede Menge Kronkorken.

Am Eingang des Spielplatzes, steht ein kleiner, schwarzer Junge. Seine Schwester, die eigentlich auf ihn aufpassen soll, ist mit einem der Jugendlichen unterwegs. Rollerfahren ist ihr wohl wichtiger, als den kleinen Bruder zu hüten. Einen Helm trägt sie nicht. Den hatte ihr Freund in der Garage vergessen. 

„Wusste ja gar nicht ob Du mitkommst oder auf den kleinen Scheißer aufpasst. Uns wird schon keiner erwischen.“, hatte er noch gesagt.

Ein süßer Kerl, der Kleine. Er trägt eine kurze, gelbe Hose, ein rotes T-Shirt und die kleinen Füße stecken in roten Sandalen. Die schwarze Haut glänzt. Seine Mutter hat ihn wohl vorsorglich mit Sonnenschutz eingecremt.

Etwas scheu blickt er zu den anderen Kindern. Sie sind größer und älter als er und er weiß nicht, ob er, wenn er zu ihnen ginge, nicht wieder beschimpft werden würde. Mohrenkopf, Schwarzfahrer, Schokocrossie und Ähnliches waren einige der Ausdrücke, mit denen manche Kinder sich über ihn lustig machten.

In etwa fünfzig Metern Entfernung stehen drei Hochhäuser. Sie sind irgendwann in den Siebzigern gebaut worden. Als sozialer Brennpunkt der Stadt wird diese Gegend heute bezeichnet. Einfach so und fertig. - Scheiß „Asipack“, hört man manch „ehrbaren Bürger“ im Vorbeigehen sagen. Wer sieht schon die Schicksale, die hinter diesen Mauern wohnen? Arbeitslosigkeit und Integrationsdefizite werden oft mit Kriminalität und Verwahrlosung verknüpft. Na ja, vielleicht gibt es ja einige darunter, aber man darf nicht alle über einen Kamm scheren. Viele, die den Kampf, gegen den „Abstieg“, aufgenommen haben, um als „ordentliches Mitglied unserer Gesellschaft“ zu gelten, sind, aufgrund ihrer Herkunft, von vornherein abgelehnt und eingestuft worden. Ein unverantwortliches Generalisieren. Menschen werden in grobe Kategorien eingeteilt, bzw. in Schubladen gesteckt. Dem Denken in Stereotypen folgen implizite Persönlichkeitstheorien, die auf Vorurteilen basieren und mehr über den der wahrnimmt und urteilt aussagen, als über denjenigen der beurteilt beziehungsweise verurteilt wird.

  1. ich so einen einstelle, schadet das meinem „guten Ruf“ und wer weiß…. hörte ich vor einiger Zeit einen dieser Übermenschen sagen. –

Verbittert und enttäuscht treten manche die Flucht in den Alkohol oder andere Drogen an. Finanziert werden diese Laster oft durch Kriminalität und Prostitution. Und die Kinder, die später vor Aufgaben stehen die zu lösen haben, werden diese ihrem Entwicklungsniveau anpassen.

Deutschland hat sein Bund-Länderprogramm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf“ auf die Verbesserung der Lebensqualität und die Erhöhung der Chancengleichheit ausgerichtet. Hoffen wir, dass dieser gutgemeinte Ansatz Früchte trägt.

Sanyu, so heißt die Schwester des kleinen Jungen, sitzt, mit ihrem Freund, in einem drei Kilometer entfernten Park, auf einer Bank. Sie rauchen einen Joint, fummeln, knutschen und vergessen die Welt um sich herum.

„Eine bis zwei Stunden wird der Kleine sich wohl alleine auf dem Spielplatz beschäftigen können.“, hatte sie zu ihrem Freund gesagt. Dem war das anscheinend egal, denn er zuckte nur mit den Schultern.

Fahim, der kleine, schwarze Junge, hat sich mittlerweile der Rutsche genähert. Die Kinder winken, er soll zu ihnen kommen. Toll, wie sie sich mit ihm beschäftigen. Zusammen rutschen sie von der glatten Metallfläche hinunter und landen, meistens auf dem Po, in dem stinkenden Sand.

Sanyu sitzt hinter ihrem Freund auf dessen Roller der, heiß frisiert, eine Geschwindigkeit von fast hundert Stundenkilometern erreicht. Ein anderer Motorroller, der vor ihnen fährt, muss natürlich mit lautem Gehupe und angeberischem Gewinke überholt werden. In einer rasant genommenen Kurve, rutscht das Vorderrad des Kleinkraftrades weg. Der Roller überschlägt sich und landet scheppernd, neben den Jugendlichen, auf dem Straßenasphalt.

Fahim sitzt weinend auf der Bank. Die anderen Kinder sind nach Hause gegangen, denn es ist mittlerweile zwanzig Uhr.

Er traut sich nicht ohne seine Schwester nach Hause zu gehen, denn als er es einmal so gemacht hatte, schimpfte die Mutter mit Sanyu und gab ihr eine Ohrfeige. Sanyu hatte alles abgestritten und gesagt, Fahim sei einfach nach Hause gelaufen, als sie sich mit einer Freundin unterhalten habe. Daraufhin bekam der Kleine auch noch eine Ohrfeige.

Der Hausmeister kommt, fragt Fahim, was er denn noch alleine hier mache. Sammy, der vor sich her jammert, sieht ihn fragend an. 

„Na dann komm mal mit.“

Der nette Hausmeister nimmt Fahim auf den Arm und bringt ihn zu seiner Mutter.

Ein paar Kilometer weiter kämpft Sanyu, die bei dem schweren Unfall neben einigen Abschürfungen auch schwere Kopfverletzungen erlitten hat, auf der Intensivstation des örtlichen Krankenhauses, um ihr Leben. Ihr Freund liegt, mit Knochenbrüchen und Schürfwunden, eine Station unter ihr.

Es klingelt. Vor der Wohnungstür einer alleinerziehenden, afrikanischen Frau, die bei der Flucht aus ihrem Heimatland ihren Mann verloren hat, stehen zwei Polizistinnen. Sekunden später hört man verzweifelte Schreie. „Nein, nein, nein! Oh Gott, nimm mir nicht auch noch meine kleine Sanyu!“

Eine der Polizistinnen nimmt die junge Frau in den Arm.

„Kommen Sie, wir bringen Sie zum Krankenhaus.“

„Mein Fahim, er kann aber nicht alleine bleiben.“

Die beiden Beamtinnen tauschen kurz Blicke aus.

„Meine Kollegin bleibt solange bei ihm.“

Als die Mutter im Krankenhaus eintrifft, ist Sanyu tot.

„Sie ist Ihren schweren Kopfverletzungen erlegen.“ teilt der Stationsarzt ihr mit.

Eine Woche später berichtet die Zeitung vom Suizid einer jungen Mutter, die, vor ein paar Tagen, ihre Tochter, bei einem schweren Verkehrsunfall, verloren hatte.

 

 

Einigen „ehrbaren Bürgern“ der Stadt gelauscht:

„Selbst Schuld, dann müssen sie mal nicht so rasen.“

„Mich interessiert dieses Milieu nicht. Ich will mit diesem Volk nichts zu tun haben.“

„Wie schrecklich, auch wenn es eine Schwarze war. War ja immerhin noch ein Kind.“

„Wären sie in ihrem Land geblieben, wäre so etwas vielleicht nicht passiert. Das haben sie jetzt davon.“

 

***

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.06.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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