Tobi Prel

Yuki und die Wolkenstadt

Mit all seiner Kraft stieß sich Yuki vom letzten Zentimeter der Antenne ab. Das Gefühl des Adrenalins, das seine Adern mit Aufregung durchfloss, erfüllte ihn mit Glück und ließ jeden Zweifel in seinen Gedanken verblassen. Es war stürmisch hier oben und die Strömungen zischten ihm nur so um die Ohren. Doch der Wind in seinen langen Haaren fühlte sich fantastisch an. Durch seinen Absprung hatte sich die Metallstange hinter Yuki verbogen und schwungvoll in Bewegung versetzt. Wie ein Pendel wippte es hinter ihm gleichmäßig hin und her. In ein paar Sekunden würde Yuki dort oben landen. An diesem unbekannten Ort. Hoch über allem was er, was jeder sonst kannte. In einer anderen Welt sogar? Von einem Augenblick auf den nächsten war die Wolkenstadt am Himmel erschienen. Nur wenige waren ihr so nah gekommen, wie Yuki. Nur wenige hatten den Mut das Wagnis auf sich zu nehmen, bis zu ihr hinauf zu steigen und sich dem schwebendem Ungetüm zu stellen. Doch Yuki war fest entschlossen. Etwas Vergleichbares hatte er in seinem Leben nie gewagt, es war die Herausforderung für ihn, etwas vollkommen Neues, auch wenn er seinen Kopf schon immer in den Wolken hatte. Zumindest wenn es nach seiner Mutter ging. An Entschlossenheit mangelte es ihm nicht. Sie brachte ihn schließlich zu diesem Punkt und hier war er also an der Schwelle zur Unwirklichkeit. Hier war sie also, seine Chance berühmt zu werden, etwas Besonderes zu schaffen, Jemand zu sein, an den man sich erinnern würde. Jemand über den man noch in der fernen Zukunft sprechen würde. Als er das "Phänomen" in den Nachrichten sah, schnappte er sich sofort seine Kamera. Er wusste was zu tun war und kletterte ohne zu zögern den höchsten Fernsehturm in der Stadt hinauf. Es war Yukis bis dato größte Mutprobe, doch sie hielt nur solange an, bis er hier oben den schwebenden Gebäuden gegenüber stand.

