Irgendwann im Leben spürt man, dass man alt wird, gebrechlich oder kraftlos. Es war 2019 im Sommer, ich war 76 Jahre alt und buchte eine Reise nach Usedom, Heringsdorf und das sollte meine letzte Urlaubsreise sein. Eigentlich wollte ich gar nicht so weit fahren, ich war aber schon mal dort, über Weihnachten. Mein Gedächtnis sagte mir, das liegt ja noch vor Rügen, ist also nicht so weit. Ja, ja das ist auch das Alter. Mein Gehirn spielte mir also diesen Streich und hätte ich bloß auf die Landkarte gesehen.
Der Kalender zeigte erst den 2. August, aber es sah schon aus wie Ende August: Dunkelgrüne Bäume, ockerfarbenes Korn und abgemähte Felder. Um 13 Uhr erreichten wir Rostock, Zeit zum Mittagessen. Mal sehen, ob es am Hafen eine Bude mit Fischbrötchen gibt. Leider wurde noch aufgebaut und so fotografierte ich dort erst mal, bis ich merkte, dass ich total erschöpft war. Mit Mühe erklomm ich die steile Straße zum Restaurant "Am Yachthafen", aß ein leckeres Fischbrötchen mit Butterfisch und trank dazu ein Bier. Es war ein heißer Tag und nach der Mahlzeit im Schatten ging es mir wieder gut, so dass ich mit einem kleine Schlenker an den Häusern vorbei wieder am Bus ankam. Weiter ging es nach Heringsdorf. Der Busfahrer brauchte von Lübbecke NRW mit Pausen bis nach Usedom 11 Stunden, eine Strapaze, und als ich noch dachte, wir haben ja am nächsten Tag frei, hatte ich falsch gedacht. So stand das zwar im Katalog, aber aus irgendwelchen Gründen wurde der freie Tag weiter geschoben auf den übernächsten Tag. Ich hatte diese Reise gebucht, weil ich unbedingt nach Swinemünde wollte und das war jetzt auf den Tag nach der anstrengenden Reise verlegt. Alle anderen Ausflüge waren für mich sowieso uninteressant, weil ich sie ja Weihnachten schon mal mitgemacht hatte. Hätte ich bloß auf meine innere Stimme gehört, die mir sagte: Ruh dich lieber aus… Entweder die Stimme war zu leise oder ich dachte, ich wäre fit genug. Es war ja nur ein Tagesausflug und der Reiseleiter machte uns das so schmackhaft, wir würden auch mit der Fähre übersetzen und wenn ich von Wasser und Fähre höre, bin ich immer dabei. Als wir in Swinemünde ankamen war ich enttäuscht, es gab eine Hauptstraße mit Karussells und Buden, Kirmes eben, so etwas habe ich auch zu Hause, dafür muss ich nicht nach Polen fahren. So blieb ich in der Nähe unserer Bushaltestelle und fotografierte typisch polnische Dinge und Häuser. Es war ein sehr heißer Tag und als ich mir ein Eis kaufen wollte, sagten sie mir: „Wir nehmen nur Zloty.“ So suchte ich den nahe liegenden Chopinpark auf, um mich ein wenig von der brüllenden Hitze zu erholen. Dort gab es was, was bei uns in Deutschland schon längst verloren gegangen war, nämlich eine Schar Spatzen, die tobten um einen Springbrunnen herum.
Im Jahr 2018 dachte ich, ich sei ein Baumstamm, denn 2-mal bin ich umgefallen wie ein gefällter Baum, ohne Vorwarnung, einmal auf die rechte Seite und einmal nach links und zweimal konnte ich mich am Treppengeländer halten. Zum Glück war mir nichts Schlimmes passiert außer einem blauen Fleck am Oberschenkel. Vielleicht war ich zu übermütig als ich erzählte: „Jetzt, bin ich zur rechten Seite, dann zur linken und nach hinten an der Treppe gefallen, jetzt fehlt nur noch nach vorne. Ich mache ja jeden Morgen Gymnastik, das hat mir wohl nur den blauen Fleck beschert und keinen Oberschenkel-Halsbruch. Sonst hört mir doch auch niemand richtig zu, diesmal wurde ich für meinen Hochmut bestraft.
