Monika Litschko

Die Kamera - Das vierte Medaillon Teil 2

Melanie kam aus dem Bad. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah ziemlich blass aus. Die Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Sie trug eine blaue Jeans, ein weißes Shirt und bequeme Sandalen. Mir fiel auf, dass es in ihrem Zimmer keinen Spiegel gab. Noch nicht einmal den berüchtigten Handspiegel, den man in ihrem Alter stehts, griffbereit liegen haben musste. Sie ging an mir vorbei, öffnete das Fenster und verließ den Raum. Ich folgte ihr und schaltete die Kamera erneut ein. Ihre Schritte waren zögerlich, als sie in die Nähe des Spiegels kam. Aber sie nahm allen Mut zusammen und rannte an ihm vorbei, nach unten. Nur ich schien zu hören, dass hinter dem Laken eine Stimme nach ihr rief.

Der Tisch war schon gedeckt, als sie die Küche betrat. Sie setzte sich und griff nach einem Toast.
Ben sah sie besorgt an und schenkte ihr Kaffee ein. „Melli, was ist heute Nacht passiert? Warum bist du aufgestanden und zu dem Spiegel gegangen?“
„Ich wurde wach, weil ich dachte, jemand hätte nach mir gerufen. Du musst mir glauben, aufstehen wollte ich nicht. Aber diese Stimme rief immer wieder meinen Namen. Als ich mein Zimmer verließ, hatte ich das Gefühl, gehen zu müssen, obwohl ich nicht wollte. Daddy, das Laken bewegte sich und ich zog es einfach herunter. Und dann war da diese Frau, die in einem Sarg lag, aus dem sie herauskam. Einfach so. Ich kapiere nicht, warum sich diese Spiegel nicht abnehmen lassen.“
Iris Floyd, die am Herd stand und Eier briet, schüttelte den Kopf. „Melanie, ich hoffe, du merkst selbst, wie absurd das klingt. In einem Spiegel siehst du nur dein eigenes Spiegelbild. Nimmst du vielleicht Drogen? Man munkelt, dass der ein oder andere an eurer Schule damit dealt. Und was die Spiegel betrifft, kann ich mir nur vorstellen, dass sie bei der letzten Renovierung zu früh aufgehangen wurden. Die Farbe war noch nicht trocken, oder so. Außerdem sind sie im Allgemeinen sehr schwer.“
Melanie ballte die Hände und schaute sie zornig an. „Nein Iris, ich nehme keine Drogen. Ich kann doch nur erzählen, was passiert ist. Mehr geht nicht.“

Ich kombinierte. Melanie nannte sie Iris, also war sie nicht ihre leibliche Mutter. Konnte das den Hass in Iris Augen erklären, den ich gesehen hatte?

Ben schaute Iris vorwurfsvoll an. „Iris, so etwas solltest du nicht sagen. Melli nimmt keine Drogen, da vertraue ich ihr. Ich sollte mit ihr noch einmal zu dem Psychologen fahren. Irgendeiner muss ihr doch helfen können.“
„Dad, nein. Der Mann war sehr nett, aber er hat nicht verstanden, was ich ihm gesagt habe. Er sagte sowas wie, in der Pubertät kann man sich Dinge einbilden. Oder, Sie haben eine überbordende Fantasie. Ist etwas schlimmes passiert, das Sie nicht verarbeiten können?“
„Nun ja, Melli, du hast deine Mutter verloren, das ist schlimm genug.“
„Dad, ja, es ist schlimm. Aber da war ich drei Jahre alt und erinnere mich kaum an sie.“
Iris, stellte ihr einen Teller mit Eiern vor die Nase und schaute sie eindringlich an. „Ich erziehe dich seit deinem sechsten Lebensjahr, ich hoffe, das vergisst du nicht. Ich meine, ich bin doch immer für dich da. Und du weißt, wenn dich etwas bedrückt, kannst du es mir erzählen.“