Dann setzte Yuki auf. Mit beiden Füßen spürte er den festen Boden unter sich. Es war ein sonderbares Gefühl, hatte er doch angenommen hier oben wäre es irgendwie anders, als dort unten. Fand er sich doch nun schleßlich in den leeren himmelhohen Häuserschluchten einer fliegenden Stadt wieder. Dennoch war es faszinierend. Kalt, still, starr, akkurat und doch schien sich alles um ihn herum sanft zu bewegen. Ein permanentes, leichtes und unruhiges Rütteln durchzog die Umgebung. Auf und ab. Es war überall, in den Strassen, in den Gebäuden, selbst der Wolkendunst schien mitzutanzen. Als würden hunderte Pendel langsam schwingen und manchmal gegeneinander stoßen. Ansonsten Nichts, weit und breit. Niemand war zu sehen und die Strassenzüge wurden in der Ferne von der mal mehr mal weniger stark hereinsickernden Wolkendecke verdeckt. War er alleine hier? Gab es hier überhaupt Bewohner? Ein einsames Gefühl.
Yuki folgte einigen der konformen Wegen, bog um einige Ecken und fand sich schließich auf einem großen Platz wieder. Bisher hatte er nur, Stahl, Glasfassaden und Mauerwerk gesehen. Nichts Grünes, keine Menschen, kein Leben. Nicht einmal Tauben oder Falken wagten sich hierher. Nun stand er vor einem Gebilde, einer Skulptur. Sie war anders als der Rest hier, aus Natursttein gehauen, kein Beton und gut fünfzig Meter hoch und fünfzig Meter breit. Ein Quadrat ... vielmehr ein steinernder Würfel und schien ein Gesicht ... zu sein, das einer ... mittelalten Frau ähnelte. Es war zwar abstrakt und wirkte irgendwie befremdlich, doch gleich auch vertraut und man konnte dessen schmerzverzerrte Gesichtszüge erkennen. Yuki zückte seine Kamera und schoß ein Foto davon. Er musste es festhalten. Der Klick des Auslösers hallte noch viele Sekunden von Häuserwand zu Häuserwand. Es war gruselig, wenn gleich auch ein beeindruckendes Erlebnis. Gab es überhaupt etwas Vergleichbares? Irgendwo sonst? Yuki sah sich immer wieder erstaunt um. Er rief, er brüllte, voller Kraft, doch Niemanden schien es zu interessieren.  
Desto weiter Yuki in die Stadt vordrung, desto mehr löste sich seine Begeisterung. War dies nicht ein Ort an dem hunderte, nein vielleicht sogar tausende leben sollten? Stattdessen war es eine trostlose, deprimierende ... Ruine. Verlassen. Nur eine Fassade, ein Scherz. Nichts hier schien echt zu sein. Es war als wäre die Wolkenstadt nur ein Spiegelbild, eine billige Kopie einer besseren Variante von dort unten. Nicht der erträumte Himmel nur eine Fata Morgana. Doch das konnte nicht sein. Igendetwas musste es hier doch geben. Erwas erstaunliches, etwas Echtes. Yuki blieb an einer Glasfassade eines kleineren Gebäudes stehen, es schien ein Geschäft zu sein, doch für was mochte Yuki nicht zu erkennen. Er drückte sich das Fenster und formte mit seinen Händen einen Schutz der das von den Seiten einstreuendes Licht fernhalten sollte. Doch drinnen konnte Yuki nichts erkennen. Nur dunkle Regale und einige Möbel. Er ließ ab und Stand auf einmal vor seiner eigenen Reflexion, die sich in der Scheibe bildete. Er wuschelte sich durch die Haare, der Sprung hatte seine Mähne durcheinander gebracht. Oft war er für sie schon gehänselt worden, "Du siehst aus wie ein Mädchen und nicht wie mein Sohn." Doch hier oben interessierte es niemanden, hier oben war Yuki frei, ein Pionier. Vielleicht war dies das Besondere an diesem Ort.
Doch mit jedem weiteren Meter breitete sich die Enttäuschung weiter in Yuki aus. Hatte er doch mehr erwartet, eine Art Sinn oder Belohnung, den diese Welt für seine Bemühungen sie zu erreichen, für seine Entdeckung mit sich brachte. War er nun schon ein paar Stunden hier, gab es dennoch nichts Aufregendes zu berichten. Letztendlich war es nur eine gewöhnliche Stadt. In den Wolken zwar, aber leer und genauso ereignislos. Yuki tröstete sich mit dem Gedanken an den Ruhm, der ihn erwarteten würde, wenn er mit seiner Kamera und den Fotos dieses fantastischen Ortes zurückkehren würde. Lange würde er nicht mehr hier bleiben und ob er noch einmal zurückkehren würde, war fraglich. So blickte Yuki ein weiteres einmal durch den Sucher der Kamera und stellte ein weiteres Häusermotiv scharf.
... was war das? Ein riesiger Schatten breitete sich aus und verdunkelte für einen kurzen Moment alles in der Umgebung. Doch erkennen konnte Yuki dessen Ursprung nicht. Ein kräftiges grelles Kreischen folgte daraufhin. Was war das? Ein Flugzeug, ein Vogel oder ... lebte womöglich ein Monster in der Wolkenstadt?
Egal was es war. Es wäre eine Sensation ein Bild dieses "Dings" zu erhaschen.
Yuki suchte nach einem guten Aussichtspunkt. Man konnte ihn nicht verfehlen, er überragte alles in seiner Umgebung, um Weiten und stand unmittelbar vor dem dichten Wolkenrand. Was sich dahinter befand blieb im Verborgenen.