Als wir uns in Swinemünde wieder versammelten für die nächste Etappe, wurden wir auf die Fähre gebracht. Nur 10 Minuten dauerte die Überfahrt, da hätten wir ja auch schwimmen können. Der Reiseleiter erzählte uns von einem Hügel, der über eine Treppe zu erreichen wäre, von wo wir einen tollen Ausblick auf das Swine-Delta hätten. Von dem vielen Rumlaufen in der Hitze waren meine Füße schon müde, es waren ja nur die Füße, dachte ich und schloss mich den anderen an. 60 Stufen waren es und ich ließ mir Zeit. Oben angekommen setzte ich mich erst mal auf die Bank, so erschöpft war ich. Mir graute vor dem Runtersteigen vom Berg und als ich mir den traumhaften Blick von dem Delta (wie der Reiseführer sagte) anschauen wollte, musste ich erst mal nach dem Wasser suchen, denn die Bäume standen mir im Weg, es war alles zugewachsen, Polen eben. Enttäuschend war das für mich, nicht mal ein Foto wert.
Genauso schlimm benahmen sich die Mücken, sie flogen zu Scharen auf die bloße Haut von Vanessa und stachen zu, man konnte sie dabei beobachten. Als es dann endlich zurück zur Fähre ging, überraschte uns ein Wolkenbruch. Wir mussten schnell ins Schiff. „Nur nicht ausrutschen“, dachte ich, als wir auf den Metallsteg am Schiff traten. Ich stolperte über eine kleine Schwelle und fiel wieder wie ein Baumstamm, diesmal nach vorne auf das Gesicht. Schnell wurde ich aufgehoben, sie fassten unter meine Arme, die elegante Dame vom Frühstückstisch und der Reiseleiter. Schlimm fand ich, dass die beiden pitschnass wurden. Sie brachten mich in eine kleine Bude in der ein Pole stand und uns Schutz gewährte. Aus meiner Nase floss das Blut in Strömen. Der Pole sagte, ich müsse den Kopf hoch strecken, ich tat als verstünde ich kein polnisch, er sprach allerdings deutsch denn ich weiß es besser, die Nase muss nach unten. Seltsamerweise spürte ich weder den Starkregen, noch die Schmerzen.
Als wir wieder deutschen Boden betraten, musste ich noch mit dem Reisebus bis nach Heringsdorf fahren. Da es ja immer noch regnete und mit Rücksicht auf mich fuhren wir durch, ohne noch einen Abstecher zu machen. Am Hotel warteten wir dann 45 Minuten auf den Krankenwagen und zwei meiner Tischnachbarn holten aus meinem Koffer ein paar Sachen, falls ich im Krankenhaus bleiben musste. Schade, dass ich mich nicht am ersten Tag von den zwei netten jungen Italienern fotografieren ließ, da sah ich noch gut aus. Jetzt im Spiegel blickte mich ein geschundenes Gesicht an, die Nasenspitze rot wie bei einem Clown und überall Hämatome. Ich fragte immer wieder, ob ich jetzt eine Himmelfahrtsnase hätte, weil es sich so anfühlte, aber alle verneinten das. Die Schönheit kommt wieder, sagte ich zu denen, die mich bedauerten.
Jetzt ging es aber erst mit Tatütata ins Krankenhaus nach Wollgast. Meine Hand schmerzte, aber das war nicht so schlimm, sie legten mir erst mal ein Kabel und vielleicht war da ja Schmerzmittel drin, obwohl ich sagte, ich brauche keins (ich nehme nie Schmerztabletten). Auf der Fahrt ins Krankenhaus konnte ich mir die Landschaft ansehen, wenigstens eine willkommenen Ablenkung. Übrigens habe ich die beiden Sanitäterinnen gut unterhalten, denn wenn es mich schlecht geht fallen mir die lustigsten Sachen ein, das nennt man wohl Galgenhumor. Den Ort Heringsdorf konnte ich dann wenigstens vom Krankenwagen aus sehen, aber ich war nicht in der Lage, das zu genießen. Nur die Stadtmauer von Wollgast blieb mir im Gedächtnis. Es war fast alles wie bei der Kriminalpolizei, sie nehmen alles was ich sage wörtlich, aber hier hätten sie ja mal nachhaken müssen, hier war ich schließlich kein Zeuge, sondern lädiert.
Wie immer musste ich dem Arzt sagen, was los ist, doch als ich anmerkte, dass mein kleiner Finger wie ein nasser Waschlappen herunterhing, konnte er damit nichts anfangen. Noch einmal wiederholte ich meine Ansage, bis sie den kleinen Finger röntgen wollten. Nun weiß ich als Laie, dass der Finger nicht am Fingergelenk aufhört, wenn er so herunterhängt, kann die Ursache ja auch woanders liegen. Meine Bitte, wenigstens den Finger an der Hand zu befestigen wurde mir abgeschlagen. Hätten sie es man getan, denn so lief ich die restlichen 5 Tage mit einer gebrochenen Hand herum, die ganz schön wehtat.
Am ersten Tag nach dem Unfall konnte ich mich abends nicht mal ausziehen, nur das blutige T-Shirt, das ich nach Männerart über den Kopf bekam. Als ich an den Frühstückstisch kam und fragte, ob ich mich woanders hinsetzen sollte, wegen meinem zermatschten Gesicht, sagten alle: Das brauche Sie nicht, es macht uns nichts aus. Was für nette Leute!!!
Der dritte Urlaubstag begann und da ich ja Ferien hatte, wollte ich auch wenigsten ein bisschen davon merken. Mit den Füßen im Sand laufen oder im Wasser, hatte sich auch erledigt, genauso wie die Besichtigung von Heringsdorf. Damals Weihnachten und weil vom Ort wenig zu sehen war, es ging nämlich den Berg hoch, hatte ich es versäumt und jetzt ging es erst recht nicht, auch die Knie waren lädiert, aber laufen konnte ich ein bisschen. Nach Ahlbeck wollte ich eigentlich auch zu Fuß, aber auch das hatte sich erledigt. So machte ich einen 5 Tage-plan: Jeden Tag auf die Seebrücke, sie war nur 5 Minuten vom Hotel entfernt und mal Eis essen oder Kuchen und fotografieren so gut es ging mit der geschwollenen rechten Hand. Aber erst musste ich mal sehen, ob sie mich überhaupt ins Lokal ließen oder bedienten. Sogar in Ostdeutschland gibt es manchmal nette Leute, das habe ich schon ganz anders erlebt. Nirgends bekam ich schlimme Worte zu hören, oder wurde ignoriert. Ich wollte nie mehr in den Osten wegen der Unfreundlichkeit und Missachtung.
Als ich einmal wieder zu meiner Stammbank auf der Brücke ging, saßen an einem Tisch Vater und Sohn und sahen mich interessiert an, dachte ich. „Das war ein Boxkampf“, sagte ich zu dem Vater und zu dem Kind: „Ich bin gefallen.“ Nachdem ich mir in der nahen Apotheke eine Salbe für das Gesicht geholt hatte, wurde es täglich besser. Jeden Tag machte ich mich auf zu meinem Gang auf die Brücke. Ein Trost für mich war, dass in der Ostsee Blaualgen ihr Unwesen trieben, so war es nicht so hart für mich, auf das Füße baden zu verzichten.
Immer wenn ich auf die Brücke kam spielte ein Akkordeonmann neben meiner Bank und wenn es auch nur 4 Lieder waren, die er konnte, machte es mir noch bessere Laune als ich sowie so hatte. Jeden Tag konnte ich meine kleine Runde etwas erweitern, so sah ich den Zirkus, der kein richtiger Zirkus war, sondern ein Theater, das gibt es auch bei uns zu Hause. In einen Zirkus wäre ich gerne gegangen. Noch etwas Besonderes gab es am Strand, ein Freilichtkino mit der Leinwand im Wasser, von den Wellen umspült. Kino habe ich auch zu Hause und in den Filmpausen wurden grässliche Fotos von Usedom gezeigt, sie waren total überfärbt. Ich habe ganz andere Sichtweisen als die meisten Leute. Ich möchte typische, ursprüngliche Landschaften und Städte sehen und nicht Wiederholungen von allem, was es zu Hause auch gibt.
Im Hotel wurde mir immer mal wieder geholfen, freiwillig, wenn ich darum bat oder wenn sie sahen, dass ich das alleine nicht hinbekam. Kurz vor der Rückfahrt nach Hause kam eine Frau aus unserem Bus zu mir und bot mir den Koffertransport zum Bus an. Ich hatte noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Von jeder Reise bringe ich mir immer etwas mit. Diesmal hatte ich keine Lust was zu kaufen, aber mitgebracht hatte ich doch etwas, nämlich den Bericht vom Krankenhaus in Wollgast in dem stand: bei Auftreten von SHT Zeichen unverzüglich Wiedervorstellung in einer Klinik. Erst nach 6 Tagen wieder vom Urlaub zurück, stellten sie im Krankenhaus zu Hause fest, dass meine Hand gebrochen war. Das war ein sehr nachhaltiges Reiseandenken.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.06.2020.
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