Bernhard Pappe

Ein zielloser Spaziergang


Ein zielloser Spaziergang und noch dazu in der unmittelbaren Umgebung. Ist so etwas überhaupt möglich? Natürlich kann man so einen Spaziergang unternehmen. Es ist nicht mein Ziel, ihn in diesem oder jenem Tempo zu absolvieren. Es ist nicht mein Ziel, eine vorherbestimmte Route zu laufen. Es liegt an mir, ob ich einen kürzeren oder längeren Weg wähle und wann ich wo abbiege. Das Beste ist, ihr folgt mir einfach…

Aus der Haustür getreten, gilt es eine Richtung einzuschlagen. Links, rechts, gerade aus, zurück ist keine Option. Ich entscheide mich für rechts. Ein böiger Wind begleitet mich. In der Höhe mischt er regengraue Wolken auf. Am Boden hingegen ist er für mich sanft und warm. Der Wind scheint sich an mich zu schmiegen oder ich an ihn. Solch ein Wetter mag ich. Ein Blick zum Himmel wirft die Frage auf, ob die Wolken Regenabsichten hegen oder nur eine Drohkulisse aufbauen. Mein Smartphone könnte mir eine Regenwahrscheinlichkeit ausweisen. Der Griff in die Hosentasche bleibt aus. Wahrscheinlichkeiten treten ein oder eben nicht. Mein Weg führt mich an der Baustelle für ein neues Haus vorbei. Der Baukran, an dessen Ausleger eine Säge baumelt, dreht sich von ganz allein im Wind. Die Säge in luftiger Höhe schlingert bedenklich. Leichtsinn? Mein Schritt wird automatisch schneller.

Ich konstatiere, es sind sehr wenige Menschen unterwegs. Das mag am Wetter liegen oder an der Tageszeit. Für einen Spaziergang am Nachmittag bin ich recht früh dran. In den heutigen Zeiten ist es kein Schaden, wenn man kaum jemand auf den Wegen antrifft. Zwei Kreuzungen später stehe ich vor dem schlanken Glockenturm mit seinem scheinbar winzigen Kreuz auf der Spitze. Der Wind jagt zumeist Dunkles über ihn hinweg, Lichtblicke sind selten. Hinter dem Turm biege ich das erste Mal vom Weg ab. In dieser Straße war ich schon viele Monate nicht mehr. Veränderungen und bekannte Blickwinkel begegnen mir. Ich erfahre Neues. Hier ist plötzlich ein Imker. Dort hat eine Traditionskneipe nach vielen Betriebsjahren geschlossen. Rechts neben der Kneipe führt ein schmaler Pfad ins Grüne. Ich erwähle ihn spontan, weil ich mich nicht erinnern kann, diesem Pfad jemals gefolgt zu sein. Ein zielloser Spaziergang kennt keine Umwege.

Der Pfad wird schnell zum breiteren Weg und ist auf den ersten Metern dicht mit Bäumen umsäumt, in deren Wipfeln der Wind kräftig arbeitet. Auf einer kleinen lichten Wiese begegne ich einem alten aufrechten Baum, der mitten auf seiner Rinde ein weißes O wie einen Orden trägt. Er wirkt ein wenig stolz. Brust raus, rufe ich ihm in Gedanken zu. Ich gelange wieder in bekannteres Terrain. Windböen rütteln nun auch an mir, weil die Landschaft offener ist. Trockene Zweige und lose Blätter erbrechen sich auf die Straße, die ich gerade überquere. Ich nehme einen kleinen Seitenweg. Noch vor Wochen standen hier unzählige Rhododendronbüsche in voller Blüte. Mein Weg ist jetzt mit sattem Grün und Schummerlicht angefüllt. Das leise Murmeln des Baches neben mir übertönt der Wind über mir.

Es kommt der Teich in Sicht, durch den Bach hindurchfließt. Groß ist der Teich nicht und auch nicht sehr tief, aber dafür voller Historie. Ich grüße zur Ente hinüber, die vor ihrem Haus umherschwimmt und bewundere die Seeroseninsel, die so mühelos auf dem Teich zu treiben scheint. Ein alter Fisch gleitet kurz unter der Oberfläche vorüber. Ist das sein Gruß für mich? Der Gedanke gefällt mir im Augenblick seiner Entstehung.

Meinem steinernen alten Freund auf seinem Sockel statte ich immer einen Besuch ab, wenn ich an dem Teich verweile. Was mag er als alter Industriebaron von den modernen Zeiten halten? Was denkt sich ein Denkmal? Er ist immer da, wenn ich komme und manchmal brauche ich ihn einfach als Ankerplatz. In Stein gehauene Stetigkeit umgeben von Veränderung. Ich verabschiede mich von ihm und biege auf den Parkweg ein, der mich zielgerichtet nach Hause trägt.

Mein Schritt beschleunigt sich. Die Regenwahrscheinlichkeit manifestiert sich in einer feuchten Wirklichkeit. Nieselregen und Windböen vereinigen sich zu einer unheilvollen Allianz. Es ist nicht mehr weit bis zur Haustür. Urplötzlich zeigen die Wolken Risse und das Wetter fährt aus dem Nichts drückende Schwüle auf.

Ich stehe mit einer Tasse Kaffee am Fenster. Auf der anderen Seite des Glases führen Wind, Wolken, Regen und Sonne immer noch ihr Theaterstück mit wechselnder Besetzung in der Hauptrolle auf. In der Erinnerung ist er nun abgespeichert, der ziellose Spaziergang.

 

© BPa / 07-2020

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.07.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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