Also betrat Yuki den Monolith. Es war der höchste Turm in der Stadt. Das Foyer war geschmückt mit prunkvollen goldenen Verzierungen und ausgekleidet in Marmor. Ein Foto war angebracht. Dann wollte Yuki hinauf, ein Weiteres Mal noch höher. Doch die Türen zu den Treppen blieben verschlossen. Auch die Fahrstühle regten sich nicht. Kein Strom? Enttäuscht sah sich Yuki um, dann bemerkte er ein Schild auf dem Stromgenerator stand. Dieser schien sich im Keller zu befinden. Die Türen dorthin waren offen, sie hatten nicht denselben elektrischen Sicherheitsriegel, wie die welche nach oben führten. Also begab Yuki sich hinab. Treppe für Treppe. Mit jeder Stufe wurde es dunkler und mit jedem Schritt wurde Yuki mulmiger im Inneren. Nur das gedänpfte rot braune Licht der Minimalbeleuchtung stand ihm hier zur Seite. Und es warf Schatten, auf die Kanten und Wände, so unheimlich, dass man sie mit verzerrten Kreaturen verwechseln konnte. Doch Yukis Abenteuerdrang war ungebrochen. Er zückte seine Kamera und machte Foto um Foto. Das helle Blitzlicht wieß ihm den Weg weiter hinab. Lange Gänge ließ Yuki hinter sich und quetschte sich durch so manche enge Ecke zwsichen Versorgungsrohren und Gerätschaften vorbei. Viel Zeit verging bis er ein pochendes dumpfes Grollen vernehmen konnte. Es schien aus einem der Räuem sehr viel weiter unten zu kommen. Doch allmählich klang es immer vertrauenserweckender. Das musste der Stromgenerator sein, der versuchte anzuspringen. Bald hatte Yuki ein paar Treppen weiter unten eine gewaltige Metalldoppeltür vor sich. Es war heiß hier und das Pochen ohrenbetäubend laut. Die Pforte war etwas verrostet und nur mit seiner ganzen Kraft konnte Yuki sie öffnen. Dann stand er vor dem Apparat. Es war ein großer alter metallerner Ofen. Sein Gitter war rostbraun und dessen grün gelbes Licht das im Inneren lodderte, neben Yuki das Einzige, das man in dem Kellerraum anwesend war. Das Antlitz des Geräts wirkte fast wie ein selbstzufriedenes Lächeln. Es war kochend heiß hier und Yuki musste diesen Ort in ein Bild bannen. "Was suchst du? Bleib doch ein wenig länger", dröhnte eine erschöpft wirkende tiefe Männerstimme durch Yuki's Verstand. Hatte er sich diese eingebildet. Er sah sich pansich um, doch Niemand war hier. Dann war es wieder still. Das Feuer im Kessel des Ofens fast erloschen. Das musste es sein. Yuki ging zu ihm hinüber, er sah sich die Geräteanzeige an, anscheinend hatte der Aparat nicht genug Luft. Es musste ein Ventil geöffnet werden. Yuki tastete beide Seiten des Ofens ab, bis er ein Drehverschluss gefunden hatte. Schnell bewegte er ihn in die Uhrzeigerrichtung. Zum ohrenbetäubenden Pochen gesellte sich nun ein lautes Zischen. Es war Wasserdampf, der sich bildete und blitzschnell entwich. Es fuktionierte. Yuki konnte hören wie in den Räumen über ihm die Elektronik wieder ansprang. Dann drang auch das Licht der Lampen aus dem Flur in den dunklen Kesselraum. Yuki war erleichtert. Er ging hinaus und der Ofen entflammte hinter ihm noch einmal Taghell auf. Yuki war froh diesen unheimlichen Ort hinter sich lassen zu können. Die Türen der Fahrstühle öffneten sich nun ohne Probleme. Dann fuhr Yuki soweit er konnte nach oben und kletterte den großen Solitär hinauf bis aufs offene Dach.