Melanie schob die Frühstückseier zurück und erhob sich. „Ich weiß, aber warum hast du schon zweimal nachts an meinem Bett gestanden und von einem Medaillon geredet?“
Aus Iris Gesicht wich alle Farbe und sie rang um Fassung. „Ich stand an deinem Bett, das stimmt. Aber nur, um nach dir zu sehen. Du warst unruhig und hast im Schlaf geredet. Aber ich habe es nicht verstanden. Und warum sollte ich von einem Medaillon sprechen? Wenn du eins möchtest, suche dir ein schönes aus. Ich habe so einige in meinem Schmuckkästchen.“
„Ich will kein Medaillon, das fehlte mir noch. Die Dinger stehen den älteren Damen und an mir sähe es echt scheiße aus. Sechzehn, weißt du. Nicht knapp vor fünfzig. Ich gehe jetzt zur Schule.“
Ben fand es nicht gut, dass sie zur Schule ging. „Du hast heute Nacht auf dem Flur geschlafen, was um Gottes Willen, willst du in der Schule?“
„Lernen Dad. Das macht man in einer Schule.“

Melanie griff nach ihrer Tasche und ließ einen verdutzten Vater und eine grübelnde Iris zurück. Na ja, und mich. Ich wollte Melanie nicht bis zur Schule folgen, sondern Ben und Iris zuhören.

„Iris, du solltest Melli nicht immer so in die Ecke treiben. Wenn sie mit dir reden möchte, dann wird sie das schon machen. Und Drogen nimmt sie auf keinen Fall. Hast du dir die Kiffer und Schnüffler schon mal angeschaut?“
Iris griff nach ihrer Kaffeetasse und hielt sich daran fest. Das Gespräch schien ihr unangenehm zu sein. „Ich will doch nur das Beste für sie. War doch auch nur eine Frage.“
Ben griff nach ihrer Hand und drückte sie. „Ich weiß. Wenn ich von der Arbeit komme, werde ich John und David fragen, ob sie mir helfen, die Spiegel abzuhängen. So kann es nicht weitergehen.“
Iris Blick verdunkelte sich kurz, als er dieses sagte, aber sie stimmte ihm zu.

Als Ben das Haus verlassen hatte, wartete sie noch ein paar Minuten und eilte ins Wohnzimmer. Hastig riss sie das Laken von dem Spiegel. Das Gleiche tat sie bei den beiden Spiegeln, die oben hingen. Sowie in den zwei Bädern. Aus einer Kammer holte Iris zwei Kerzen, die sie gut versteckt hatte und stellte sie auf den Boden. Mit bebenden Händen zündete Iris die Dochte und kniete sich auf den Teppich. Ihr Kopf sackte auf die Brust, als sie anfing zu flüstern. Eigentlich waren es nur Laute die sie ausstieß, aber mit mächtiger Wirkung. Unwetter gingen durch die Spiegel und es knirschte verdächtig laut. Gestalten, mit aufgerissenen Mündern, bewegten sich bizarr in diesem Szenario, das an einem Weltuntergang gleichkam. Das Ganze dauerte nur ein paar Minuten, dann war es vorbei. Iris lächelte zufrieden und packte die Kerzen wieder in ihr Versteck. Bevor sie die Laken über die Spiegel legte, ging sie in Melanies Zimmer und sah sich um. „Wo hast du das Medaillon versteckt, du kleines Miststück? Ich werde es finden, denn die Zeit wird langsam knapp. Da ich hier schon alles durchsucht habe, werde ich dich im Auge behalten.“

Also war Melanie doch im Besitz eines Medaillons. Warum gab sie es dann nicht zu? Und warum war es für Iris so wichtig? Und welches letzte Kapitel sollte ich hier festhalten? Ich beschloss, die Pinkerts, die Millers und die Edwards noch heute aufzusuchen. Vielleicht würde ich bei ihnen mehr erfahren. Fest stand aber, dass ich danach Senoknanok und Marius um Hilfe bitten musste.

Iris stand wieder in der Küche und tat so, als wäre nichts geschehen. Sie setzte noch einen Kaffee auf und holte die Zeitung aus dem Briefkasten. Als sie sich setzte, um diese zu lesen, kippte ihr Oberkörper nach vorne und sie schlug mit dem Kopf auf den Küchentisch.

©Monika Litschko


 

 

 

 

 


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.07.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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