Was wäre, wenn …
Geschichten zur Geschichte
Der Morgen soll neblig und kalt gewesen sein, wie die Nacht vorher. Von Wald zu Wald zog sich ihre Schildreihe am Hang entlang knapp unterhalb des Hügelkammes. Da standen in der ersten Reihe zweieinhalbtausend Huscarle im Kettenhemd, die Streitaxt in den Händen, gemischt mit Schild und Speer tragenden Bauern. Viel mehr waren sie gewesen, als sie schon einmal hier im Süden Englands warteten auf Wilhelm, den Herzog der Normandie. Er glaubte, Anspruch auf den Thron zu haben. Dabei hatten die angelsächsischen Adligen den König Harald II. doch schon gewählt aus ihrer Mitte. Aber Wilhelm meinte, Harald habe ihm schon lange den Treueid geschworen, als er bei ihm in der Normandie die Verwaltung seines Herzogtums studierte. Nun käme er als Lehnsherr seines Gefolgsmannes, die Krone sich zu holen, die ihm zustände nach den Regeln seiner Zeit. Er verbarg seine Absicht nicht, baute offen eine Flotte, zog seine Mannen zusammen auch aus der Bretagne und dem fernen Flandern. Harald besetzte die Küste, ihn zu erwarten. Doch Wilhelm nahm sich Zeit.
Inzwischen fiel auch dem Norwegerkönig ein, Rechte auf Englands Thron zu haben. Er landete mit einem Heer nördlich von York und schlug die örtlichen Milizen. Harald marschierte in Eilmärschen nach Norden, schlug die Norweger, wobei ihr König fiel, und eilte zurück. Denn Wilhelm war gelandet. Harald schickte Boten ins Land, doch nur unerfahrene Bauern konnte er noch rekrutieren, die mit Schild und Speer seine gepanzerten Fußsoldaten verstärken konnten. So kamen noch fünftausend Männer der Fyrd hinzu, der Miliz des damaligen Englands. Fünfhundert dänische Huscarle ersetzten gegen Sold die tausend Gefallenen der Schlacht von Stanford Bridge, die König Harald Hardrade von Norwegen das Leben kostete. Nun standen sie Wilhelm gegenüber, Huscarle und Fyrd oben am flachen Hang, die Normannen in der Senke mit Reitern, Fußknechten und Bogenschützen. Für die Angelsachsen fanden Märsche, Schlacht und wieder Märsche ihr Ziel an diesem 13. Oktober 1066 bei Hastings. Kaum angekommen, besetzten sie noch in der Nacht den Seniac-Hill. Am Morgen des nächsten Tages eröffneten Wilhelms Bogenschützen die Schlacht.
Doch ihre Pfeile blieben in den Langschilden stecken oder flogen vorbei. Wilhelm setzte seine Fußsoldaten in Marsch, doch bergauf zu stürmen kostete den Gepanzerten Kraft und die Schildreihe fing ihren Anprall ab. Nun galoppierten die Reiter den Hügel hinauf und mussten ebenfalls umkehren. Ein Gerücht ging um in der Normannen Reihen, Wilhelm sei gefallen. Ihr linker Flügel begann langsam zu weichen. Erste Angelsachsen verließen den Schildwall und jagten den Flüchtenden nach. Da hob Wilhelm seinen Helm, man sah ihn, die Reihen fingen sich und machten die vorwitzigen Angelsachsen nieder. Wilhelm ritt zum Angriff, die Normannen berannten den Schildwall – und fluteten wieder zurück.
Schlachten in diesen Zeiten dauerten zwei Stunden, auch mal einen Vormittag – dann waren sie entschieden. Die vom Marsch entkräfteten Huscarle standen eisern, ein Angriff wäre Selbstmord gewesen. Doch die unerfahrenen Bauern des Fyrd glaubten bei jedem Rückzug der Normannen, der Sieg sei nah und jagten ihnen nach. Doch die Reiter kehrten um und ritten sie nieder. Wilhelm sah – Lücken entstanden im Schildwall. Was zufällig geschah, beschloss er zu nutzen. Er instruierte seine Reiter, der nächste Angriff solle eine Finte sein. Lockt sie heraus, die Bauern mit ihren Speeren, kehrt um und macht sie nieder. Die List gelang. Am späten Nachmittag zerbrach der Schildwall. Die Normannen, nun in der Überzahl, kreisten die einzeln kämpfenden Gruppen der Angelsachsen ein und erschlugen sie im Kampf Mann gegen Mann. König Harald verlor die Übersicht, ein Pfeil traf ihn am Auge, ein normannischer Reiter schlug ihn mit dem Schwert vom Pferd, im Getümmel endete sein Leben. Die Bauern flohen, mit dem Tod des Königs von ihrem Eid entbunden, die Huscarle wehrten sich verzweifelt – in beginnender Dunkelheit war die Schlacht für die Angelsachsen verloren.
Zu Weihnachten ließ sich Wilhelm in der Westminster Abtei von London zum König von England krönen. Er bestrafte die heimischen Adligen hart, die den Thronräuber Harald zum König gewählt hatten – denn so sah er sie. Die meisten verloren Land und Titel, normannische Feudalherren versammelte er um seinen Thron und in den nächsten Jahrhunderten sprach der englische Hof französisch. Er wusste sich fremd und abgelehnt von den Menschen im Land, baute Zwingburgen, dieses Völkergemisch aus Kelten, Angeln, Sachsen und Wikingern zu beherrschen. Die normannische Verwaltung, die Harald schon bei ihm studiert und seinem Volke zum Nutzen einzuführen gesinnt war, brachte Wilhelm, der Eroberer, jetzt zur Vollendung – gegen sein nun eigenes Volk. Man sieht es heute noch an seinen Burgen. Waren diese in Deutschland zum Schutz gebaut gegen die räuberischen Einfälle der Magyaren, zwar auch auf Befehl des Königs, doch von seinem Dienstadel, mit den Baustoffen, Handwerkern und Bauern der Umgebung errichtet mit Platz für Leute und Vieh, dienten Wilhelms Burgen nur seinen Rittern und Fußknechten. Hoch und steil ragten sie auf Bergen und in Ebenen, furchteinflößend – und das sollten sie auch. Doch Wilhelms Herrschaft riss die Angelsachsen auch aus ihrer Kultur, brachte viele nordfranzösische Gepflogenheiten und Worte auf die Insel und dezimierte ihre Sprache. So verlor das Englisch seine Fälle, schuf dafür Idioms, der Schrecken aller fremden Übersetzer, nur weniges, wie das altgermanische Wort The blieb als Rudiment erhalten. Spät erfolgte die Vermischung zwischen Eroberern und Einheimischen und erst ein halbes Jahrtausend danach lösten sich England und Frankreich mit dem Hundertjährigen Krieg als eigene Staaten voneinander.
Doch Wilhelm, der Eroberer, schloss England auch an Europa an. War diese Insel, welche die Nordsee vom Atlantik trennt, vorher stets der Zankapfel aus Völkerwanderungszeiten geblieben, wo norwegische Wikinger mit Dänen um Land und Menschen konkurrierten, erhielt es nun eine eigene Dynastie und feste kulturelle Bindung zum Kontinent. Er konnte das nicht ahnen. Wie Harald nicht ahnen konnte, was er bewirkt, hätte er die Schlacht gewonnen. Denn sie hing am seidenen Faden. Ein Ruhetag vor Beginn, mehr Kraft für die Huscarle zum Mittag, mehr Kampferfahrung oder Disziplin für die Bauern des Fyrd – was wäre aus England geworden bei seinem Sieg?
Klaus Buschendorf 01.04.2020
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.06.2020.
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