Von hier oben ergab der Anblick über die Wolkenstadt eine unfassbare beeindruckende Perspektive. Das Panorama beruhigte Yuki für einen Moment und erfüllte ihn mit Zufriedenheit. Der Anblick der Sonne, die sich zwischen den Wolken auf dem Boden der Häuserschluchten hervor wagte, war unvergleichbar atemberaubend. Bis zum Horizont erstreckten sich die Schluchten der Häuserreihen und vermischten sich mit den rauchigen transparenten Gasgebilden. Über dessen Rand hinaus konnte man erkennen, wie sich in weiter Ferne darunter seine Heimatstadt, das Meer und die Berglandschaft kilometer weit ausbreitete. In Yukis Rücken gingen die schimmernden Hochhäuser nahtlos in eine gigantische Wolkenwand über, die sich noch weitere tausend Meter in die Höhe ausstreckte und aus der ein unheilvolles Knistern zu vernehmen war.
Der Wind pfeifte ihm hier oben, stärker noch als auf der Antenne des Fernsehturms, um die Ohren. Es war kaum auszuhalten. Dann wieder, das Kreischen, es rannte erneut laut die Straßenschluchten entlang und dauerte mehrere Minuten lang an. Es war kaum zu ertragen. Doch konnte Yuki diesmal keinen Schatten erkennen. Aufgelöst sah er sich um und versuchte die Quelle des Geräuschs zu entdecken, doch da war nichts. Keine dunklen Abdrücke, weder auf dem Boden noch den Wänden. Am Horizont geschah allerdings etwas. Yuki zog seine Kamera hervor. Die Wolken, die sich vor einigen Momenten noch vorsichtig durch die Häuserreihen tasteten, waren verschwunden. Das Wetter klarte auf. Man konnte nun deutlich das Blau des Himmels und die sich ausbreitenden Sonnenstrahlen erkennen. Es war als lösten sie die Umgebung auf. Die Stadt schien zu verschwinden. Panik machte sich in Yuki breit, er musste weg und zwar schnell. Bevor er mit diesem unwirtlichen Ort unterging.
Hektisch rannte er die Stufen des Foyers herunter, es war knapp, bereits wenige Meter hinter ihm, zermalte die Sonne den Rand der Strasse und löste diese im Nichts des Himmels auf. Yuki lief und lief den Strassenzug entlang aus dem er gekommen war. Dann setzte das Kreischen wieder ein, es war nun deutlich häufiger und intensiver zu hören. Yuki war voller Angst und rannte, wie noch nie in seinem Leben. Die Häuserwände lings und rechts von ihm verschwammen immer mehr ineinander. Kaum konnte er noch Wegmerkmale erkennen, an denen er sich orientieren konnte. Alles sah gleich aus. Yuki erreichte den Platz an dem er zuvor abgebogen war. Doch dieser wirkte verändert, fehlte hier etwas. Yuki hatte keie Zeit um darüber nachzudenken. Er rannte affektuell einfach weiter ohne zu stoppen. Sein Ziel war klar, die Stelle bei der er in der Wolkenstadt gelandet war, zu erreichen und das so schnell wie möglich. Am Ende des nächsten Häuserblocks konnte er sie nun im Wolkennebel, der ihn mittlerweile eingeholt hatte fast schon erkennen. Dort wo er vom Fernsehturm aus in dieser sonderbaren Umgebung gelandet war. Noch einmal ertönte das laute Kreischen, es war nah und kaum zu ertragen, auch der Schatten war wieder zu sehen. Er breitete sich über Yuki aus und überholte ihn bald meterweit. In einem Fenster spiegelte sich verschwommen der Umriss eines gigantischen Brockens mit verzerrten Vertiefungen oder hatte sich Yuki dies in seiner Hektik nur eingebildet? Doch konnte er gerade keinen Gedanken daran verschwenden, was hinter ihm war. Er sah nur vorraus. Es ging um sein Leben, mehr brauchte er nicht zu wissen. Der Schatten wurde immer gigantischer und verdeckte bald alles in Yuki Blickfeld. Auch das Kreischen war intensiver und greller geworden, es schien fast aus seinem Inneren zu ertönen. Es war nicht mehr auszuhalten. Yuki keuschte, die Kamera schlug ihm ständig heftig gegen die Beine, es schmerzte sehr. Doch nur noch wenige Momente, bis zum unmittlebaren Abstieg. Er konnte die Antenne schon schemenhaft im Wolkennebel erkennen, das Blinken des roten Signallicht zeigte ihm nun eindeutig den Ausweg. Es war fast geschafft. Plötzlich war das Schreien fort und eine vertraute tiefe weibliche Stimme nahm dessen Platz ein. Nur für eine Sekunde, doch es beruhigte Yuki. "Alles ist in Ordnung. Es wird alles gut."

Von einem Augenblick auf den nächsten war die Wolkenstadt verschwunden. So flink, wie sie aufgetaucht war. Die Gebäude hatten sich vollständig aufgelöst. Waren sie zunächst nur durchsichtig gewesen und flimmerten mal heller mal blaßer vor sich in, waren sie nun komplett weg. Als wären sie nie da gewesen.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Tobi Prel).
Der Beitrag wurde von Tobi Prel auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.06.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Tobi Prel als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Das vergessene Gebot von Günther Rudolf



"Das vergessene Gebot" untersucht ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen die Ursachen der bis heute andauernden Frauendiskriminierung seit den Zeiten der Bibel und brandmarkt rücksichtslos die Frauenunterdrückung im Verlaufe der Kirchengeschichte.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Metaphern" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Tobi Prel

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Oh, nej ro I … von Tobi Prel (Gedanken)
Der kleine Stern und der Löwe von Anschi Wiegand (Zwischenmenschliches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen